Ingo Schulze
Intensität – intensiv – intensivieren

Ist „Intensität“ nicht das, was ich mir wünsche? Dabei verwende ich dieses Wort kaum. Und bei Formulierungen, die sich des Adverbs „intensiv“ bedienen, wird mir meistens sogar unbehaglich. Es muss nur jemand behaupten, er habe sich intensiv unterhalten, er habe intensiv geforscht oder intensiv gearbeitet, schon werde ich skeptisch. Bei Formulierungen wie: „Ich habe intensiv geschrieben“, oder gar: „Wir haben uns intensiv geliebt“, schrillen regelrecht die Alarmglocken. Es ist nicht nur das Misstrauen gegenüber Verstärkungen, gegenüber einem „Intensivum“.
Das zur Schau stellen gerade jenes Zustands oder jener Handlung, die als Intensität und als intensiv beschrieben werden, berührt mich merkwürdig.
Denn Intensität scheint mir nichts zu sein, über das man einfach verfügen kann. Ich bin immer dafür gerügt worden, dass ich getrödelt habe, herumträumte und nicht konzentriert gelernt und gearbeitet habe. Aber die Lehrer sagten nicht: Sei intensiv! Sie sagten: Konzentriere dich, sei bei der Sache. Bis heute habe ich das Bedürfnis, meine Zeit besser zu nutzen, meine Geschichten, Romane und Artikel schneller zu schreiben, um mehr Zeit für Freunde und Familie, für Oper und Spaziergänge zu haben. Manchmal wünschte ich, ich könnte mich vervielfältigen: Einer, der am Schreibtisch sitzt, ein anderer, der alle E-Mails und sonstigen Anfragen beantwortet und Artikel wie diesen schreibt, ein Dritter, der die Kinder morgens in den Kindergarten bringt, den Vormittag über liest, mit seiner Frau zusammen zum Sport und ins Museum geht, den Nachmittag mit den Kindern verbringt und abends Freunde besucht oder einlädt oder ins Kino geht, ein Vierter, der Sprachen lernt, in der Welt herumreist und sich um die Übersetzungen kümmert, ein Fünfter erledigt die ganz unangenehmen Dinge wie Zahnarzt, Steuer, Autoreparaturen, Glühbirnen wechseln, die besten Anbieter bei den Versicherungen und Telefongesellschaften heraussuchen, ein sechster ist für alles Unvorhergesehene da, geht mit den Kindern zum Arzt oder Schuhe kaufen, überhaupt erledigt er die Einkäufe und sonstigen Wege und hilft Freunden beim Umzug. Undsoweiter. Da ich keinem zu viel zumuten will, erhöht sich die Anzahl meiner Abspaltungen beständig. Das Problem ist nur, dass ich mir nicht vorstellen kann, in allen gleichzeitig zu stecken. Ich sehe mich eher als einen, der mal dieser ist, mal jener und quer durch die verschiedenen Sphären hindurch nach dem Rechten sieht. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Es kommt von allem nur mehr heraus. Ich funktionierte in gewisser Weise besser als bisher. Aber wäre das ein intensiveres Leben? Selbst wenn ich mich – so wie die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen – endlich zusammenreißen könnte, um diesen Text über Intensität an einem Tag, ach, in zwei Stunden oder besser noch in einer Stunde einfach herunterzuschreiben, selbst wenn ich mir nicht ständig vorstellen würde, wie schön mein Leben sein könnte, wenn ich jetzt nicht gerade über Intensität nachdenken müsste, selbst wenn ich nicht zwischendurch in die E-Mails sehen würde, keine Berichte über die Champions-League läse und nicht ständig nach dem Stand der Börse forschte, wäre mein Leben dann intensiver? Oder einfach nur effektiver? Was sind die Maßstäbe?
Es ist interessant zu sehen, wie sich das Wort Intensität im Deutschen entwickelt hat. Obwohl es ein Fremdwort ist, wird es nicht mehr als solches wahrgenommen. Die Umschreibungen und Erklärungen in den Wörterbüchern „verdeutschen“ es jedoch auf verschiedene Weise.
„Intensität“ wird erst im 18. Jh. aus dem neulateinischen Intensitas gebildet und ist als philosophischer Terminus 1730 bei Wolff belegt. Im Lateinischen geht es zurück auf intensus ‚heftig, stark, gespannt, aufmerksam’.
Das Adjektiv „intensiv“ ‚stark, eindringlich, kräftig’ leitet sich von dem spätlateinischen intentivus ‚steigernd’ ab und kam über das französische intensif, bzw. das altfranzösische intense – groß, stark, heftig in Bezug auf Gefühle und Eigenschaften – ins Deutsche.
Im „Gesamt-Wörterbuch der Deutschen Sprache“ von Jakob Kaltschmidt (vierte, wohlfeile Stereotyp-Ausgabe) von 1854 ist „Intensität“ noch sächlich:
„Das Intensität, die innere Stärke, innere Kraft, die Tiefe“. Dementsprechend wird auch intensiv als „innerlich, gehaltlich, in Beziehung auf inneren Wert“ erklärt.
Nimmt man allein die letzten 150 Jahre, dann wandelt sich das Wort auf bemerkenswerte Weise: seine Bezüge veräußerlichen sich, seine Wirkung verschiebt sich immer mehr vom Subjekt zum Objekt.
Der Brockhaus definiert Intensität in seiner 19. Ausgabe von 1989 als „Kraft, Stärke, Wirksamkeit (einer Handlung, eines Ablaufs)“. Es existiert auch der Plural: die Intensitäten. Denn Intensität gibt es mittlerweile in der Physik als „Energieflußdichte“ und in der Wirtschaft, zum Beispiel als Arbeitsintensität oder Kapitalintensität.
Interessant an der Wikipedia-Seite ist, dass Intensität bereits der gehobenen Umgangssprache zugewiesen wird: „in gehobener Umgangssprache auch für Konzentration und Eifer bei einem Tun benutzt“. Unter allen dort angegebenen 27 möglichen Synonymen könnte allein „Tiefe“ auf eine innere Eigenschaft verweisen. Es dominiert Wirksamkeit, Wirkungsstärke, Gewalt, Kraft, Nachdruck, Hoher Grad, Heftigkeit, Eile, Vehemenz, Hektik, Rasanz, Wucht, Ungestüm.
Diese Tendenz wird ganz offenbar, wenn man sich dem Verb „intensivieren“ zuwendet, das eine Wortschöpfung des 20. Jahrhunderts ist.
„Intensivieren“ klingt bürokratisch, technokratisch. Ich denke an „automatisieren“ und „Produktivität steigern“, daran, dass Politiker ihre Bemühungen „intensivieren“. Intensivieren ist ein transitives Verb, wichtig ist das Objekt, nicht das Subjekt. Niemand würde sagen: Ich intensiviere mich. Es atmet ganz den Geist des späten 20. Jahrhunderts.
Tendenziell scheint sich die Bedeutung von Intensität von einer inneren Stärke und inneren Kraft in Richtung Handlung zu verschieben, und nähert sich damit der Bedeutung von Intensivierung an. Dies vorausgesetzt, wäre das Gegenteil der heutigen Auffassung von Intensität nicht Extensität, – denn beide treffen sich im Gedanken der Wirkung, des Wachstums –, sondern eher die Zerstreuung, der Müßiggang, die Langeweile.
Man würde sich lächerlich machen oder wirkte zumindest komisch, wenn man sagte: Ich bin intensiv spazieren gegangen, ich habe intensiv geschlafen, ich habe mich intensiv erholt.
Will man den Begriff Intensität retten – dass er bereits der gehobenen Umgangssprache zugewiesen wird, ist ein Zeichen dafür, dass sein Gebrauch abnimmt – und ihn nicht in Intensivierung aufgehen lassen, sollte man ihn als die Bezeichnung eines Vorgangs verstehen. der sich nicht über das Resultat definiert, das nur schwer oder gar nicht messbar ist. Zur inneren Stärke und inneren Kraft gehört ja wesentlich, dass sie sich der messbaren Leistung entziehen.
Für die Beurteilung eines Kunstwerks spielt die Zeit, in der es hergestellt worden ist, keine Rolle. Ich kann mich nicht hinsetzen und sagen: So, jetzt möchte ich eine Idee haben, möglichst eine Romanidee. Ich kann aber sagen, ich setze mich jeden Tag an meinen Computer und versuche zu schreiben. Oft aber reihe ich dann Satz an Satz, ohne dass ich selbst weiß, wohin das führen soll. Mitunter gelingt nicht mal das. Gar nicht so selten aber fällt mir in den fünf Minuten, nachdem ich den Computer ausgeschaltet habe und nach Hause gehe, gerade das ein, was ich brauche, um aus dem Geschreibe eine Geschichte, ein Kapitel, einen Artikel zu machen. Da arbeitet etwas in mir, das ich nicht steuern kann. Doch wehe, ich spekuliere auf das Wunder...
Ich bin nie stolz auf ein Buch gewesen, weil ich nie das Gefühl hatte, es wäre mein Verdienst gewesen, dass es zustande gekommen ist. Ich kann mich dafür loben lassen, dass ich brav ausgeharrt und mich Tag für Tag an meinen Schreibtisch gesetzt habe, dafür, weder mich noch diejenigen geschont zu haben, die mit mir leben. Das Eigentliche an einem Buch aber erscheint mir als glücklicher Zufall, als Geschenk.
Intensität, so glaube ich, ist etwas, das einem zu Teil wird, das sich einstellt. Ich meine das in einem ganz irdischen Sinn. Es sind die glücklichen Augenblicke, in denen man plötzlich etwas sieht und versteht, in denen etwas evident wird – ein Gedanke, der das Leben verändert oder die Idee für ein Buch.
Intensität ist für mich das, was man früher vielleicht einen Zustand der Gnade genannt hat. Doch wenn man ihn ergreifen will, hat man ihn schon verfehlt.

Ingo Schulze, Juni 2010