Alida Bremer
Die »europäischen Werte« aus Südosteuropa betrachtet
Wenn wir über die »europäischen Werte« sprechen, glauben wir im Westen Europas – ich erlaube mir dieses »wir«, da ich seit 1986 im Westen Europas lebe und seit 1990 in deutscher Sprache schreibe und veröffentliche – , es handele sich um Selbstverständlichkeiten, die jedem einleuchten müssten: Menschenrechte, Minderheitenrechte, Freiheit des Anderen, Redefreiheit, Diversität, eine pluralistische Gesellschaft, die in der Demokratie friedlich und respektvoll immer aufs Neue diskutiert, definiert, verhandelt wird. Diese Werte empfinden wir als eine große Errungenschaft Europas, und meinen, wenn wir von Europa sprechen, häufig nur den Westen Europas, so wie er sich nach 1945 etabliert und zu einer ökonomischen und politischen Gemeinschaft bzw. Union vereinigt hat. Dass bei den national homogeneren Mitgliedern der Union wenig reflektiert wird, dass eine nationale Homogenität keine Selbstverständlichkeit sein muss, stellt allerdings schon den ersten blinden Fleck dieses ansonsten eher schmeichelhaften Selbstbilds dar.
Aber wenn wir kurz bei dem Begriff der »Übersetzbarkeit der Kulturen« von Wolf Lepenies verweilen (Drinka Gojković, seine Übersetzerin ins Serbische, erwähnte Lepenies und diesen Begriff in ihrem Redebeitrag), werden wir herausfinden, dass diese Selbstverständlichkeiten kulturell kodiert sind und deshalb gar nicht so selbstverständlich funktionieren, wenn sie ohne die notwendige »Übersetzung« in Gesellschaften eingeführt werden, die eine andere Entwicklung durchlaufen haben, als jene im Westen Europas.
Die Republik Kroatien ist seit einem Jahr Vollmitglied der Europäischen Union. Das bedeutet, dass neben der Tatsache, dass viele Kroaten sich als »immer schon dem Westen Europas zugehörig« gefühlt haben, auch eine faktische Umsetzung von Entwicklungszielen notwendig ist, die u. a. aus den oben genannten europäischen Werten hervorgehen. Dazu zählen auch die Minderheitenrechte.
Ohne nun hier auf die Regelung der Minderheitenrechte in den Ländern des sowjetischen Modells, zu denen Jugoslawien in diesen Fragen eindeutig gehörte, eingehen zu können, möchte ich auf die spezifische Problematik der Umsetzung des EU-Modells von den Minderheitenrechten in Kroatien verweisen.
In der vom Krieg zerstörten und verwüsteten Stadt Vukovar lebt immer noch eine serbische »Minderheit«. Ich finde diesen Begriff problematisch und gar nicht so selbstverständlich, auch wenn er heute, im Kontext der »europäischen Werte«, positiv besetzt ist und in demokratischen Prinzipien des Schutzes von Minderheiten begründet.
Dahinter steht die Idee des Nationalstaates, der nach dem Prinzip der »Reinheit« die Idee »ein Volk – ein Nationalstaat« als naturgegeben imaginiert und propagiert hat – und wir wissen alle, welche unheilvollen Folgen solche Ideologien nach sich gezogen haben. Im besten Falle hat der Begriff der »Minderheitenrechte« eine Doppeldeutigkeit: die Schutzmaßnamen für sogenannte »Minderheiten« mögen eine Notwendigkeit sein, aber durch den Begriff Minderheit schreibt man bereits auch Andersheit fest, was zu Ausgrenzung führt. Deshalb möchte ich betonen, dass die westeuropäischen Selbstverständlichkeiten durchaus auch im westlichen Europa immer aufs Neue überprüft werden sollten.
Doch zurück zu Vukovar: Nach allen »europäischen« d. h. EU-Regeln wurde in Vukovar der serbischen Minderheit das Recht auf die eigene Sprache und das eigene Schulsystem ermöglicht. In der Praxis bedeutet diese vorbildliche Achtung der Gesetze, die aus den »europäischen Werten« hervorgehen, eine absurde und politisch bedrohliche Situation. Die serbischen und die kroatischen Kinder, die sich in ihrem Alltag einer identischen Sprache bedienen, welche als Schriftsprache minimale Abweichungen in beiden Standardvarianten aufweist, werden in getrennten Schulen unterrichtet, womit ihre Segregation gepflegt und jede Aussöhnung und Annährung erschwert wird.
Anstatt die kroatische Regierung zu ermutigen, nach einem neuen, bisher in der EU noch nicht existenten, aber authentischen und den Bedürfnissen der Südosteuropäer entsprechenden Modell zu suchen, wird sie ausschließlich zur treuen Anwendung einer EU-»Selbstverständlichkeit« angehalten, die jedoch zu einer Besiegelung der »Andersartigkeit« der serbischen Minderheit führt. Ich möchte dabei betonen, dass ich es als ein Versäumnis der kroatischen Regierung sehe, sich nicht besser artikuliert zu haben und nicht nach geeigneten und originellen Wegen zu suchen, sondern opportunistisch und bequem den EU-Lösungen zu folgen.
Der Aufschrei – nicht nur in der EU, sondern vermutlich auch in Serbien, wäre groß, wenn man die separaten serbischen Schulen in Vukovar abschaffen würde. Und dennoch wäre es für den Frieden in der Region und für die Freundschaft unter den Kindern dieser Stadt besser, wenn man es täte. Freilich bedeutete der neue Weg für eine solche »gemischte« Schule, dass die kroatische Mehrheit die Inhalte der serbischen Unterrichtstoffe ebenso im Schulunterricht vermittelt bekommt, wie die serbische Minderheit die Inhalte der kroatischen Unterrichtstoffe. Sicher, dieser Weg würde eine gewisse Anstrengung für alle Seiten mit sich bringen, aber er wäre in keinem Fall unmöglich, ganz im Gegenteil, die moderne Pädagogik ist m. E. durchaus imstande, solche dialektischen Unterrichtsformen zu erarbeiten und zu begleiten. Hätte man den Ausbau derartiger »gemischter« Schulen in den letzten zehn Jahren intensiv betrieben, würde sich jene Bewegung gegen kyrillische Buchstaben an den offiziellen Gebäuden der Stadt nicht bilden können, die seit einem Jahr für Unruhen in Vukovar sorgt.
Die getrennten Schulen entsprechen den Vorstellungen jener Nationalisten unter den serbischen und kroatischen Bürgern, die jede Annährung, »Vermischung« und schließlich auch Versöhnung ablehnen und die das oben erwähnte Modell des »reinen Nationalstaats« (samt Minderheitenrechten) befürworten.
Dieses Modell ist eigentlich nicht genuin südosteuropäisch sondern eher allgemein europäisch. Anstatt sich bloß für fortschriftlich zu halten, da sie die Rechte der Anderen innerhalb ihrer homogenen nationalen Gemeinschaften mit Gesetzen zu wahren wissen, wäre es auch den führenden westeuropäischen Gesellschaften geraten, dieses Modell einmal gründlich zu hinterfragen. Leider sind die großen Nationalstaaten ein Vorbild für alle Europäer geworden, da man immer mehr geneigt ist zu glauben, dass man die eigenen Rechte nur in einem Nationalstaat verwirklichen kann – womit man auch zeigt, dass man den Minderheitenrechten nicht so ganz traut.
Die Chimäre eines »reinen Nationalstaates« war auch der Motor des Krieges in Bosnien und Herzegowina. Die Besiegelung der Ideologie und der Praxis der ethnischen Säuberung geschah ausgerechnet mit Hilfe des Westens, nicht nur des westlichen Europas sondern auch der USA: Mit dem Dayton-Abkommen wurde eine Trennung der Ethnien entlang der Frontlinien festgelegt. Diente dieses Abkommen vor fünfzehn Jahren der dringend notwendigen Beendigung der Kriegshandlungen und war es deshalb im gegebenen historischen Moment akzeptabel, ist es inzwischen zu einem absurden Hindernis für alle politischen und wirtschaftlichen Veränderungen und für eine Annäherung der ehemaligen Konfliktparteien geworden. Und doch wachen »die Europäer« und ihre »Sonderbeauftragten« gewissenhaft über die Dayton-Ordnung, die m. E. dringend in Frage gestellt werden muss.
Im Beitrag von Nenad Veličković waren traurige Beispiele für den Zerfall in Sarajevo zu sehen. Doch eines wurde nicht thematisiert: der abwesende Dritte in dieser Stadt. Das heutige Sarajevo ist die Hauptstadt eines nach dem Abkommen von Dayton geteilten Landes. Die bosnischen Serben bekamen einen Teil des Landes, das zuvor im Krieg »ethnisch gesäubert« wurde. Die muslimisch-bosniakische sowie die bosnisch-kroatische Bevölkerung bekamen den zweiten Teil und leben dort in einem komplizierten Nebeneinander. All jene Menschen, die sich nicht über ihre Ethnie definieren wollen, haben es entsprechend schwer. Sarajevo gehört offiziell zur muslimisch-kroatischen Föderation, doch der abwesende Dritte bezeichnet diese Stadt in vielerlei Hinsicht: Die serbischen Bürgerinnen und Bürger, die in dieser multikulturellen Umgebung ihren kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beitrag jahrhundertelang zu leisten wussten, fehlen einfach. Das Abkommen von Dayton hat das Schweigen über diesen in Sarajevo abwesenden Dritten gefördert und damit auch das Schweigen über die Ohnmacht aller Vierten und Fünften und Sechsten – also all jener, die sich nirgendwo national, religiös oder ethnisch zuordnen wollen. Einen Frieden auf Schweigen aufzubauen ist schwierig, eine stabile staatliche Ordnung in einem derartigen Staat noch schwieriger – womit aber der Weg in die EU für Bosnien und Herzegowina auf lange Sicht versperrt bleiben wird. Das Vorbild der großen europäischen Nationen und ihrer Nationalstaaten funktioniert nicht einmal im Westen Europas, wofür Belgien sicher ein gutes Beispiel ist. Den Sitz der EU von Brüssel nach Sarajevo zu verlegen, wäre nicht einmal zynisch, sondern nur logisch, aber eine derartige Verlegung gehört zu einer der vielen utopischen Phantasien, die man in Europa nur literarisch entfalten kann.
Es sind die bosnisch-herzegowinischen Bürgerinnen und Bürger, die eine Neuordnung für ihr Land finden sollten, und es wäre wünschenswert, wenn sie sich dabei der spezifischen Situation ihres Landes und ihrer Region besinnen würden, anstatt auf die Vorgaben der EU zu warten. Dieser Weg wäre schwierig, aber nicht unmöglich. Dass sich in Südosteuropa viele Dinge aus eigener Kraft verändern lassen, ist im Kulturbereich sichtbar: In den letzten Jahren ist eine starke Annäherung zwischen den Kulturschaffenden aus allen Ländern Südosteuropas zu vermerken. Die Annäherung ist weder von den politischen Eliten dieser Länder noch von der EU betrieben oder gar besonders stark unterstützt worden – leider ist es schwieriger, EU-Mittel für Kulturprojekte zu bekommen, als den Eurojackpot zu knacken. Aber während wir uns hier unterhalten, findet in unserer Nachbarschaft die große internationale Konferenz »Engaging Foucault« statt, bei der u. a. Philosophen und Soziologen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens so selbstverständlich zu den Vortragenden gehören wie jene aus anderen europäischen Ländern. »Die Nachbarn« einzuladen, gehört in den letzten Jahren zum Standardprogramm aller kulturellen Ereignisse, aller Festivals oder wissenschaftlichen Konferenzen in Südosteuropa. Als Gast unserer Belgrader Debatte über Europa ist die kroatische Autorin Slavenka Drakulić nach vielen Jahren wieder nach Belgrad gekommen – und hat nicht einmal gewusst, dass heute Abend in einem der größten Theaterhäuser Serbiens ein kroatisches Ensemble zu Gast ist: Das Zagreber Theater der Jugend, mit Drakulićs Stück Wie wir den Kommunismus überlebten und dennoch lachten.
Solche Ereignisse sind zum Alltag geworden. Dies wird im westlichen Europa gar nicht wahrgenommen, was mit einer Projektion zu tun hat: Ohne die Kriege im ehemaligen Jugoslawien im Kontext der Veränderungen, die der Fall der Berliner Mauer verursacht hat, zu begreifen, hat man im Westen Europas allzu häufig die Vorstellung von einer angeblich spezifisch balkanischen nationalistischen Ader bemüht, die – so dieses Vorurteil – mit der komplizierten Geschichte und mit den zivilisatorischen Defiziten dieser Völker zu tun habe. Doch diese einfache Zuschreibung würde bedeuten, dass es sich um ein lokales Phänomen der Zuwendung zum Nationalismus, begleitet vom Wiedererwachen der Religionen und der Vermischung von beidem, handelt. Dass es nicht so ist und dass der Balkan überall in Europa zu finden ist, wird nicht nur im gesamten Osten Europas immer sichtbarer, sondern auch im Westen. Und sogar über Europa hinaus.
Die Folgen der Wende und des Falls der Berliner Mauer hören nicht auf zu wirken. Die Geschehnisse in Südosteuropa in den Neunzigern des zwanzigsten Jahrhunderts – so wird es immer deutlicher – waren nur der Vorreiter einer Entwicklung, die tiefere Ursachen hat, als dass man sie einfach einer angeblichen balkanischen Eigenart zuschreiben könnte. Der Balkan ist damit näher an Europa gerückt. Vielmehr, der Balkan wird langsam zu dem, was er im Grunde immer schon war: zu einem untrennbaren Teil Europas. Es wäre gut für den Westen Europas, die eigene Blindheit zu verlassen, die aus Selbstlob entsteht: Sich als Urheber und Hüter der größten Werte zu imaginieren, kann gefährlich werden, da dies zu Erlahmung des kritischen Geistes führen kann. Der kritische Geist, die berühmte europäische Skepsis, sollte besser wach gehalten werden, damit auch die europäischen Werte immer neu hinterfragt und verhandelt werden. Das gilt für alle Europäer, nicht nur für jene im Westen.
Auf die Frage: Was könnten die Länder Südosteuropas in der EU beitragen?, wäre meine Antwort: Sie könnten ihren eigenen kritischen Geist wachrütteln und nach neuen Lösungen für das Zusammenleben suchen, die beispielhaft auch für andere europäische Nationen werden könnten. Sie könnten »die Europäer« dazu bringen, die eigenen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen sowie die Illusion fallenzulassen, die »europäischen Werte« der ganzen Welt aufdrängen zu können.
Es war dieser selbstgefällige westeuropäische Diskurs über die »europäischen Werte«, der zu einer Reihe von Enttäuschungen im Osten Europas geführt hat. Auch die Bürgerinnen und Bürger Südosteuropas fühlen sich in vieler Hinsicht betrogen, da sie etwas naiv diesem Selbstlob der Westeuropäer geglaubt haben. Ein gutes Beispiel dafür ist das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag.
Mit Unverständnis hat man nicht nur in den Ländern, die sich von ihm bedroht fühlen, sondern auch in Serbien, die Entscheidung wahrgenommen, den mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrecher Vojislav Šešelj nach über elf Jahren Untersuchungshaft wegen einer Erkrankung nach Hause zu schicken, ohne ein Urteil zu fällen. Seit einigen Wochen wütet er auf den Belgrader Plätzen und versammelt seine Anhänger um sich, die die Geister des Krieges wieder wachrufen. Was haben sich die Richter dabei gedacht? Das Vertrauen in die europäischen Werte, zu welchen Rechtstaatlichkeit, Gerechtigkeit und auch Friedenspolitik gehören sollten, ist schwer erschüttert. Sich darauf zu berufen, dass man Šešelj in Serbien überhaupt nicht angeklagt hätte, führt in die falsche Richtung. Hätte er all diese Jahre ungestört und ohne jede Einmischung des Westens die gleichen Dummheiten verbreitet, wie er es nun nach seiner siegreichen Rückkehr tut, wäre die serbische Gesellschaft womöglich doch dazu gekommen, ihn selbst vor Gericht zu stellen. Das Vertrauen aber in die westeuropäischen Werte hat noch einmal gelitten.
Einige dieser Werte basieren u.a. auf einer staatlichen Ordnung, die zur Grundlage der heutigen EU-Ordnung geworden ist, und die von einem nationalstaatlichen Prinzip ausgeht. Wie schwierig es für die Europäer ist, die Grenzen der Nationalstaaten zu überwinden, hat man in der EU häufig genug gesehen; an diesen Grenzen droht die EU in den letzten Jahren auch zu zerfallen. Dabei wird von den Nationalstaaten als natürlichen oder gottgegebenen Größen ausgegangen und häufig vergessen, dass diese auf einer harten und blutigen Vergangenheit aufgebaut wurden, und dass eine solche geopolitische Ordnung nicht unbedingt allen Völkern und Staaten der Welt als Vorbild dienen sollte. Sich dieses Umstands bewusst zu werden und nach neuen Konzepten des Zusammenlebens zu suchen, ist eine große gemeinsame Aufgabe, bei der den Südosteuropäern eine Vorreiterrolle zukommen könnte.