Roland Kaehlbrandt
Hallo! Was geht? Alles gut!
Das Deutsche ist eine reichhaltige Sprache und auf der ganzen Welt verbreitet. Aber mit der Sprachbeherrschung im Einwanderungsland Deutschland sieht es derzeit schlecht aus.
Das Deutsche gewinnt wieder an Bedeutung. Im Ausland verzeichnen die Goethe-Institute ein steigendes Interesse an den Sprachkursen. Auch weit entfernt von den Kernländern der deutschen Sprachgemeinschaft steigt das Interesse an der Sprache Goethes, etwa in Brasilien, Vietnam oder China. In Deutschland selbst herrscht derzeit - selten genug! - die einhellige Meinung vor, das Deutsche müsse so rasch und so gut wie möglich an die vielen Einwanderer vermittelt werden, die täglich aus fremden Kulturkreisen und anderen Sprachgemeinschaften in das Land strömen. Die Fehler der sechziger und siebziger Jahre dürften nicht wiederholt werden, denn viele Einwanderer würden wohl nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren.
Aber ist das Erlernen des Deutschen nicht eine Zumutung? Wer in dem Buch „Wörter und Regeln“ des kanadisch-amerikanischen Kognitionswissenschaftlers und Linguisten Steven Pinker stöbert, der stößt auf ein besonders amüsantes Kapitel. Es heißt „Die Schrecken der deutschen Sprache“. Es ist ganz im Geist jenes berühmten Zitats verfasst, das man Mark Twain oder auch Oscar Wilde zugeschrieben hat: „Das Leben ist zu kurz, um Deutsch zu lernen.“ Pinker beugt sich über die Verbformen sowie die Pluralformen der deutschen Substantive und stellt eine für ihn erschreckend große Formenfülle fest.
Als Deutschsprachiger ist man bei der Lektüre fast schon versucht, zu sich selbst aufzublicken angesichts der Tatsache, dass man offenbar besonders intelligent sein muss, wenn man diesen Formenreichtum spielend beherrscht. Aber zugleich denkt man voller Mitgefühl an all jene, die das lernen sollen. Im Gedächtnis haften bleibt das auch sonst immer wieder gehörte Urteil, das Deutsche sei schwer, umständlich und unzugänglich – und daher eigentlich auch als Fremdsprache und gar als grenzüberschreitende Sprache oder auch als Wissenschaftssprache beispielsweise dem Englischen unterlegen.
Deutsch: Sprache für die guten Schüler?
Das Urteil über die „schwierige“ deutsche Sprache hat etwa in Frankreich dazu geführt, dass das Deutsche eine Stellung wie in Deutschland das Latein oder das Altgriechische einnimmt, nämlich als Sprache „pour les très bons élèves“, für die besonders guten Schüler. Auch ist es alles andere als hilfreich, wenn es darum geht, Menschen zum Erlernen oder - im eigenen Land - zur Beibehaltung des Deutschen zu motivieren. Aber ist diese Sprache denn wirklich so schwer, kompliziert, undurchdringlich, kaum erschließbar?
Das Deutsche hat einen sehr großen Wortschatz. Der Bericht zur Lage der deutschen Sprache aus dem Jahr 2013 nennt eine atemberaubende Zahl: 5,4 Millionen Wörter. Warum ist der deutsche Wortschatz so umfangreich? Wegen seiner fast unbegrenzten Kombinierbarkeit. Das Deutsche lädt geradezu dazu ein, neue Wörter aus bestehenden zusammenzusetzen. Man hat es deshalb auch Lego-Sprache genannt.
Der Vorteil: Aus den zusammengesetzten Wörtern kann man meist die neue Bedeutung sofort herauslesen. Man erkennt aufgrund des Wissens über die Bedeutung von Kind und Arzt auf einen Blick die Bedeutung des neuen Begriffs Kinderarzt. Wenn man die Kombination von Kind und Arzt einmal gefunden hat, kann man alle anderen Bezeichnungen für die Arztberufe genauso konstruieren und verstehen: Frauenarzt, Zahnarzt, Tierarzt, ja sogar bis zum komplexen Hals-Nasen-Ohren-Arzt reicht die Spannweite. So kann der deutsche Wortschatz beliebig erweitert werden. Das ist ideal auch für wissenschaftliche und technische Begriffe. (Natürlich verführt so etwas auch zu Wortungetümen wie dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Aber immerhin alles unter einem Dach.)
Sprache muss eine sich ändernde Welt in Worte fassen können
Ich sammle gern neue Wörter, und häufig stoße ich dabei auf solche Kombinationen. Auf zwei neue Kreationen wurde ich bei die Lektüre dieser Zeitung aufmerksam. Eines ist der Wildpinkler. Er eröffnet sogleich ein weites Wortfeld, zum Beispiel den Wildparker. Immer wenn jemand etwas unkontrolliert in die Natur hineinverfrachtet oder sich an nicht dafür vorgesehenen Orten störend bemerkbar macht, kann nun die Vorsilbe wild- verwendet werden.
In diese Reihe passt auch eine Kreation aus einem Frankfurter Vorort: der Fremdhund. Fremdhunde sind einmal herrenlose Hunde, aber in neuem Sprachgebrauch auch solche, die zu ihrem Geschäft nicht etwa in die Wohnortnähe des Halters ausgeführt werden, sondern auf den Wiesengrund des Nachbarortes. Angesichts des Sittenverfalls, was Müll und andere Entäußerungen betrifft, bietet das Deutsche also bestens geeignete, flexible Bezeichnungstechniken an. Ein großer Vorteil, denn eine Sprache muss die Welt, wie sie sich auch immer ändern mag, in Worte fassen können.
Ein anderes Beispiel für mühelose Wortbildung ist der Erfahrungsjurist, als welchen sich vor einiger Zeit der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer bezeichnete. Was kann dem folgen? Der Erfahrungsökonom, der Erfahrungsgeneral, der Erfahrungsanleger beziehungsweise die Erfahrungsanlegende. Ohnehin ist das Deutsche sehr produktiv in der Schaffung neuer Typen, und dabei hilft die leichte Kombinierbarkeit: Neu sind aus den nuller Jahren der Mautpreller, der Mietnomade, der Frauenversteher. Aktuell ist auch der Russland-Versteher.
Kombinationsfreudigkeit macht Genauigkeit
Die Kombinierfreudigkeit des Deutschen erleichtert die Genauigkeit des Ausdrucks. Man nehme einmal die Wortfamilie des Verbs gehen. Was kann man da nicht alles an Verortungen im Raum finden: angehen, ausgehen, weggehen, aufgehen, abgehen, entgegengehen, untergehen, hinaufgehen, hinuntergehen. Das Wortfeld der Bewegungsverben und der Verben der Bewegungsart ist im Deutschen riesig, zum Beispiel das Verb laufen mit seinen Ableitungen anlaufen, entlaufen, verlaufen, überlaufen, entgegenlaufen, unterlaufen und so weiter. Man kann diese Genauigkeit fürchten, gerade wenn es um Wörter wie herunterfallen oder hinaufsteigen geht, oder man kann sie bewundern. Jedenfalls ist sie einfach herzustellen und zu verstehen.
Die Kombinierbarkeit des deutschen Wortschatzes bringt aber auch wunderschöne Wörter hervor, die aus der Kombination einfacher Silben eine sehr besondere neue Bedeutung schaffen: anschmiegsam, unantastbar und unnahbar gehören zu diesen schönen Wörtern.
Meine Lieblingswort ist anschmiegsam. Es ist ein regelrechtes Sprachkunstwerk. Aus drei einfachen Wörtern ist anschmiegsam gebaut: im Wortkern das Verb sich anschmiegen, dann das Adjektivsuffix -sam, das es ermöglicht, ein Verb in ein Adjektiv umzuformen, und im Verb selbst die Vorsilbe an-, die die räumliche Nähe zwischen zwei Personen zusätzlich unterstreicht (im Gegensatz zu anderen denkbaren Vorsilben wie auf- oder ab-). Anschmiegsam ist nicht nur in der Geste schön, die das Wort bezeichnet, sondern auch im Klangbild. Hinzu kommt die Abgrenzung in der Bedeutung gegenüber formverwandten Verben wie anlehnen. Anschmiegen ist eben nicht nur anlehnen, sondern es bringt eine größere Nähe, fast schon Intimität zum Ausdruck.
Es sind Zusammensetzungen dieser Art, die es im Deutschen möglich machen, so viele feine Unterschiede zu benennen und damit letztlich auch zu schaffen. Es sind sprachlich-geistige Schöpfungen, die wir in der Wortbildung hervorbringen. Sie sind keineswegs trivial, auch wenn sie so leicht fallen. Die Wortbildung ist ein elementarer Vorgang. Denn in den Wörtern erfahren wir die Welt, in ihnen bestimmen wir unsere Welt, und mit ihnen sprechen wir über unsere Welt.
Der Satzbau: Vorzug oder Zumutung?
Ein weiterer Vorzug des Deutschen ist der Satzbau. Der Satzbau, ein Vorzug? Was hat man nicht alles über den deutschen Satz gehört! Er sei kompliziert. Er verführe zu Längen. Er folge einer unnatürlichen Ordnung, indem er durch die Verbklammer das Verb teile und im Nebensatz das Verb ans Ende stelle.
Die Verb- oder Satzklammer rührt zum Beispiel von den Hilfs- und Modalverben her, die ein Hauptverb in seiner Bedeutung spezifizieren wie in dem Satz: Paul soll Karl auch gestern Abend gegen 19.00 Uhr auf dem Bahnsteig von Köln-Ehrenfeld nicht gesehen haben. Die Klammer wird von „soll“ bis „nicht gesehen haben“ gebildet, und mancher Ausländer stöhnt über die lange Strecke, die er zurücklegen muss, bis er den wahren Sinn des Satzes verstanden hat, denn dieser erschließt sich ja erst ganz am Ende. Man kann aber die Satzklammer umgehen, indem man einfach zwei Hauptsätze bildet: Gestern Abend stand Paul um 19.00 Uhr auf dem Bahnsteig von Köln-Ehrenfeld. Da soll er Karl nicht gesehen haben.
Die Verbklammer hat aber auch ihr Gutes. Weil die Inhalte des Satzes erst am Ende durch den Verbbestandteil richtig eingeordnet werden, entsteht ein synthetisches Bild der Lage: Der Satzinhalt wird zu einem Bild zusammengedrängt; zu einem Bild, das es einem ermöglicht, alle Elemente des Satzes in ihrer gegenseitigen Beziehung zueinander in einem Moment zu erfassen.
Doch nun der zentrale Vorzug des deutschen Satzbaus: Er ist sehr flexibel. Einen Satz wie „Ich habe ihm das Buch geschenkt“ kann man drehen und wenden, und immer wieder bekommt er dabei eine neue Nuance. Wenn es darum geht, den Empfänger stark zu betonen, kann man sagen: Ihm habe ich das Buch geschenkt. Will man den Empfänger etwas weniger stark betonen, könnte es heißen: Ich habe das Buch ihm geschenkt. Wenn das Geschenk selbst betont werden soll, lautet es so: Das Buch habe ich ihm geschenkt. Und wer verdeutlichen möchte, dass das Buch nicht verkauft oder verliehen wurden, der sagt: Geschenkt habe ich ihm das Buch. Die Vorzüge des deutschen Satzbaus sind Wendigkeit und Nuancenreichtum.
Damit wir nicht gleich mit der Frage ins Haus fallen
Ein weniger geläufiger Vorzug ist die im deutschen Sprachgebrauch angelegte Nuancierung und Abtönung von Aufforderungen oder Fragen. Ein Beispiel: Man sieht zum ersten Mal das Kind des neuen Nachbarn. Wie fragen wir nach seinem Namen? „Wie heißt du?“ Das wäre ziemlich brüsk. Also sagt man: „Wie heißt du denn?“ Auf diese Weise ist die Frage vermittelnder, abgeschwächt, abgefedert. Es wird gefragt, aber man entschuldigt sich zugleich ein wenig dafür, dass gefragt wird.
Es ist eine feine Zusatzbedeutung, die die deutsche Sprache zur Verfügung stellt und die es erleichtert, die Mitteilungsabsicht auf den anderen und auf den Mitteilungsinhalt abzustimmen. Man nennt diese kleinen Wörter deshalb auch „Abtönungspartikel“. Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg nennt sie bewundernd „Zaunkönige im Pelz der Sprache“. Sie geben einer Frage oder einer Äußerung einen bestimmten Ton, sie helfen dabei, nicht gleich mit einer kruden Behauptung oder mit der direkten Frage ins Haus zu fallen.
Glücklicherweise haben wir viele solcher kleiner Wörter zur Hand wie aber, auch, bloß, doch, eben, halt, etwa, ja, schon, vielleicht, wohl. „Mach’s halt!“, sagt der Vater zum Sohn, der zum dritten Mal der Aufforderung der Mutter nicht nachkommt, endlich sein Zimmer aufzuräumen. In diesem „halt“ liegt etwas Kameradschaftliches. Es benennt einen guten Rat; ganz anders, als wenn der schlichte und grobe Befehl „mach’s!“ geäußert würde. Die deutsche Sprache ist also beziehungsbegabt. Sie bietet die Möglichkeit zum hochdifferenzierten Austarieren sozialer Handlungen.
Kurze Worte, lange Sätze
Gewiss, der deutsche Satz macht es auch möglich, so es gewollt wird, schier unüberwindlich lange Wortfolgen noch vor das Bezugs-Substantiv zu stellen und damit umständlich zu formulieren: Ein zwei Meter langer, aus dem Nachlass des vor vielen Jahren in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ansässigen und dann, wie bereits angedeutet, aber nicht konkret ausgeführt, leider verstorbenen Erfinders übernommener, aus dunklem Mahagoniholz gefertigter wuchtiger Esstisch . . . Aber ist die Länge ein Naturgesetz des Deutschen, so wie es klassische Witze über die europäischen Sprachen und die Gewohnheiten ihrer Sprecher nahelegen?
Wolf Schneider, kundiger Zuchtmeister deutscher Journalisten, hat in einem Sprachvergleich mit dem Englischen gezeigt, dass viele deutsche Wörter den Kürzetest gegenüber dem Englischen gut bestehen. Er nennt zum Beispiel Trödler vs. second-hand dealer oder Trost und consolation. Natürlich gibt es auch hinreichend gegenteilige Beispiele. Aber die University of Applied Sciences gehört definitiv nicht dazu; mit der Länge der Fachhochschule kann der derzeit in Deutschland schwungvoll betriebene Namenstausch jedenfalls nicht begründet werden.
Dass es Sprachökonomie auch im Deutschen gibt und dass sie sogar die „absolute Shortform“ ermöglicht (ein Begriff aus dem Beraterjargon), zeigt auch die Umgangssprache. In den vergangenen Jahren ist eine ganze Reihe neuer feststehender sprachlicher Wendungen entstanden. Spontandeutsch wie „Hallo!“, „Was geht?“ oder „Alles gut!“ erlaubt einen kurzen, durchaus emotionalen Minimaldialog in jeder Lebenslage. Man kann von derlei alltagssprachlicher Ökonomie halten, was man will, und man muss Spontandeutsch auch nicht zur neuen Hochsprache stilisieren. Aber die Behauptung, das Deutsche lasse keine kurze Ausdrucksweise zu, ist schlicht falsch.
Die Muttersprache entscheidet, ob Deutsch leichter oder schwerer ist
Großer Wortschatz, geschmeidige und transparente Wortbildung, hochdifferenzierter Satzbau mit elastischer Wortstellung zum Ausdruck feiner Bedeutungsunterschiede, Beziehungsbegabung, ja sogar überraschenderweise auch die Fähigkeit zur Kürze – das sind Vorzüge der deutschen Sprache. Man könnte auch einiges zu den eher dunklen Kapiteln unseres Sprachbaus sagen: zu dem Durcheinander der Zeiten, zu den unübersichtlichen Substantivklassen oder zur Deklination der Nominalgruppen, so wie Steven Pinker oder Mark Twain es getan haben. Aber Komplexität lässt sich in jeder Sprache finden. Im Übrigen hängt die Beurteilung einer Sprachstruktur als komplex oder einfach auch von der Ausgangssprache ab. Slawische Muttersprachler empfinden den Schweregrad des Deutschen anders als Briten oder Franzosen.
Wer über die Lage einer Sprache spricht, der möchte wissen, wie gut man sie gebrauchen kann. Und dazu muss man fragen, wie weit verbreitet sie ist. Denn – so kann man eine Art Sprachverbreitungsgesetz zusammenfassen – je mehr Menschen eine Sprache sprechen, desto nützlicher ist sie und desto mehr Menschen wollen diese Sprache dann wiederum lernen. Und je mehr eine Sprache gesprochen und gelernt wird, desto besser kann sie sich weiterentwickeln, weil sie sich damit immer wieder Neues einverleiben kann und dadurch ein geeignetes Ausdrucksmittel bleibt. Das haben viele Staaten erkannt, und deshalb betreiben sie eine aktive Sprachexportpolitik.
103,4 Millionen Muttersprachler, Amtssprache in sieben Staaten
Nun, wie weit ist das Deutsche verbreitet? Das Deutsche hat 103,5 Millionen Muttersprachler und gehört damit zu den zehn stärksten Sprachen der Welt. Das ist ziemlich weit vorn, wenn man bedenkt, dass es etwa 6000 Sprachen gibt. In der EU ist das Deutsche die am meisten gesprochene Muttersprache. Etwa ein Drittel der Europäer hat fremdsprachliche Deutschkenntnisse. Deutsch hat den Status einer nationalen oder regionalen Amtssprache nicht nur in Deutschland, sondern in sieben Staaten: außer in Deutschland noch in Österreich, Belgien, Italien, Luxemburg, in der Schweiz und in Liechtenstein. Es gibt auch viele deutsche Muttersprachler außerhalb des Amtssprachengebiets: 7,5 Millionen weltweit. Starke deutschsprachige Minderheiten gibt es zum Beispiel in Brasilien (1,1, Millionen), in den Vereinigten Staaten (1,4 Millionen), in Kanada (500 000), in Südafrika (500 000), aber auch in Polen (600 000) und Russland (756 000). Ja sogar in der Dominikanischen Republik (30 000).
Sehr wichtig für die Stellung einer Sprache ist auch, in welchem Umfang sie von anderen gelernt wird. In 114 Ländern lernen derzeit 15 Millionen Menschen Deutsch. Wenn man alle heute lebenden Personen zusammenzählt, die in ihrer Bildungslaufbahn in irgendeiner Art und Form Deutsch gelernt haben, so sind es fast 300 Millionen. Sie bilden ein riesiges Potential für die auswärtige Sprachpolitik.
Das Deutsche ist also eine voll ausgebaute, reichhaltige Sprache, noch dazu eine der am weitesten verbreiteten Sprachen der Welt. Aber mit der Sprachbeherrschung und auch mit dem Umgang im eigenen Land sieht es derzeit nicht besonders gut aus.
Die Beherrschung der Bildungssprache Deutsch ist alles andere als zufriedenstellend. Die Rechtschreibkenntnisse nehmen ab. Grundschüler machen heute fast doppelt so viele Rechtschreibfehler wie in den siebziger Jahren. Die Lesekenntnisse sind durchaus unerfreulich: Bundesweit können 7,5 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren Texte nicht richtig verstehen und richtig schreiben, so die Stiftung Lesen. Schuleingangsuntersuchungen zeigen, dass bis zu 40 Prozent der Zuwandererkinder im Kenntnisstand des Deutschen weit hinter den Anforderungen an Erstklässler zurückliegen. Aus den Oberstufen und den Seminaren an Hochschulen ist zu hören, dass die Spreizung zwischen sehr guter Sprachbeherrschung und lückenhaften Deutschkenntnissen zunimmt.
Anglizismen werden die deutsche Sprache nicht umbringen
Und wie entwickelt sich die Sprache, oder: Wie entwickeln die Deutschen sie, ihre Sprecher? Gewiss kann man sich über die verbreitete Neigung aufregen, dass fast alles, was irgendwie „angesagt“ ist, auf Englisch bezeichnet wird, Filmtitel, Buchtitel, technische Produkte, mittlerweile auch Stadtviertel – obwohl sich doch das Deutsche hervorragend zur Bezeichnung neuer Dinge eignet, wie die Beispiele „Schnittstelle“, „herunterladen“, „Datenautobahn“ zeigen. Die Neigung zu Anglizismen wird eine große Sprache wie das Deutsche gleichwohl kaum umbringen.
Riskanter sind da schon andere Tendenzen, das Deutsche auf manchen Feldern ganz zu ersetzen, etwa in Teilen des Wissenschaftsbetriebs oder auch des Wirtschaftslebens. Verfechter des Englischen als globaler Sprache für alle vertreten den Standpunkt, das sei kein Verlust, denn Kultur und Sprache seien nicht aufeinander angewiesen: Kant könne man ja auch auf Englisch lesen. Demnach wäre also unsere Kultur von unserer Sprache so unabhängig, dass man auf sie zugunsten einer globalen Sprache verzichten könnte.
Aber ist Sprache nicht Kultur? Natürlich ist vieles übersetzbar. Aber die Sprachen selbst sind ja keine austauschbaren Etiketten, die man auf vorgefertigte Ideen klebt. Sprache und Denken beeinflussen einander, auch wenn Sprachen keine geistigen Gefängnisse sind. In den Sprachen ruhen kulturelle Schätze: Besonderheiten der sprachlichen Strukturen und des sprachlichen Ausdrucks, stilistische Feinheiten, unterschiedlich geordnete Bedeutungswelten, sprachlich gebundene Umgangsformen, ein besonderer Sprachwitz, nicht zuletzt: Literatur, Poesie und damit verbundene Überlieferungszusammenhänge, also Identität. Der australische Sprachforscher Nicholas Evans hat in einem jüngst erschienenen Buch über das Sterben von Sprachen und darüber, was wir dabei verlieren, geschrieben: „Der Verlust unseres sprachlichen Erbes ist eng mit dem Verlust von Kulturen und Lebensumfeldern verbunden.“
Wie wir unsere Sprache am Leben halten
Was ist zu tun, um die deutsche Sprache so zu kräftigen, dass sie künftigen Anforderungen gewachsen ist? In den Schulen sollten alle Lehrkräfte in das Fach Deutsch als Zweitsprache eingeführt werden. Anders kann eine wirkungsvolle Sprachbildung angesichts der starken Zuwanderung nicht geleistet werden. Nötig ist ein sprachsensibler Unterricht, auch Fachunterricht.
Überhaupt muss der Sprachbildung mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden: Das betrifft auch und gerade die Übungen in Grammatik, Wortschatz und Rechtschreibung. Erfahrene Lehrkräfte plädieren für Übungen bis in die Oberstufe hinein. Hohe sprachliche Anforderungen sind nicht per se ausgrenzend, so dass man besser gar nicht erst anstrebte, ihnen zu genügen. In einer hochentwickelten Gesellschaft müssen sie vielmehr ein Bildungsziel sein.
Deutsch sollte in den Hochschulen als Verkehrssprache bewahrt werden. Andernfalls entstehen Sprachinseln, die dem so wichtigen Kontakt zwischen Wissenschaft und Gesellschaft abträglich sind. Ausländische Studentinnen und Studenten sollten auf jeden Fall Deutsch lernen können. Als Wissenschaftssprache sollte das Deutsche wenigstens in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften gepflegt werden.
Zaubermittel: Meisterleistungen auf Deutsch
Das beste Mittel, die deutsche Sprache attraktiv zu halten, sowohl im Inneren wie auch im Ausland, sind allerdings technisch-wissenschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Meisterleistungen. Zu den Meisterleistungen muss jedoch auch die Bereitschaft hinzukommen, sie in jener Sprache zu benennen, aus deren Gemeinschaft heraus sie entstanden sind.
Sprachbildung ist aber nicht nur Aufgabe der Schule und des Staates. Sprachbildung ist eine Aufgabe der ganzen Sprachgemeinschaft. Vereine, Stiftungen, Bürgerinitiativen sind aktiv in der Sprachpflege. Das ist ein gutes Zeichen. Denn der Staat allein wird es nicht richten können. Schon gar nicht, wenn es um die Integration der vielen Menschen geht, die Zuflucht und Zukunft in Deutschland suchen.
Es ist erfreulich, dass die Zivilgesellschaft so aktiv in der Vermittlung der deutschen Sprache ist: Viele Bürgerinnen und Bürger aus allen möglichen Berufen und jedweder Herkunft haben sich zur Verfügung gestellt, um Deutsch zu vermitteln. Ständig erscheinen neue Lehrwerke, um den ehrenamtlichen Sprachmittlern gutes Unterrichtsmaterial an die Hand zu geben. Stiftungen sind aktiv, um ihre langjährigen Erfahrungen im Bereich der Deutschförderung weiterzugeben und sich auf die neue Situation im Einwanderungsland Deutschland mit eigenen Sprachprojekten einzustellen. Insofern ist die Hoffnung berechtigt, dass gerade angesichts der neuen Einwanderung die Bedeutung der deutschen Sprache wieder deutlicher erkannt wird – einfach weil die Wirklichkeit dazu zwingt.
Womöglich liegt die Zukunft unserer durchaus erlernbaren und immer noch verbreiteten Sprache auch in den Händen derer, die von außen zu uns kommen, um in unserem Land einen neue Heimat zu finden – und die das Deutsche später einmal als Sprache ihrer neugewonnenen Sicherheit und Freiheit zu schätzen wissen.
Roland Kaehlbrandt ist Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft in Frankfurt am Main und Mitglied des Kuratoriums der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Im letzten Jahr veröffentlichte er das „Logbuch Deutsch“ (Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M., 2015).
Der hier aufgeführte Text erschien im August 2016 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.