Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Srećko Horvat
Die Entführung der Europa

Im Mai 2012, kurz vor dem Beitritt Kroatiens zur EU, organisierten wir das fünfte Subversivitätsfestival in Zagreb unter dem Titel »Die Zukunft Europas«. Als Emblem des Festivals wählten wir eine Frau mit einer roten Fahne, die von einem Stier entführt wird. Das war ein klares Zeichen: An die Stelle der Troika, die Europa entführt, muss etwas anderes treten – wir müssen jetzt Europa seinen Entführern entführen. Es war ein merkwürdiger Zufall, dass nur ein paar Wochen später der Präsident der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, verkündete, von Mai 2013 an würden die neuen Banknoten der sogenannten Europa-Serie (zunächst Fünf-Euro-Scheine, ab September 2014 auch Zehn-Euro-Scheine) als Wasserzeichen und Hologrammstreifen das Gesicht der mythischen Prinzessin Europa zeigen. Den antiken Mythos kennen wir alle gut: Eine phönizische Frau edler Abkunft wurde eines Tages, während sie am Meeresstrand Blumen pflückte, von einem schönen weißen Stier verführt. Sie hieß Europa; der Stier war Zeus. Er trug sie fort mit sich ins Meer und brachte sie nach Kreta. Dort vergewaltigte er sie. Der Ursprung des heutigen Europa ist, kurz gesagt, eine Vergewaltigung. Die römische Mythologie, welche Zeus durch Jupiter ersetzte, hat später diese Geschichte vom raptus adaptiert, auch bekannt als »Entführung der Europa« oder »Verführung der Europa«. Ist es nicht interessant, wie aus einer Vergewaltigung eine Entführung und aus dieser eine Verführung werden kann? Wenn wir die Bilder dieses Ereignisses betrachten, die von den alten Meistern entworfen worden sind, etwa Tizians Ratto di Europa (1560-1562), sehen wir Europa mit bloßer Brust, sich am Horn des Stiers aufrichtend: Es ist nicht das Bild einer Vergewaltigung, sondern das eines schönen, sinnlichen Erlebnisses.

Lesen wir einmal die Beschreibung nach, welche an dem Ort, wo das Gemälde Tizians heute aufbewahrt wird – im Isabella Stewart Gardner Museum in Boston – dem Besucher zur Verfügung gestellt wird:

»Tizian stellt eindeutig einen Akt der Vergewaltigung dar. Europa liegt auf dem Rücken, ihre Gewänder sind in Unordnung. Gleichzeitig vermittelt der Maler den mythischen Impetus der Geschichte: Von einem Gott zur Liebe gezwungen zu werden, ist keine gewöhnliche menschliche Erfahrung sexueller Gewalt. Vielmehr ist es ein schreckenerregendes, aber das innere Wesen verwandelndes Erlebnis übernatürlicher Besessenheit oder Ekstase, das zu einem guten Ende führen kann. Ein großer Teil dessen, was dieses Bild so faszinierend und in der Tat für uns heute so beunruhigend macht, liegt darin, dass Tizian die paradoxen Aspekte von Europas Schicksal herausarbeitet – das Leiden des Opfers erzeugt auch Lust, die Europas wie die des Betrachters. Man könnte zwar sagen, dass Tizian damit eine Vergewaltigung idealisiert, doch geht es in diesem Bild um mehr als um sexuellen Zwang. Sein künstlerisches Ziel ist auch ein psychologisches. Die Herausforderung liegt darin, einen Augenblick zu zeigen, da ein Zustand des Entsetzens zu einem der Hingerissenheit wird. In beiden erlebt man sich als Objekt – als jemand, der Mächten unterliegt, die von außen auf ihn einwirken. Tatsächlich bewahrt die englische Sprache eine Erinnerung an jene Assoziation, die Tizians Bild inspirierte, insofern die Wörter rape und rapture, ›Vergewaltigung‹ und ›Hingerissenheit‹, eine gemeinsame lateinische Wurzel haben.«

Da haben wir es also. Es geht nicht lediglich um eine Vergewaltigung, es geht um etwas ganz und gar Hinreißendes. Dieses rapture kommt von einem mittelateinischen raptura, das wiederum vom lateinischen raptus (»Forttragen«, »Entführen«) kommt. Im römischen Recht bezog sich dieser Begriff auf eine Reihe von diversen Eigentumsdelikten, darunter die Entführung von Frauen, die demgemäß als Besitzgegenstände galten. In der christlichen Eschatologie bezeichnet rapture, »Entrückung«, die Begegnung mit Christus in einer himmlischen Sphäre. Doch das Interessante hier ist für uns die seltsame Affinität von rape und rapture. Es scheint, als antizipiere die römische Mythologie bereits zwei zentrale Klischees, welche in der Vergewaltigungsdiskussion bis heute umherspuken. Einmal der weit verbreitete Topos, dass Frauen, die ihre Sexualität betonen (mit Stöckelschuhen, Miniröcken usw.), damit implizit zum Geschlechtsverkehr einladen und insofern selbst für ihre Vergewaltigung verantwortlich zu machen sind. Zum Zweiten die dubiose Behauptung, dass weibliche Opfer von Vergewaltigungen es tatsächlich genössen, vergewaltigt zu werden, oder dass Frauen zumindest entsprechende erotische Phantasien hätten.

Damit man nicht denkt, es handele sich bei Tizians rapture um einen Einzelfall, werfen wir einen Blick auf ein anderes Meisterwerk – Le rapt d’Europe (1750) von Jean-Baptiste Marie Pierre. Beide Bilder sind charakterisiert durch die Anwesenheit von Engeln, die in den Lüften spielen, fast als seien sie erregt von der Vergewaltigung (was uns zurückführt zur theologischen Bedeutung von rapture – dem Herrn in den Lüften zu begegnen). Dasselbe gilt für ein früheres Bild, Jean François de Troys L’enlèvement d’Europe (1716), in dem ein Engel tatsächlich den Stier führt und ihn anleitet. Alle diese Bilder suggerieren die ekstatische Erfahrung des Vergewaltigtwerdens, welches eben nicht lediglich rape ist, sondern rapture. Lässt sich nicht das beste Beispiel für dieses Zusammenspiel in der berühmten ekstatischen Begegnung der Heiligen Theresa mit dem Engel finden?

»In seinen Händen sah ich einen großen goldenen Speer, und an der eisernen Spitze schien ein feuriger Punkt zu glühen. Diesen Speer stieß er mir mehrmals in das Herz, so dass er mir bis in die Eingeweide drang. Als er ihn wieder herauszog, war mir, als zöge er mein Inneres mit und ließe mich ganz und gar verzehrt von der großen Liebe Gottes zurück. Der Schmerz war so stark, dass ich mehrmals laut stöhnte. Die Süße, welche von diesem durchdringenden Schmerz verursacht wird, ist so groß, dass man unmöglich wünschen könnte, er möge enden. Und die Seele ist mit nichts anderem mehr zufrieden als mit Gott. Dies ist kein körperlicher, sondern ein geistiger Schmerz, wenn auch der Leib seinen Anteil daran hat – sogar einen beträchtlichen. So sanft ist dieses Liebeswerben, das zwischen Gott und der Seele stattfindet, dass – sollte jemand glauben, dass ich lüge – ich Gott bitte, ihm in seiner Güte etwas von diesem Erleben zuteilwerden zu lassen.«

Kein Wunder, dass Lacan in seinem XX-Seminar, als er versuchte, die weibliche (die Andere) jouissance zu definieren, die bekannte zynische Bemerkung machte: »Es ist wie bei der Heiligen Theresa – man muß nur nach Rom gehen und Berninis Statue betrachten, um sofort festzustellen, daß es ihr kommt. Da gibt es keinen Zweifel.«
Wenn wir also nun zu unserem gegenwärtigen Problem zurückkehren und zur jüngsten »Europa«-Banknotenserie, sollten wir dann nicht Lacan paraphrasieren und sagen: »Es ist wie bei der EU – man muss nur in die eigene Brieftasche schauen (falls man dort Geldscheine vorfindet) und die neuen Fünf- oder Zehn-Euro-Banknoten betrachten, um sofort festzustellen, dass eine Vergewaltigung im Gange ist.« Wenn die gegenwärtige europäische Führung (beziehungsweise: die Troika) mit ihren fortdauernden Sparmaßnahmen und ihrer Finanzdiktatur die Krise nur vertieft, ist sie doch stolz darauf. Obwohl die Vergewaltigung der spanischen, griechischen oder auch kroatischen Bevölkerung durch eben jene finanziellen Maßnahmen vollzogen wird, wird das noch auf unseren Banknoten gefeiert. Was wir jedoch anstatt dieser rapture brauchen, ist eine genuine rupture. Eine Frau auf dem Tier mit einer roten Fahne, die endlich den Lauf Europas ändern würde.