Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Aleš Debeljak
Sechs Thesen zu »Innere Unruhe und die Neuerfindung der Nachbarschaft«

1. Die Teilung zwischen West und Ost in der kollektiven Phantasie Europas ist nicht das Ergebnis des Kalten Krieges. Dieser hat lediglich bereits existierende symbolische und reale Unterschiede verstärkt, die das Ergebnis langandauernder Prozesse waren. In der frühen Neuzeit beanspruchte der europäische Westen (und Norden) normativen Status, während dem Osten (und Süden) die Rolle des schlechten Schülers zugeteilt wurde. In diesem Zusammenhang müssen die Kulturen des Balkans doppelt schlechte Zensuren hinnehmen. Oder ist das nur das permanente Vorurteil der westlichen Beobachter?

2. Geographie als Schicksal? Nein! Man denke an die Veränderungen in der kollektiven Phantasie der Balkanbewohner: von den Großreichen der Habsburger und Osmanen, wo die Ethnizität wenig, die Religion alles galt, zu den Nationalstaaten, wo die Ethnizität alles bedeutet, andere Zugehörigkeiten fast nichts. Die Frage ist, ob weitere Veränderungen sich in Richtung des Europäismus bewegen werden – als eines potentiellen Rahmens für die Überwindung der nationalen Zwangslogik.

3. Der Europäismus ist eine sehr prekäre Oberflächenschicht im Bewusstsein der gegenwärtigen Bewohner des alten Kontinents. Doch die Art und Weise, wie man sich Europa vorstellt, hat immer ihre eigenen Polaritäten. Osteuropa ist charakterisiert durch späte Industrialisierung, selektive Modernisierung, das Fehlen großer urbaner Zentren, ländliche Lebenswelten und eine Neigung zu autoritären politischen Formen. Wie soll man aus doppelter Marginalisierung heraus zum Europäer werden?

4. Europäer oder nicht: Das ist für mich nicht die Frage. Viele Formen der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv sind sehr viel schlimmer, insbesondere der Nationalismus. Im Kampf gegen die aristokratischen, vererbten Interessen hatte der romantische Nationalismus des 19. Jahrhunderts einen liberalen und emanzipatorischen Charakter. Er stellte eine alternative Auffassung vom Zusammenleben dar und ging einher mit der Kritik an den herrschenden imperialistischen (und später dann auch kommunistischen) Mythen der Solidarität. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde jedoch der Nationalismus selbst zu einer herrschenden und destruktiven Ideologie. Einige der Balkanstaaten erlangten ihre nationalstaatliche Unabhängigkeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Gesamtkontext Osteuropas zu einem relativ frühen Zeitpunkt. Ist das der historische Grund, weswegen die Balkannationen sich vom militanten Nationalismus (vom ethnischen Chauvinismus) nicht lösen können?

5. Der Nationalismus als »letzte Zuflucht eines Schurken« (um Samuel Johnson zu zitieren) hat die Ideologie einer einzigen Nation in einem homogenen Nationalstaat zur Staatsideologie gemacht, die für die Bevölkerung verpflichtend war. So war der Nationalismus historisch repressiv, ethnisch exklusiv und wirtschaftlich katastrophal. Woher kommt also seine fortdauernde Attraktivität?

6. Keiner der sieben Staaten, die sich aus der Asche des einstigen Jugoslawien erhoben, hat – gleich, ob Mitglied der EU oder nicht – vom ethnischen Chauvinismus abgelassen. Doch die politischen Prozesse und die Integrationsdynamik innerhalb der EU machen die regionale Kooperation von Nachbarn erforderlich, die bis vor kurzem verfeindet waren. Die historische Ironie liegt darin, dass die Nachfolgestaaten Jugoslawiens vielleicht einen funktionierenden Kompromiss in einem größeren transnationalen Rahmen (der EU) finden werden. Die menschliche Tragödie läge dann in der Tatsache, dass die Kriege um das jugoslawische Erbe als völlige Absurdität erschienen.