Jörn Leonhard
Thesen und Anstöße
1. 1914 und 2014: Über Analogien mittlerer Reichweite
Es gibt keine einfachen, gleichsam »handlichen«
Lehren aus der Geschichte des Ersten Weltkrieges für die Gegenwart. Aber es gibt das, was man Analogien mittlerer Reichweite nennen könnte: Wenn wir sorgfältig mit ihnen umgehen, finden wir sicher keine einfachen Lösungen für die Konflikte der Gegenwart, aber wir erkennen in der Gegenwart mehr.
In Zeiten der medial zuweilen permanent verkürzten Halbwertzeit von Nachrichten und ihrer Einordnung muss man daran erinnern, dass Vergleichen nicht Gleichsetzen bedeutet. Wer historisch vergleicht, sollte sich für die Suche nach Unterschieden zwischen Vergangenheit und Gegenwart interessieren, und er sollte die Musil’sche Unterscheidung zwischen »Wirklichkeitssinn«
und »Möglichkeitssinn« beachten: Die Vergangenheit ist mehr als ein Steinbruch von empirischen Pseudobelegen für einen argumentativen Schnellschuss. Wenn man die vergangene Zukunft der vergangenen Zeitgenossen ernst nimmt, ist der Blick in die Geschichte vor allem eine Möglichkeit, sich gegen die Gefahr der Logik des Rückblicks, des teleologisierenden Rückblicks, zu immunisieren: Es kam niemals so, wie es vermeintlich kommen musste. Es hätte in der Regel auch anders kommen können. Es gab eine Vielzahl von möglichen Zukunftsoptionen, und wer sich auf die eine eingetretene fixiert, raubt den Menschen der Geschichte die Offenheit der vergangenen Zukunft.
Wo gibt es so etwas wie Analogien mittlerer Reichweite, die uns in der Gegenwart mehr und genauer erkennen lassen? Die Situation vor 1914 entsprach keiner einfachen Symmetrie von antagonistischen Bündnissen und erinnert insofern durchaus an eine spezifische Unübersichtlichkeit internationaler Beziehungen in der Gegenwart. Dazu gehörte damals und gehört heute die Wahrnehmung scheinbar aufsteigender (vor 1914: Deutschland, USA, Japan) und absteigender Mächte (vor 1914: Osmanisches Reich, Habsburgermonarchie) und der vermeintlichen Notwendigkeit, Beweise für die eigene politische Überlebens- und Zukunftsfähigkeit zu erbringen, nicht zuletzt durch Gewaltanwendung als symbolische Politik.
Die neue Unübersichtlichkeit der internationalen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges ist mit der Erfahrung ganz neuer, asymmetrischer Gewaltformen verbunden, die nicht mehr in die Kategorie des Staatenkrieges fallen, sondern angesichts der Dislozierung von Gewalt, der Auflösung von klassischen Frontlinien, der immer schwierigeren Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten an frühere Formen von Bürgerkriegen erinnern.
Der Blick auf Europa vor 1914 lässt die Bedeutung des Unterschieds zwischen Strukturen der politischen Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung und sozialpsychologischen Einordung erahnen. Die verbreiteten Ängste vor »Niedergang«, »Einkreisung«
und »Demütigung« waren dafür besonders eindrückliche Beispiele. Man kann nicht oft genug betonen, dass Wahrnehmungen aber immer wieder selbst handlungsleitend werden – in der Julikrise 1914 waren sie ein entscheidender Faktor der Eskalation. Man muss 3
Wahrnehmungen keinesfalls teilen, aber man muss sie verstehen, um auf ein Gegenüber reagieren zu können.
Im Juli 1914 wurde die direkte politische Kommunikation durch gegenseitige Unterstellungen ersetzt, bei denen die politischen und militärischen Eliten schließlich aus der Vielzahl ganz widersprüchlicher Informationen nur diejenigen auswählten, die in das eigene Szenario zu passen und die ihnen zugrunde gelegten Prämissen zu bestätigen schienen. Das vermittelte den Plänen und Szenarien – ob dem deutschen Schlieffen-Plan, dem französischen Plan XVII oder den russischen Plänen zur Generalmobilmachiung – ein solches Eigengewicht und die Aura der Alternativlosigkeit.
Aber der Blick auf den Sommer 1914 lässt uns auch die Unterschiede zwischen den Konfliktkonstellationen der Vergangenheit und der Gegenwart erkennen. Drei Beispiele mögen das illustrieren: Begann im August 1914 ein Staatenkrieg, der erst im Laufe des Krieges in eine Vielzahl neuartiger Gewaltformationen mündete, in Bürgerkriege, ethnische Gewalt, in Unabhängigkeitskämpfe und Staatsbildungskriege, so dominiert in der Gegenwart eine asymmetrische, eigentümlich dislozierte Gewalt, die wesentlich auch auf der medial vermittelten Gleichzeitigkeit von Betrachtung und Gewalttat beruht. Bedrohung ist unter diesen Umständen nicht mehr eine Sache von Opferzahlen, sondern einer Präsenz von suggestiven Gewaltbildern.
Internationalisierung bedeutete in der Julikrise von 1914 Eskalierung des Konflikts, in der Gegenwart liegt in ihr noch immer die Möglichkeit der Deeskalation.
Und schließlich: Ohne das Eigengewicht und die Eigenlogik politisch nicht kontrollierter Militärs wäre die Julikrise schwerlich in einen Krieg eskaliert. Dieser Faktor scheint in der Gegenwart keinen entscheidenden Faktor darzustellen.
2. Grenzen und Räume: Ein historischer Blick
Wir erfahren in der Gegenwart einmal mehr, dass Grenzen mehr sind als Umfassungslinien von homogen eingefärbten Nationalstaaten in Atlanten. Der deutsche Begriff der »Grenze« enthält ein ganzes Spektrum von unterschiedlich akzentuierbaren Bedeutungen, von denen nur zwei genannt seien: als »boundary« und »frontier«, als definierte und statisch gedachte Grenzlinie oder als flexibler Grenzraum.
Was wir in der Gegenwart nicht nur in einigen Think Tanks in Westeuropa und den Vereinigten Staaten erleben, ist eine Neuauflage von Mechanismen der Außensicherung, die in vieler Hinsicht an die Konzeption von Imperien, von multiethnischen Großreichen der frühen Neuzeit und des langen 19. Jahrhunderts erinnernt: nämlich im Versuch der Abstufung von Sicherungszonen, die an die Statusdifferenzierung von historischen Imperien und eine Neu-Ausrichtung von Zentren und Peripherien erinnert. Dieses Management von ethnischer, religiöser und rechtlicher Vielfalt markierte keine fest definierten »boundaries«, sondern flexible »frontiers«, und in dieser Logik liegt der Diskurs um »Korridore«, »Pufferzonen« und politisch-wirtschaftlichen Zwischenzonen. In diese Logik des imperialen Denkens passt auch die Vorstellung der EU als ein benevolentes Imperium, das an den Peripherien pazifizierend wirken soll, nicht zuletzt, indem man den Konfliktakteuren Gewaltpotentiale »abkauft«, z. B. durch die Aussicht, so politisch näher an das Zentrum zu gelangen.
3. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Supranationalität und Geschichtspolitik
Wir erleben seit dem Ende des Kalten Krieges eine ganz eigene chronologische Gleichzeitigkeit des historisch Ungleichzeitigen: Einerseits gibt es viele Hinweise auf die Beschleunigung der supranationalen Integration und der Erosion des tradierten Souveränitätsbegriffs von Nationalstaaten. Wir erleben, wie der überkommene Nationalstaat in Westeuropa historisiert wird (auch vor diesem Hintergrund erklärt sich das neue stetige Interesse an Imperien) und gleich aus zwei Richtungen an Bedeutung verliert: durch Souveränitätstransfers im Rahmen supranationaler Integration und zugleich durch neue Regionalismen, die sich durch Devolution und Föderalisierung zu nationalen Unabhängigkeitsbewegungen unter Berufung auf nationales Selbstbestimmungsrecht steigern können.
Aber andererseits wirken Nation und Nationalstaat weiterhin als wichtige, ja vielerorts entscheidende Referenzmuster der politischen Kommunikation und zumal der Geschichtspolitik in Krisenphasen. Und auf der Ebene der Instrumentalisierung von Geschichte erleben wir den langen Schatten der kontinentaleuropäischen Imperien, die 1918 oder wie im Falle der der Sowjetunion 1991 untergingen. In der »shatterzone of empires« aber entstand vielerorts keine stabile, sondern eine allenfalls prekäre Staatlichkeit, oder gar (wie im Mittleren und Nahen Osten) eine Abfolge von politischen Vakua – die Folge sind Konflikträume bis in die Gegenwart, in den 1990er Jahren in Jugoslawien, in der Gegenwart in der Ukraine sowie im Nahen Osten.
Aber das formale Ende der Imperien bedeutete und bedeutet niemals das Ende der Imperien als Bezugspunkt politischer Selbstpositionierung – das verbindet bei allen Unterschieden die Situation in Russland mit der Selbstpositionierung des Islamischen Staates. Die Erinnerung an die Ausdehnung von Imperien, ihre Dauer, an die Aura von historischer Mission vermitteln offenkundig eine Form der emotional-affekthaften Sinnstiftung, die sich weit jenseits der Sicherheitslogik und Raumstrategie imperialer Vorstellungen von Zentrum und Peripherie politisch instrumentalisieren lässt. Demgegenüber ging und geht die westeuropäisch-transatlantische Annahme einer befriedenden Wirkung von wirtschaftlicher Verflechtung und dem Export des zivilgesellschaftlichen Modells nach Osteuropa und in den Mittleren und Nahen Osten zur Überwindung nationalistischer Gefährdungen, ethnisch-religiöser Konflikte oder imperialer Nostalgien an der geschichtspolitischen Dimension der Politik vorbei.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hat noch eine andere Dimension: Das Modell der supranationalen Integration in der EU ist tendenziell institutionsfixiert, exekutivlastig und demokratiedefizitär. Und es vermittelt letztlich im Appell an rationale Interessen wenig emotionale, politisch-symbolische Überzeugungskraft. Es gibt einen blinden Fleck in diesem rationalen Politikverständnis. Vor diesem Hintergrund mag erst die Auseinandersetzung mit Putins neoimperialer Annexionspolitik die Debatte um Europa als einer europäischen Wertegemeinschaft jenseits bekannter Legitimationsrhetoriken auf eine andere Ebene gebracht haben.