Ingo Schulze
Abwrackprämie

Als die Bundesregierung 2009 eine Umweltprämie einführte, die sogenannte Abwrackprämie, schenkte Herr S. diesen Begriffen Glauben. Abwracken bedeutet, ein altes Schiff zu verschrotten. Er erinnerte sich, dass es 1989 schon einmal eine Abwrackprämie gegeben hatte. Die EU hatte für das Abwracken von Binnenschiffen gezahlt. Für 2 500 Euro war Herr S. bereit, sein altes, ihm lieb gewordenes Auto verschrotten zu lassen. Er würde zudem Steuern, Haftpflicht und TÜV einsparen und sich wieder mehr bewegen. Und der Umwelt half er auch. Herr S. überlegte, was er mit der Prämie machen sollte, so viel Geld hatte er noch nie geschenkt bekommen. Zuerst wollte er sich eine Bahncard kaufen, dann schien ihm ein Fahrrad angebrachter; doch schließlich entschied er, sich einen alten Traum zu erfüllen: eine Wanderung auf dem 11. Längengrad, von Fehmarn bis zur Zugspitze.
Wie enttäuscht aber war Herr S. als er erfuhr, dass er für die Verschrottung seines Wagens bezahlen sollte. Herr S. zweifelte an der Welt. Da stand „Umweltprämie“ und „Abwrackprämie“ – doch nicht: „Autokaufprämie“. Seine Niedergeschlagenheit wuchs, als ihn sein Vermieter fragte, ob er sich nicht endlich ein neues Auto kaufen wolle, die Gelegenheit sei so günstig wie nie. Herr S. errötete. Woher sollte er das Geld für einen neuen Wagen nehmen? Er konnte sich diese „Abwrackprämie“ einfach nicht leisten. Seine Nachbarn taxierten ihn zunehmend skeptisch, Autofahrer schüttelten den Kopf, wenn sie neben seinem Wagen an der Ampel hielten. Herr S. ertrug das nicht lange. Er bezahlte die Gebühr und ließ seinen Wagen verschrotten.
Seither ist Herr S. wütend. Jeden Morgen hofft er, dass die Wut verraucht ist. Aber sobald er das Radio oder den Fernseher anschaltet, eine Zeitung aufschlägt oder auch nur das Haus verlässt, steigt die Wut wieder in ihm auf, jeden Tag aufs Neue.
Merke: Entleerte Worte sind noch viel schlimmer als geleerte Kassen.

Ingo Schulze, Juni 2010