Debates on Europe III-V

Debatten
in Bukarest, Athen, Belgrad und Berlin

Angesichts der aktuellen Spannungen vor allem in Osteuropa diskutieren Schriftsteller und Wissenschaftler aus europäischen Ländern über zentrale Herausforderungen des europäischen Projekts.

2014 haben die Debatten in Bukarest (III), Athen (IV) und Belgrad (V) stattgefunden. Die Leitfrage war: »Wie viel Europa darf es sein?«. Die Protagonisten dieser Begegnungen sind Ende Februar 2015 in Berlin zusammenkommen, um ihre Positionen zu diskutieren.

Eine Kooperation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit der S. Fischer Stiftung und der Allianz Kulturstiftung, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Drinka Gojković
Womit soll ich anfangen?

Wie einige von Ihnen noch wissen werden, ist dies der erste Satz des Romans Mutterland von David Albahari. Unser heutiges Thema – Wovon wir reden, wenn wir von Europa reden? – ist derart komplex und vielseitig, dass mir das Dilemma »womit anfangen?« als der logische mögliche Anfang erscheint.

Ach Europa!

Das ist kein Seufzer, sondern ein weiteres Zitat. So lautet der Titel eines Sammelbandes aus Reportagen und kulturgeschichtlichen Essays aus dem Jahr 1987 von Hans Magnus Enzensberger. In diesem rund 500 Seiten dicken Buch schreibt Enzensberger über die Erfahrungen, die er in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf seinen Reisen durch einige europäische Länder – Schweden, Italien, Ungarn, Portugal, Norwegen, Polen und Spanien gemacht hat. Jugoslawien taucht in diesem Band nicht auf. Auf die Frage, warum er über Jugoslawien nicht geschrieben habe, antwortete Enzensberger 1987, Jugoslawien sei allzu kompliziert.

Allerdings war Serbien als Teil jenes komplizierten Jugoslawiens damals unvergleichlich näher dran an Europa, als heute, obwohl Serbien sich aktuell, wie man uns weiszumachen versucht, auf dem europäischen Weg befindet, das heißt, es versucht, die Bedingungen für die Aufnahme in die sogenannte »europäische Familie« zu erfüllen. Im Hinblick auf Serbien ist Europa zwar nicht verschlossen – mit ein wenig Mühe ließe sich vielleicht auch sagen: ganz im Gegenteil – aber Europa hat Vorbehalte.

Wenn wir uns also jene Frage stellen, die als Überschrift für die Belgrader Gespräche fungiert – Wovon wir reden, wenn wir von Europa reden? – dann müssen wir zunächst bestimmen, wer dieses in der Fragestellung enthaltene »Wir« sein soll. Was es ist, das gesprochen wird, hängt in erster Linie davon ab, wer derjenige ist, der spricht. Ein jedes Wir ist naturgemäß heterogen, und in diesem Fall ist dies besonders stark ausgeprägt. Unsere Perspektiven (in zweierlei Hinsicht: als Standpunkte und auch als Zukunftsaussichten) unterscheiden sich maßgeblich. Die Außenperspektive, die Perspektive von jemandem, der außerhalb von Europa steht (damit ist hier die Europäische Union gemeint) und die Innenperspektive, die Perspektive desjenigen, der nicht nur Teil dieses Europas (der Europäischen Union) ist, sondern auch die Macht hat, den Begriff Europa selbst zu definieren, sind unendlich weit voneinander entfernt. Unsere grundlegenden Fragen lauten, ob, wie und in welcher Hinsicht wir uns gegenseitig annähern können.

Ich erinnere mich an eine Begebenheit im Rahmen einer Tagung über die Literatur West- und Osteuropas irgendwann Mitte der 1990er Jahre in Wien. Eine westeuropäische Teilnehmerin sagte vollkommen aufrichtig und ohne eine böse Absicht: »Wissen Sie, diese osteuropäischen Länder, das ist alles sehr interessant, aber für mich dermaßen exotisch, absolut exotisch!«
Viele dieser osteuropäischen Länder sind in der Zwischenzeit Mitglieder der Union geworden, und ich frage mich, ob sie nun in der Wahrnehmung der Westeuropäer weniger exotisch wirken. Was Serbien anbelangt, so ist es aufgrund der Geschehnisse in den 1990er Jahren in den Augen des Westens exotischer geworden, als es jemals zuvor gewesen war.

Wir wissen, dass es in Europa viele Stimmen gibt, die sich gegen neuerliche Erweiterungsschritte der Union aussprechen. Wer ein nüchternes Urteil fällen möchte, muss sich die Frage stellen: Braucht Europa Serbien, und wenn ja – warum? Serbien ist wirtschaftlich, politisch und rechtlich gesehen ein ausgesprochen armes und ausgesprochen verwahrlostes Land, das in den letzten rund dreißig Jahren stellenweise auf das Niveau der Dritten Welt hinuntergesackt ist. Aber, wie ich bereits sagte, Europa ist gegenüber Serbien offen, wenn es auch Vorbehalte hegt. Die geographischen Aspekte und die Befriedung des Balkans bieten ausreichend Gründe für diese Offenheit (alle anderen Aspekte würden den Rahmen dieses Gesprächs sprengen). Wenn in diesem Kontext – wie es im Westen zuweilen gerne getan wird – über »die europäische Familie der Völker« gesprochen wird, in der Serbien als Familienmitglied ebenfalls Platz finden soll, dann handelt es sich meines Erachtens um eine rhetorische Figur, die dazu angetan ist, absichtlich zu emotionalisieren und einen ansonsten vollkommen pragmatischen und rationalen Standpunkt attraktiver aussehen zu lassen.

Wenn also Europa Serbien wirklich braucht, dann lautet die nächste Frage, ob Serbien Europa braucht, und wenn ja – warum? Diese Frage verlangt nach einer vielschichtigen Antwort.

Vor einigen Wochen wurde im Auftrag der EU-Delegation in Serbien eine öffentliche Meinungsumfrage durchgeführt. Die Agentur Medium Galup erforschte die Ansichten der Bürger Serbiens über die Europäische Union. Hier sind die Ergebnisse: Eine EU-Mitgliedschaft Serbiens wird von 57 % der Bürger unterstützt, während 47 % der Befragten eine generell positive Einstellung zur EU haben. Die Bürger Serbiens würden einen EU-Beitritt ihres Landes in erster Linie aus ökonomischen Gründen unterstützen. Diejenigen, die sich gegen einen EU-Beitritt aussprechen, tun dies hauptsächlich aus Angst davor, dass gewisse Bedingungen an die Mitgliedschaft geknüpft sind und Druck ausgeübt werden könnte, und außerdem aus Angst vor Verarmung oder Souveränitätsverlust.

Die Meinungen der Bürger Serbiens über Europa, das heißt über die EU, reichen von einer Schönfärberei Europas hin zum Widerstand gegen Europa. In beiden Fällen ist nicht die Rede von einem realen, sondern von einem imaginären Europa. Liest man vor diesem Hintergrund beispielsweise Enzensbergers Essay über Europa, das heißt über die EU, so ist vom »Sanften Monster Brüssel« die Rede, dessen Bürokratisierung die Demokratie abwürge und die Bürger Europas unter Kuratel stelle. Oder liest man etwa den Standpunkt des slowenischen Philosophen Tomaž Mastnak, ist demzufolge die »EU als Organisation ein Instrument der politischen Entmachtung [...], einer dreifachen politischen Enteignung« (»die politische Entscheidungsfindung wird den nationalen politischen Einzelstaaten weggenommen; die Exekutive dieser Einzelstaaten wird von der Verantwortung gegenüber den eigenen Bürgern befreit, weil die Exekutive selbst Brüssel gegenüber Rechenschaft ablegen muss, während Brüssel niemandem Rechenschaft schuldig ist«). Berücksichtigt man also diese Stellungnahmen, dann wird klar, dass Europa, das heißt die EU, kein paradiesisches Fleckchen Erde ist, das für sämtliche Probleme eine Lösung parat hat. Auf der anderen Seite, wenn bei uns gesagt und geglaubt wird, Europa, das heißt, die EU, sei nichts anderes als eine Kraft, die unterdrückt und zermalmt, dann wird auch klar, dass das auch nicht das Einzige und auch nicht das Relevanteste ist, das sich über dieses Europa sagen lässt. Und schließlich, wenn bei uns trotzig behauptet wird, »wir«, innerhalb oder außerhalb der EU, seien bereits Europa, dann ist klar, dass diese Aussage geographisch richtig ist, aber dass die zivilisatorischen Parameter in vielerlei Hinsicht etwas anderes besagen.

Das heißt, die Bürger Serbiens müssen in erster Linie nüchterner über Europa nachdenken. Die besagte Untersuchung der öffentlichen Meinung kommt zu dem Schluss, dass die Bürger Serbiens einen EU-Beitritt hauptsächlich aus ökonomischen Gründen befürworten. Kurz gesagt: »Wir gehen nach Europa, um besser zu leben!« Aber »besser leben« ist das fertige Produkt, nicht jedoch das Bewusstsein über die Prozesse, die für die Herstellung eines solchen Produkts notwendig sind. Wie man in dieser ruinierten Ecke der Welt (die, geographisch gesehen, selbstverständlich zu Europa zählt), besser leben könnte, darüber wird unzureichend und unsystematisch gesprochen und gedacht, meistens nur in Enklaven von Fachleuten und innerhalb von Gruppen, die keinen politischen Einfluss haben.

Exkurs: Das erinnert mich an die Situation Ende der 1980er Jahre in Ex-Jugoslawien, als alle vollmundig über Demokratie sprachen, aber wenig darüber nachgedacht wurde, wie diese Demokratie in einen spezifischen, in der Tat komplizierten, ökonomisch unausgeglichenen und ethnisch bunten Staat eingeführt werden könnte. Damals war vor allem unter den Intellektuellen der Glaube vorherrschend, Demokratie bestehe aus nichts anderem als einem Mehrparteiensystem, freien Wahlen und Marktwirtschaft, aber dann erschöpfte sich das Mehrparteiensystem in nationalen Parteien, der gemeinsame jugoslawische Markt und die keimenden Ansätze einer Marktwirtschaft wurden zerstört und das Chaos konnte beginnen.

Etwas Ähnliches – ich denke an die heutige Überzeugung, alles würde stehen und fallen mit der Übernahme vorgefertigter westeuropäischer Modelle und Diktate – geschieht auch in der Gegenwart.

»Wir können das nicht selbst«, »Ohne den Druck Europas schaffen wir das nicht«, »Wenn wir nicht Teil Europas werden, gehen wir unter« – solche Aussagen sind im Zusammenhang mit unterschiedlichen Problemen häufig auch in aufgeklärten intellektuellen Kreisen zu hören. Sich selbst auf diese Weise freiwillig unter Kuratel zu stellen, führt zu nichts. Es zeigt lediglich das Fehlen eines elementaren Selbstbewusstseins und eine sehr gefährliche Passivität. So sind wir für uns selbst unbrauchbar, geschweige denn für Europa. Wenn »wir es selbst nicht können«, und wenn »wir es ohne Druck nicht schaffen«, dann werden wir es mit niemandem können, und dann auch nicht unter Druck. Natürlich können wir, indem wir uns nach dem allzu langen Knockout wieder erheben, vieles von Europa lernen, nicht jedoch, wenn wir nur auswendig lernen. Serbien müsste im Hinblick auf Europa auch einen gewissen Ehrgeiz entwickeln, und sich nicht nur mit dem bloßen Wunsch begnügen »besser zu leben«. Ein solcher Ehrgeiz sollte meiner Meinung nach folgendermaßen aussehen: sich zu einem Partner Europas und der EU entwickeln, und nicht etwa ihr Musterschüler werden zu wollen. Dafür gibt es hier Potenzial in einzelnen, leider nicht sehr bekannten lokalen Initiativen, aus den Bereichen Wirtschaft, Umwelt und Kultur. Und, wenn es erlaubt ist daran zu erinnern, es gibt auch eine durchaus brauchbare Erfahrung aus dem früheren, ex-jugoslawischen Leben.

Der deutsche Soziologe Wolf Lepenies beschäftigt sich schon lange mit dem Problem der Übersetzbarkeit der Kulturen als einem europäischen Problem und zugleich einer Chance für Europa (in den drei Bereichen Kunst, Wissenschaft und Politik). Im Übersetzen der Kulturen sieht er die große Aufgabe für die Intellektuellen der Zukunft. Gerne und häufig sagt er »Europa – darin lag seine Stärke – hatte nie eine reine Seele«, weil auch die europäische Kultur selbst hybrid sei. Wenn es einen Punkt gibt, in dem Serbien als kompatibel mit Europa gelten könnte, dann ist es genau dieser Punkt: ebenso wenig wie Europa hat Serbien - und auch nicht die Region des ehemaligen Jugoslawiens – »eine reine Seele«, nur dass im letzten Vierteljahrhundert dieser Umstand verdrängt und vergessen wurde. Es gibt allerdings eine Vielzahl von Punkten in Serbien und in der gesamten Region, die unablässig daran erinnern. Lepenies ist die Praxis der »Übersetzung der Kulturen« ein besonderes Anliegen. Er übernimmt den Standpunkt von Claude Lévi-Strauss: Für alle Kulturen gilt, dass nicht ihre Ähnlichkeiten ähnlich sind, sondern ihre Unterschiede. Und deshalb beharrt er darauf, dass es allen Asymmetrien zum Trotz, und zugleich ausgerechnet ihretwegen, eine Lernkultur zu entwickeln gilt und nicht eine Belehrungskultur. Obwohl Lepenies hier auf die europäische Überlegenheit gegenüber dem Fremden anspielt, denke ich, dass seine Idee, derzufolge man das, was man über den anderen lernen will, von ihm selbst lernen soll, in unserem Fall für beide Seiten gilt, sowohl für Serbien als auch für Europa. Deshalb sind solche Gespräche wertvoll, und sollte es in Zukunft mehr davon geben, wäre es gut, möglichst viele Gesprächsteilnehmer miteinzubeziehen, auch solche, die weitaus versierter sind als ich.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Aus dem Serbischen von Mascha Dabić