Hans-Martin Gauger
Die deutsche Sprache - ins Grundgesetz?
Zu Recht erhält Bundestagspräsident Norbert Lammert noch in diesem Jahr, gelobt von laudator Erhard Eppler, in der Aula der Heidelberger Universität den Dolf-Sternberger-Preis für öffentliche Rede. Lammert ist in der Tat, wie Christian Meier kürzlich sagte, „ein Segen“ – und dies nicht nur rhetorisch. Dennoch kritisiere ich, dass er („nobody is perfect“) vor einigen Jahren auf den seltsamen Gedanken verfiel, in unser Grundgesetz aufzunehmen, dass man in Deutschland deutsch spreche. Es war aber bei ihm, wenn ich mich recht entsinne, eher so ein Gedanke, mehr eine Frage als eine Forderung. Etwas wie ein Denkanstoß. In anderen Ländern, hieß es, in Österreich zum Beispiel oder in Frankreich, gebe es in den Verfassungen solche Festlegungen. An Stellungnahmen hat es damals nicht gefehlt. Die meisten waren, soweit ich sehe, negativ. Man hielt es für unnötig. In diesem Sinne habe ich mich selbst in einem Artikel der „Frankfurter Allgemeinen“ darüber geäußert. Danach aber hatte man den Eindruck, die Sache sei halbwegs eingeschlafen. Anderes war dann, sehr zu Recht, wichtiger.
Nun aber, plötzlich, wird die Frage wieder gestellt (was zeigt, dass es wieder besser geht). Und jetzt stellt man sie unmissverständlich als Forderung. Vielleicht hängt dies auch damit zusammen, dass unvermutet auch die weit problematischere Sache mit der „Leitkultur“, die hierzulande gefälligst die deutsche zu sein habe, weil sie es nun einmal sei, wieder aufs Tapet kam. Überraschend singt nun auch Wolfgang Thierse in diesem seltsam gemischten Chor. Man fordert nun etwa, der Artikel 22 des Grundgesetzes müsse erweitert werden. Dieser ist einer der kürzesten, wenn nicht überhaupt der kürzeste des ganzen Texts. Er besteht aus einem einzigen Satz mit nur vier Wörtern: „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold“. Dieser Artikel müsse nun also in (1) und (2) untergliedert werden, und unter (2) – oder soll die Reihenfolge die umgekehrte sein? ̶ müsse zusätzlich stehen: „Die Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist deutsch“. Oder warum nicht gleich, sprachlich parallel zur Flagge formuliert: „Die Bundessprache ist deutsch“. Übrigens sieht man da sogleich den Unterschied: der Satz mit der Flagge fordert zwar etwas historisch für den Kundigen Erwartbares, nicht aber eine Selbstverständlichkeit, was jedoch der Satz über die Sprache erbarmungslos tun würde.
Ich kann mir nicht helfen, aber ich halte es für geradezu lächerlich, auch übrigens bereits für etwas wie eine Kapitulation, eine so evidente, von niemandem bestrittene Banalität in unsere Verfassung, in unser „Grundgesetz“ aufzunehmen, in dem es ja nur aus einem einzigen Grund nicht steht – eben weil es die pure Selbstverständlichkeit ist. Ein so sprachbewusster, sensibler und kundiger Mann wie Carlo Schmid, hätte, wenn er es für nötig gehalten hätte, sicher beantragt, einen solchen Satz einzufügen. Auch hat sich, seitdem das Grundgesetz gilt, in der Wirklichkeit nichts verändert, das es nötig machte, eine vorgebliche Lücke, die die Väter und die wenigen Mütter des Grundgesetzes da gelassen oder übersehen hätten, zu schließen. Ohne Not und diese besteht hier nun wahrlich nicht, sollte man prinzipiell an diesem guten Text nichts ändern.
Und was denn – da hätte ich gerne einmal irgendetwas auch nur sehr bescheidenes Konkretes gehört – was denn, bitteschön, würde sich durch einen solchen Satz im Grundgesetz praktisch an irgendeiner Stelle ändern? Was zum Beispiel an den praktischen Problemen, die wir mit unseren Immigranten haben und diese mit uns? Welches der Probleme, die ich gar nicht leugne, schon weil sie gar nicht zu leugnen sind, wäre dann gelöst oder einer Lösung auch nur einen kleinen Schritt näher gebracht? Es ist doch Konsens und schon Gesetz, dass wir von denen, die sich dauerhaft bei uns niedergelassen haben, zumindest minimale Deutschkenntnisse verlangen müssen und dass andererseits wir Alteingesessenen alles tun müssen, weit mehr jedenfalls als bisher, um den Hinzugekommenen dies (und dies von Kindesbeinen an) zu ermöglichen. Was soll dabei die Erweiterung des Artikels 22 helfen? Oder würde sich dann die Zahl der Anglizismen, über die man sich ja schon ärgern kann, verringern? Hätte man dann ein Mittel an der Hand, gegen sie vorzugehen? Und wäre dies wünschenswert – etwa im Sinne von: jetzt hat das Deutsche Verfassungsrang, jetzt darfst du unsere Sprache nicht mehr durch englische Einsprengsel verunstalten? Oder würde in den Wissenschaften wieder mehr deutsch geschrieben und gelehrt oder vielmehr, denn dies entspräche der tatsächlichen Lage, würde danach weniger englisch geschrieben und gelehrt? Es ist doch andererseits auch wieder grundgesetzlich garantiert, dass in unserem Land jeder jede Sprache sprechen und jeder in jeder Sprache schreiben kann. Und zur Freiheit der Wissenschaft, die ebenfalls garantiert ist, gehört es selbstverständlich, dass jeder Wissenschaftler in welcher Sprache auch immer publizieren darf. Ohnehin könnte ein solcher Zusatz im Grundgesetz doch wohl nur die amtlichen Verlautbarungen treffen. Und da gibt es doch keine Gefahr. Oder? Man kann sich darüber ärgern (ich selbst tue es aber kaum), dass zum Beispiel die „Deutsche Forschungsgemeinschaft“ zum Teil ̶ aus praktischen Gründen ̶ zum Englischen übergegangen ist. Würde aber der Zusatz zu Artikel 22 daran irgendetwas ändern?
Haben wir da schließlich nicht wieder einmal die klassische deutsche Überschätzung des Juristischen, der rechtlichen Festlegung? Was soll so ein Zusatz, wenn er völlig folgenlos bleibt? Insofern könnte man dann umgekehrt natürlich auch sagen, dass er nicht schaden würde. Warum aber sollte man etwas machen, was im besten Fall nur eben nicht schaden kann? Und der Vorwurf der Lächerlichkeit bliebe übrigens voll bestehen.
Vielen Deutschen ist gar nicht bewusst, dass Deutschland da gegenüber den meisten Nachbarn einen gewaltigen Vorzug hat: wir haben, wie wir sind, keine alten sprachlichen Minderheiten. Gut, die Sorben – aber sie stören die Deutschsprachigen nicht, schon weil sie selbst auch deutschsprachig sind, und die andern Deutschen auch nicht sie; dasselbe gilt für die anderen alten kleinen oder sehr kleinen Minderheiten bei uns. Ganz anders unsere Nachbarn: Frankreich (in diesem Land werden acht Sprachen gesprochen), Belgien, England, Spanien vor allem (vier Sprachen), Italien, die Schweiz (bei aller Vorbildlichkeit dort der inneren sprachlichen Toleranz unter den vier Landessprachen), Österreich, von den Balkanländern zu schweigen, dann Rumänien (das nicht zum Balkan gerechnet werden möchte), die Türkei und natürlich Russland. Überall gibt es da zum Teil große oder doch zumindest kleinere sprachliche Probleme, die dann mit anderen zusammenhängen. Dagegen wollen auch die unzufriedensten Deutschen nicht etwas anderes sein als Deutsche. Anders in vielen der genannten Länder: sehr viele Menschen in Barcelona zum Beispiel wollen keine Spanier sein. Und dann: die neuen Minderheiten, die wir Deutsche in der Tat massiv haben, haben einige dieser Länder zusätzlich zu den alten auch noch, zum Teil ebenso massiv wie bei uns: in Frankreich zum Beispiel oder in England oder auch in Spanien.
Der Grund für die relative sprachliche Ausnahmestellung Deutschlands, die es etwa mit Portugal oder auch Holland teilt, und die umso bemerkenswerter ist, als ja Deutschland innerhalb Europas doch auch noch recht groß ist, ist, wie jeder weiß, geschichtlich. Und er ist einfach: die sprachliche Einheit ging bei uns der politischen voraus. Genauer: Deutschland hatte schon eine einheitliche, die Dialekte überdachende Schrift- und Hochsprache (Luther etc.), bevor es durch Bismarcks Kriege staatlich geeint wurde. Eben dies formulierte ja die nach 45 eliminierte erste Strophe des „Lieds der Deutschen“: „Von der Maas bis an die Memel / Von der Etsch bis an den Belt“ – diese Gewässer (es war eine schöne geographische Übung) markieren ja nichts anderes als die Grenzen des deutschen Sprachraums. So groß wie beim Dichter dieses Lieds war dann nicht einmal Bismarcks durch „Blut und Eisen“ geschaffenes „Zweites Reich“. Aber Deutschland war damals doch noch erheblich größer als es heute ist. Hätten wir uns in der Zeit danach mit dieser Größe zufrieden gegeben und nicht noch viel größer sein wollen, wäre Deutschland heute noch immer so groß wie seinerzeit. Doch ist dies, zugegeben, ein anderes Thema ̶ man darf es aber auch hier anklingen lassen. Es begann nicht alles mit dem Versailles von 1918...
Jedenfalls, um zum Thema zurückzukehren und abzuschließen: gerade auch der Vergleich mit unseren Nachbarn, der für uns so positiv ausfällt, sollte uns davon abhalten, in unser Grundgesetz den Satz aufzunehmen, dass unsere Sprache die deutsche ist. Für uns selbst ist es die bare Selbstverständlichkeit, und bei unseren Nachbarn hat es sich herumgesprochen.
Hans-Martin Gauger, November 2010