Peter von Matt
Neophyten, sprachliche
Mit Neophyten bezeichnet die Botanik fremdländische Pflanzen, die eingeschleppt wurden und sich nun hierzulande ausbreiten. In Fällen, wo dies sehr rasch und auf ökologisch schädliche Weise geschieht, spricht man von einem invasiven Verhalten. Ein spektakuläres Beispiel ist etwa der Riesenkerbel oder Riesenbärenklau, eine prachtvolle Pflanze, übermannshoch, die aber beim Berühren zu schweren Verbrennungen führt und sich durch ihre gewaltigen Samenteller rasch vermehrt. Die Bevölkerung ist aufgerufen, den ungebetenen Gast energisch zu bekämpfen.
Man kann auch von sprachlichen Neophyten reden, obwohl die Linguistik hier sicher über einen bewährteren Begriff verfügt. Den Blick auf die Botanik rechtfertigen aber die Geschwindigkeit des invasiven Verhaltens und die Frage nach den Wegen der Invasion. Dazu im folgenden eine Vermutung.
Der Neophyt, der die deutsche Umgangs- und Mediensprache seit einigen Jahren am dramatischsten prägt, ist die Wendung ich denke als Eröffnungsformel im Dialog. Nach meiner Erinnerung hat sie sich etwa seit dem Jahr 2000 ausgebreitet, nahezu explosionsartig. Das deutet auf einen hohen praktischen Wert. Und obwohl mich der Ausdruck spontan immer noch ärgert, muss ich zugeben, dass die Stelle, die er nun einnimmt, vorher auch nicht gerade elegant besetzt war. Floskeln wie meines Erachtens oder ich bin der Meinung sind ja doch eher ungefüge Bildungen, und das zuvor weithin übliche ich glaube am Satzanfang ist, genau besehen, weder besser noch schlechter als ich denke.
Das Tempo der Invasion hängt sicher mit der Tatsache zusammen, dass die Eröffnung eines Satzes im Dialog stets ein recht heikler Moment ist. Man rückt mit einer Behauptung auf, und dies erfordert, soll der Partner nicht brüskiert werden, ein winziges Bescheidenheitssignal. Man muss durch eine sprachliche Geste zum Ausdruck bringen, dass der Partner selbstverständlich anderer Meinung sein dürfe und dafür möglicherweise auch gute Gründe habe, dass sich die nun zu äußernde Meinung also einfach einmal so ergeben habe und man selbstverständlich jede Gegenrede im voraus zulasse. Im Bruchteil einer Sekunde wird der Dialog gegen eine mögliche Störung abgesichert und jeder Anschein von Arroganz vermieden. Dazu bedarf es einer geläufigen Floskel, denn ein neu formuliertes, umständliches Bescheidenheitssignal könnte sogar die gegenteilige Wirkung haben.
Wie die Botanik die Wege invasiver Neophyten aufmerksam beobachtet, sollte dies auch die Sprachforschung tun. Im vorliegenden Fall geht meine Vermutung nun dahin, dass die Wendung ich denke ein Anglizismus ist, der über eine spezifische Kulturtechnik in die deutsche Sprache eingeschleust wurde: die Synchronisation englischsprachiger, insbesondere amerikanischer Filme. I think ist als Gesprächseröffnung im Englischen ubiquitär. Wenn in einem Filmdialog der Sprecher wechselt, richtet sich die Kamera, und mit ihr der Blick des Zuschauers, meist mit einem Schwenker auf den Gesprächspartner, der jetzt, wie ein schöner deutscher Ausdruck lautet, das Wort ergreift. Die Synchronisatorin muss also besonders aufpassen, dass die Lippenbewegungen der englischsprechenden Figur dem Wort entsprechen, das die deutschen Zuschauer hören. Wenn I think mit ich glaube übersetzt wird, geht das nur schlecht; ich denke hingegen ist optisch mit I think nahezu identisch, so dass der Synchronisator mit guten Gründen, wenn auch gegen den deutschen Sprachgebrauch, diesen Ausdruck einsetzt. Dies dürfte die Einfallsstelle des invasiven Neophyten gewesen sein, und vielleicht haben ihn als erste dann auch die Drehbuchschreiber deutscher Filme übernommen. Auf jeden Fall wäre der genaue Zeitraum der Ausbreitung dieser Floskel am einfachsten über die Beobachtung einiger Krimiserien zwischen 1995 und 2005 zu ermitteln.
Inzwischen ist es so, dass sich der Neophyt auch historisch rückwärts ausbreitet, ein in der Sprachgeschichte vermutlich seltenes Phänomen. Beim preisgekrönten Film Das weiße Band, der vor dem Ersten Weltkrieg spielt, ist mir jedenfalls aufgefallen, dass er von einzelnen Figuren gebraucht wird, ein Anachronismus durchaus. Was ein weiteres Indiz dafür sein könnte, dass die Filmbranche bei der Invasion ahnungslos ihre Hände im Spiel hatte.
Nicht von der Hand zu weisen ist die Vermutung, dass es sich beim Ausdruck das macht Sinn, einem invasiven Neophyten von ähnlicher Aggressivität, um einen analogen Fall handelt. Auch hier ist das Lippenspiel beim englischen it makes sense praktisch gleich wie bei der neuen deutschen Variante. Allerdings sind die angestammten, vom Neophyten zunehmend verdrängten Ausdrücke es ist sinnvoll, es ist vernünftig von einer so klaren, sprachlich schlanken Beschaffenheit, dass der viel plumpere Eindringling eigentlich bekämpft werden sollte wie der Riesenkerbel. Nur gibt es hier keine Hacke oder Baumschere, zu der man greifen könnte.
Peter von Matt, Januar 2011