Wulf Oesterreicher
literatus vs. illiteratus

Bis ins europäische Hochmittelalter hinein ist die Unterscheidung zwischen den literati und den illiterati fundamental. Gemeint ist damit die Bildung, die auf Schrift- und Lesekundigkeit beruht und die vor allem die clerici und ihr Umfeld auszeichnete. Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit nimmt vor allem in den Städten und Kommunen, also außerhalb des kirchlichen Bereichs, die Schriftlichkeit in Verwaltung und im Handelswesen zu; es gibt also eine Alphabetisierung, die zu interessanten Formen einer durchaus sektoralen Lese- und Schreibkompetenz, also zu einer eingeschränkten Form von Schriftlichkeit führt. Die italienische Sprachwissenschaft verwendet seit längerer Zeit für einen Teil dieser Sprecher und Schreiber in den angedeuteten kommunikativen Konstellationen, also nicht nur in der Frühen Neuzeit, generell den schönen Terminus semicolti. Auch im Spanischen hat sich inzwischen der Ausdruck semicultos zur Bezeichnung von zwar alphabetisierten, aber mit Schrift und Schriftlichkeit nicht wirklich vertrauten Schreib- und Lesekundigen durchgesetzt, bei denen eine nur rudimentäre Textproduktions- und Textrezeptionskompetenz festgestellt werden kann. Dieser bildungsferne Personenkreis ist durch eine der Mündlichkeit noch nahestehende schriftsprachliche Kompetenz charakterisiert, die linguistisch − etwas schwerfällig − als ‚nähesprachlich geprägte Schreibkompetenz’ bezeichnet wird; in Briefen, Eingaben, Beschwerden, Berichten usw. dieser semicultos können die Soll-Normen der genannten Textgattungen in Wortwahl und Stil, in Argumentation, Gliederung und Textprogression nicht eigentlich erfüllt werden. Im Vergleich zu den mehr oder minder professionellen Textproduzenten sind diese semicultos mit ihrer nähesprachlich geprägten Schreibkompetenz also durchaus als ungebildet zu betrachten. Gerade auch in der Reformationszeit, vor allem jedoch in der Neuen Welt, in Hispanoamerika, wo die europäische Schriftlichkeit bei der Eroberung und Kolonisation eine entscheidende Rolle spielte, sind diese Zusammenhänge fundamental und müssen genau unterschieden und benannt werden.

Es ist allseits bekannt, dass gerade auch die Themen ‚Bildung’ und ‚intellektuelle Fähigkeiten’ schon seit einer gewissen Zeit im Kontext der so genannten politisch korrekten Ausdrucksweise eine große Rolle spielen.

Als Beitrag zu einem hochinteressanten Kolloquium im Center for Hellenic Studies 1994 in Washington publizierte ich einen Aufsatz zum Thema „Types of Orality in Text“, der in dem von den Organisatoren des Symposiums Egbert Bakker und Ahuvia Kahane herausgegebenen Band Written Voices, Spoken Signs. Tradition, Performance, and the Epic Text 1997 erschien (Cambridge MA: Harvard University Press, S. 190-214). Die Herausgeber sahen sich aber − im Sinne der in den Vereinigten Staaten übermächtigen political correctness − gezwungen, meine Formulierung illiterate people, die ich in Absprache mit englischen Muttersprachlern und anglistischen Fachkollegen für das angedeutete Phänomen verwendete, zu beanstanden. Sie ersetzten die Stelle jeweils durch die Formulierung „people with little experience in writing“, die aber eben nur einen Teil des Bedeutungsumfangs des Begriffs semiculto enthält und damit durchaus in die Irre führt.

Inzwischen gibt es aber natürlich auch hierzulande Vertreter einer derartigen political correctness. Ich gebe nur zwei Beispiele für ‚Gutmenschen’ dieses Typs und für ihre plakative, scheinbare Menschenfreundlichkeit: Bei meiner Beschäftigung mit dem Kriminalroman Sans feu ni lieu von Fred Vargas (eigentlich Frédérique Audoin-Rouzeau), in dem ein geistig zurückgebliebener junger Mann so manipuliert wird, dass ihn die Pariser Polizei als Doppelmörder zweier junger Frauen sucht, musste ich mich auch über die verschiedenen Formen geistiger Behinderung informieren, bei der es bekanntlich, gestaffelt, leichtere bis sehr schwere Formen gibt. Umso überraschter war ich dann, als ich auf einen Aufsatz mit dem programmatischen Titel stieß „Geistigbehinderte gibt es nicht! Projektionen und Artefakte in der Geistigbehindertenpädagogik“, der sicherlich gut gemeint war und zu Recht im Umgang der Gesellschaft mit diesem Personenkreis eine größere Normalität und Flexibilität einfordert, denn unstrittig ist ja eine relative Lernfähigkeit und ein durch pädagogische Zuwendungen durchaus steigerbarer Ausbau der Verstehensleistungen dieser Personen. Dieses wichtige Anliegen aber mit einer derart kontrafaktischen Feststellung in der Überschrift eines wissenschaftlichen Fachartikels zu verbinden, ist auch dann nicht erlaubt, wenn es in der Behindertenpädagogik tatsächlich diesbezüglich gewisse Missstände geben sollte. Gerade die Sozialpädagogik, die für scheinbar politisch korrekte Formulierungen anfällig zu sein scheint, sollte bei diesen Sachzusammenhängen ihre Aussagen besonders sorgfältig formulieren.

Die neueste Sumpfblüte dieser Denkungsart ist offenbar, und natürlich sicher nicht ganz zufällig, in Berlin, unserer Bundeshauptstadt, zu besichtigen: Um den Ausdruck Person mit Migrationshintergrund zu vermeiden, hat man sich etwas Neues, scheinbar politisch Korrektes ausgedacht. Es wird dort ganz offiziell die Abkürzung ndH lanciert; es handelt sich dabei aber nicht um die Neue Deutsche Härte (NDH) − seit 1995 mit dem Rammstein-Album Herzeleid eine Spielart der Rockmusik −, sondern um ein Kürzel, das als ‚nicht deutscher Herkunft’ aufzulösen ist: „die Berliner Schülerschaft ndh“, „die in Berlin geborenen Kinder ndH“ oder „die ndH-Quote einer Schule wird auf der Homepage vermerkt“. Von hier ist es übrigens nicht weit zum durchaus ekelhaften Begriff des ‚Biodeutschen’.

Wulf Oesterreicher, März 2013