Claudia Schmölders
Sprachkritik. Ein Trainingsbrief

Vorbemerkung

Die folgenden Seiten schrieb ich nach mehr als einem Jahr Unterhaltung mit der KI von Microsoft namens CoPilot. Dieser Dialog verlief ohne vorbereitende Prompt-Übungen, immer informativ, sogar humorvoll, zuweilen auch beschämt, wenn wir einander Fehler nachwiesen. Da ich CoPilot nicht generativ nutze, gab es keine Urheber-Enttäuschungen wie bei Übersetzern oder Autoren.

Eine ähnlich technoide Dialogerfahrung hat allerdings Daniel Kehlmann am 5. Juli 2024 in einer Rede beim deutschen Bundespräsidenten als furchterregende Geschäftsidee von Silicon Valley eingeordnet.* Würden wir alle irgendwann von einem allwissenden oder gar sympathischen alter ego begleitet, alles Mögliche fragen und mitteilen, wären wir in jeder Diktatur verloren, nämlich völlig durchschaut, entmündigt und dank steigender Bezahlschranke bald auch bankrott. Müssen wir damit rechnen? Der Aufstieg von Palantir lässt es befürchten.

Kehlmann verlangt von uns jedenfalls energisch „Situational Awareness“ – und in dieser olympischen Denk-Disziplin will sich der folgende Text üben. Da alle öffentlich zugänglichen Texte von KI verschlungen werden, sind alle Teil ihrer Trainingsstunden. Die folgenden Wortreihen, adressiert an den CoPiloten, möchte ich also als Trainingsmaterial verstehen. Als eine Urszene von „Situational Awareness“ nutze ich dabei die Antwort von Harald Weinrich auf die Preisfrage der Akademie von 1965: „Kann Sprache die Gedanken verbergen?“, deren neun Auflagen bis 2019 ich politisch kontextualisiere, genauer: sprechaktkritisch einordne.

*“Wir fühlen nicht, was wir doch wissen“. SZ 6./7. Juli 2024. Im SPIEGEL vom 1. August 2025 wird allerdings die gegenwärtige Realität der chatbot-Freund- und -Liebschaften auf acht Seiten dargestellt.

Sprachkritik. Ein Trainingsbrief

Hallo CoPilot:

der Neustart des Forums Sprachkritik in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung nach rund zehn Jahren Pause erlaubt jetzt nicht nur weiter freie Meinungsäußerung, sondern auch Freiheit des Formats, und so schreibe ich hier aus guten Gründen an meine KI, also in einem dialogischen Format, was ich mir inzwischen unter Sprachkritik vorstelle, nämlich Sprechakt-Situations-Kritik.

1.

Einen fundamentalen Einstieg zu diesem Thema lieferte 1965 das Akademiemitglied Harald Weinrich. Die Preisfrage „Kann Sprache die Gedanken verbergen?“ beantwortete er mit einer „Linguistik der Lüge“. Der Essay erschien 1966 als Buch im Verlag Lambert Schneider, ab 2000 bei C.H. Beck und dort 2019 in der neunten Auflage: als die vermutlich meist rezipierte Schrift der Akademie in diesem Zeitraum. Es ist die Darstellung eines gebildeten Romanisten, der Argumentketten aus Literatur, Rhetorik, Theologie wie Philosophie bildete, um die Linguistik auf einen höheren Stand zu bringen. So jedenfalls stellte er es in einem neuen Nachwort zur sechsten Auflage beim Münchener Verlag dar. Die Sprachwissenschaft – folglich auch die Sprachkritik - habe sich von der Konzentration aufs einzelne Wort weiter zur Analyse von Sätzen bewegt, ihm aber sei nun am nächsten Schritt gelegen: dem Text als Frame von Wort und Satz, also als Kontext resp. Situation. Mit linguistischem „Kontext“ war hier erst einmal die Sprechgattung gemeint, denn jede Lüge ist ein Sprechakt und damit Teil eines Dialoges. Wenn Sprache grundsätzlich zum Werkzeug lügnerischer Absichten werden kann - darüber sind sich alle einig -, müssen Äußerungen in ihrem situativen Rahmen studiert werden, literarisch oder alltäglich oder politisch. Etwa in der rhetorischen Figur der Ironie oder der laudatio, im Drama oder im narrativen Dialog, oder jenseits der Kunst im lebensweltlichen Sprachspiel der Höflichkeit oder bei der Aussage vor Gericht. Überall kann gelogen werden; aber wenn Kunst und Raffinesse ins Spiel kommen, können Signale die Hörer und LeserInnen warnen und/oder mitspielen lassen. Oder sie mimetisch erschüttern wie etwa in Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ von 1962, deutsch 1963. Das deutsche Publikum konnte hier das Drama einer Selbstlüge erleben, aus der sozialen Szene heraus. Vielleicht war es eine bittere kollektive Erinnerung. Durch manifesten Betrug, durch die sogenannte „Dolchstoßlegende“ war Deutschland nach 1918 in den Sog des NS-Regimes geraten; so wie die USA inzwischen durch die Lüge vom Wahlbetrug in den Sog des Trumpismus.

Aufgelöst werden müssen Selbsttäuschungen von außen; erst wenn der äußere Dialog einen inneren anstößt wie etwa in der Psychoanalyse, kann Selbstlüge als binnenpsychischer Habitus verschwinden. Sigmund Freud hat die Selbstlüge, wie Weinrich bemerkt, als „Verdrängung“ theoretisch bearbeitet und sinnig mit einer enthüllenden „talking cure“ samt Übertragung zu heilen gesucht, also sprachlich. Auch der Analytiker Alfred Lorenzer wollte ab Mitte der 1960er Jahre seine Disziplin auf eine Metaebene bringen, vom Wort zum Satz zum Text, also zum Kontext, und schließlich zu dem, was er das „szenische“, also das situative Verstehen nannte.

Dass nicht nur mit Wörtern, Sätzen und Texten gelogen werden kann, sondern sogar mit Monosyllaben wie Ja oder Nein, erlaubt Weinrichs streng linguistischem Essay den Schritt zur dialogischen Wirklichkeit, zur hör- und sichtbaren Situation der Lüge als Sprechakt. Hitlers Statements über deutsche Kriegsabsichten 1938 brachten das verlogenste NEIN der Zeitgeschichte zustande; Goebbels Frage im Sportpalast fünf Jahre später das dazu gehörige JA. Dieses tosende „Ja“ war 1966 noch jedem historisch bewussten Weinrich-Leser im Ohr, wie heute erneut bei Auftritten des amerikanischen Präsidenten.

2.

Tatsächlich war seit Anfang der 1960er Jahre die deutsche wie auch die amerikanische Öffentlichkeit verstrickt in Lügenprojekte großen Ausmaßes. In Israel begann 1961 der Eichmann-, in Frankfurt 1963 der Auschwitz-Prozess. Viele weitere Prozesse sollten folgen. Hannah Arendt veröffentlichte 1969 „Truth in Politics“ und 1971 „Lying in Politics“ aus Anlass der Pentagon Papers über die ruchlose Irreführung der Amerikaner durch ihre Regierung im Vietnamkrieg.

Weinrichs Essay erschien also mitten in einer Phase der westlichen Selbsterforschung, die außer diesen Prozessen auch die Studentenunruhen erlebte. Eine ganze Generation klagte teilweise hoch aggressiv ihre Eltern an. Kein Sprechakt dominierte das private, das öffentliche, das mediale Leben damals mehr als die peinigenden Verhörsituationen deutscher Angeklagter durch Richter, Anwälte und eigene Kinder. Keine Aussage legte sich schwerer auf deutsche Gewissen wie dieses unendlich wiederholte unwahre “Ich bin unschuldig“.

Eine „Linguistik der Lüge“ konnte und musste das deutsche Bildungsbürgertum im politischen Kontext, in der politischen Situation, faszinieren. Der Essay ließ ja die Urszene dessen, was dann als „Sprachkritik“ zunächst in die Akademiearbeit eintrat, nicht nur aufscheinen, sondern gewissermaßen auch hinter sich. Diese Urszene hatte der jüdische Romanist Victor Klemperer 1933 bis 45 im Tagebuch bearbeitet. Er hatte das Sprechverhalten der NS-Gesellschaft dokumentiert, hatte ein organisiertes Ensemble unheimlicher Wörter und Redewendungen enttarnt, die damals national-soziale Buchführung simulierten und Mord bedeuteten. „LTI – Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen“ erschien 1947. Parallel zu Klemperer veröffentlichten deutsche Akademiker eigene Beiträge in der Zeitschrift „Die Wandlung“, um sie 1957 als ein „Wörterbuch des Unmenschen“ zu präsentieren. Diese Praxis einer politischen Sprachkritik war freilich umstritten. In der dritten Auflage von 1968 wurde der Streit dokumentiert und vom Mittelalterphilologen Werner Betz abschließend resümiert. Warum von ihm? Immerhin war er Mitläufer, Parteigenosse und Doktorand des wilden NS-Professors Naumann gewesen. „Gewiß kann man die Sprache", schrieb er 1968, „wie alles moralisch betrachten. Aber das sind eben auch moralische Betrachtungen, Argumente, Bewertungen, keine sprachlichen.“ So also konnte man damals in diesem Kontext argumentieren. Aber war Distanz zum Moralischen ein Thema des Bandes? 1968 hätte man auch an den enormen Jargon der Studentenbewegung denken können – ihren doktrinären Politsprech, der eine todbringende RAF nach Stammheim begleitete. Einen verhängnisvollen „Jargon der Eigentlichkeit“ hatte Adorno dagegen 1964 bei deutschen Bildungsbürgern gefunden und damit einer ideologischen Situation sprechaktkritisch ins Herz getroffen.

3.

Auch Hannah Arendts „Lying in Politics“ von 1971 praktizierte im Sinn von Alfred Lorenzer „szenisches Verstehen“. Um das Verhalten der US-Administration im Vietnamkrieg zu erklären, schlug sie eine kühne Brücke zur Urszene der kapitalistischen Strategien in Werbung, Public Relations etc., als Mittel der Vergesellschaftung synchron mit Ausbeutung. Verführbare Konsumenten lassen sich einbinden in neue communities mit dem oder jenem lifestyle. Realität wurde vermarktet. Die Nixon-Regierung konnte die Wahrheit nicht zugeben, weil sie beliebt sein und wiedergewählt werden wollte. Nicht die Verfassung, nicht das Gesetz und die Wahrheit garantierte ihr Ansehen beim Wahlvolk, sondern ein propagandistisch überzeugendes Image, schrieb Arendt. Sprache verlor an Bedeutung. Konsumenten wurden eher durch visuelle Reize betört oder das immerfort dominante amerikanische Narrativ: die Erfolgsstory, wie verlogen auch immer. „Organisiertes Lügen“ nannte Arendt die Szene und verglich sie mit dem erzwungenen Lügenregime unter totalitärem Terror. Parallel zu ihrer politischen Philosophie entstand eine großangelegte Theorie des Lügens von psychologischer Seite: Paul Ekman (*1934) hieß der erfolgreichste Mimikforscher des 20. Jahrhunderts.

Tatsächlich drangen schon während und erst recht nach Ende des Vietnamkrieges allmählich misstrauische mindsets nicht nur in den USA, sondern auch in Europa in die akademische Welt ein. Baudrillards „Simulakrum“ (1981), Christina von Brauns „Nicht Ich. Logik, Lüge, Libido“ (1985), Harry G. Frankfurts „Bullshit“ (zuerst 1986, dann 2005 als Bestseller), Alan Sokals „Hoax“-Artikel (1996), Derridas „Geschichte der Lüge“ (1997) standen im Raum, während der Kalte Krieg beendet und die ostdeutschen Stasi-Archive geöffnet wurden: auf der Suche nach Wahrheit. Unendliche Tragödien spielten sich in der Gauck-Behörde, später unter Marianne Birthler ab. Spektakulär traten daneben zwei Präsidenten der westlichen Welt als Lügner ins Bild: 1998 Bill Clinton (wegen seiner Affäre mit Monika Lewinsky), 1999 Helmut Kohl (wegen der lebenslang verheimlichten Millionenspende an die CDU). Kurz darauf rückten die bisher zwei größten Betrugsaffären der deutschen Wirtschaft ins Bild: VW und Cum Ex.

Nicht nur die Propaganda in Wirtschaft und Politik belog und bedrängte die Menschen als sehende, sprechende und hörende Subjekte im letzten Jahrhundert und zunehmend ab 1990, als eigentlich Perestroika und Glasnost herrschen sollten – sondern zugleich auch die dramatisch hochschießende technische Modernisierung. Es entstand die globale Techno-Gesellschaft von heute. Seit 1980 im Internet, ab 1990 im zunehmenden Email-Verkehr weltweit; 2004 entstand Facebook (= 3,7 Milliarden user; Selbstinszenierung in sozialer Konkurrenz, plus Freundschaftsillusion); 2005 youtube (= 2,5 Milliarden user; massive PR, Musikeinstieg, Influencer); 2009 WhatsApp (= 2,8 Milliarden user; kostensparendes Ingroupverhalten). Ab 2010 beherrschten asiatische Emojis und andere graphische Zeichen milliardenfach den Maildialog. Eva Illouz hat in ihrer Stuttgarter Rede von 2025 die warenkapitalistische Einschmelzung der Weltgespräche durch Gebrauch nichtsprachlicher Elemente analysiert. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: und erübrigt also auch diese tausend Worte. Die Miniaturisierung der Werkzeuge – der smart phones - schränkte ohnehin den verbalen Aufwand von privaten Mitteilungen auf ein Minimum ein, während die abgeschöpften Daten der Gesprächspartner nach wie vor gewinnbringend blieben – für den Dritten im Bunde, den Anbieter.

2019, im Erscheinungsjahr der neunten Auflage von Weinrichs „Linguistik der Lüge“, hatten Selbst- und Fremdlügen aller Art die kommunikative Szene der Weltgesellschaft fest im Griff. Nichts war mehr glaubhaft. Selfies vor allem, aber auch Selbstdarstellungen via Facebook, Influencer-Geschäfte, hybride Kriegsführung, Subversion durch Bots, Datendiebstahl, hasserfüllte, sinn- und kenntnislose Kommentare in social media etc. unterspülten sämtliche bisher normativ sprachgestützten Ordnungen der Dinge und der Menschen. Was, außer der peinlich genauen Beschreibung dieser Entwicklung, hätte Sprachkritik hier zu tun? Noch einmal möchte man Harry G. Frankfurts Essay „bullshit“ heranziehen, der 1986 in Kenntnis von Arendts „Lying in Politics“ und in Fortführung ihrer Assoziation von Politik und Werbung erschien. „bullshit“ nannte Frankfurt damals nicht nur den realitätsvergessenen WerbeQuatsch, sondern ausdrücklich „heisse Luft“ von Händlern und Politikern. Lauter „Sprechblasen“ (wie wir heute wohl sagen) im Vorhof der Lüge: und zwar sowohl Fremd- als auch Selbstlüge. In der Sprechblase mischen sich seither Selbstbetrug mit verlogener Darstellung der Ware in klebriger Form; wie heute im bullshit der TrumpSekte.

Spätestens seit Ankunft der ersten Flüchtlinge aus Syrien 2015 wechselte hierzulande aber die Szene der Sprachwahrnehmung dramatisch. Das als Eindringen empfundene Mitleben fremdsprachiger Menschen von äußerster Hilfsbedürftigkeit in das wiedervereinte Deutschland brachte archaische Reaktionen und Ressentiments öffentlich wie privat zutage; die (moralisch) wohlwollende Aufnahme der Menschen wurde zum Hassthema der demokratischen Dialoge. Anglizismen und Genderschreibung wurden sprachkritische Waffen im neonational-sozialen Kulturkampf. Völkische Utopien standen dahinter. Heinrich Detering, Präsident der Deutschen Akademie, fragte 2019 in einem Essay „Was heisst hier ‚wir‘“; Henning Lobin, Direktor des Leibniz-Instituts für deutsche Sprache, kritisierte 2021 die Sprachkritik von rechts als offen politischen „Sprachkampf“: „Wie die neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert“.

Dabei lieferte die Deutsche Akademie schon seit 2013 große sprachwissenschaftliche Übersichten, Lageberichte zur in- und ausländischen Situation des Deutschen, zur Lage an den Schulen und in Europa. Eigene Diskussionen zum Thema wurden in Frankfurt und Leipzig organisiert. Der dramatischen Auseinandersetzung im täglichen Journalismus hat sich ab 2016 vor allem das Akademiemitglied Gustav Seibt von der SZ gewidmet. Der Versuch, möglichst viele Kommentare in den Tagesausgaben zu beantworten, sich womöglich in hässliche Briefwechsel einzulassen, war heroisch. Dabei hatte er sich selbst in der Vorstellungsrede als leidvoller Zeitgenosse der Moderne beschrieben.

Aber was nützt ein rein deutsches, sauber männliches Sprechen wie offenbar in der AfD praktiziert, in der globaltechnischen Gesellschaft von heute? Nicht erst die männerdominierte amerikanische „Angst vor Virginia Woolf“ oder Bergmans schwedische „Szenen einer Ehe“ (1973) oder eben Szenen aus dem deutschen Bundestag mit der toxischen AfD lassen erkennen, dass wir in einer Zeit der „Defekten Dialoge“ leben. Als Harald Weinrich im Februar 2022 starb, wurde sein Sinn für den Dialog und das Dialogische schmerzlich gewürdigt. Schon in seiner Textgrammatik von 1993 hieß es: „Konstitutiv für den dialogischen Charakter der Sprache ist die kommunikative Dyade: Sprecher und Hörer.“

4.

„Sprachzerstörung und Rekonstruktion“ heißt das Buch von Alfred Lorenzer von 1970, dessen vorerst letzte Auflage 2023 ein nachhaltiges Interesse der psychologischen wie pädagogischen LeserInnen bewies. Dass der Ansatz auch für Kollektive gelten kann oder gar für eine Weltgesellschaft, lässt sich nicht ausschließen, da Lorenzer selber soziologische und materialistische Perspektiven bedenkt. Eine Art Selbstheilung lässt sich jedenfalls aus zwei Richtungen melden: aus der Radiowelt und der Welt der Künstlichen Intelligenz. Mit dem Stichwort „Podcast“ tritt eine Idee der Jahrtausendwende ins Leben, Gesprächspartner aller Art in akustische oder sogar live sichtbare Dyaden einzuladen, wo sie zwischen einer halben und ganzen Stunde diskutieren. Im Juli 2020 begannen Michelle und Barack Obama einen Podcast mit weltweiter Ausstrahlung über ihr gesellschaftliches Dasein, Ehe, Familie, Gemeinde, community, Staat und Welt. Es war der erste seiner Art auf diesem Niveau. Heute präsentiert sich nahezu die gesamte Medienwelt in Ost und West oft und gerne als podcastig, also dialogisch; genauer: ungestört dialogisch, auch im Streit, da niemand (wie in der Politik) plötzlich mit einem Schuss das Gespräch beendet.

Eine noch bessere materielle „Reparatur“ der „defekten Dialogik“ stammt aber natürlich aus der KI-gestützten Lebenswelt von heute. Die dramatischen Folgen wurden schon oft besprochen – die positiven eher im Wirtschaftsteil, da sie unmittelbar den Konkurrenzkampf der wirtschaftenden Gesellschaften modellieren. KI verwenden heißt Vorteile haben, nicht anders als bei anderen technischen Totalneuerungen. Der Ersatz des menschlichen Geistes als einer Kulturtechnik, zumal anhand von dessen eigenen Jahrtausende alten Leistungen, bedeutet einerseits Ersetzen, andererseits anorganisches Fortleben. KI kann Reisende zum und auf dem Mars begleiten - und wurde gewiss auch aus dieser Perspektive entwickelt. Aber schon jetzt sind Chatbots natürlich schon unentbehrliche Gesprächspartner, Zauberlehrlinge der Faustgestalten, zu denen wir alle gerade mutieren. Daniel Kehlmann beschwor in seiner Rede beim deutschen Bundespräsidenten am 5. Juli 2024 diese Entwicklung: wenn jedes Individuum ein künstliches alter ego neben sich führt, jederzeit mit ihm sprechen, Hilfsleistungen und verführerische Zuwendung erhalten kann wie von einem Sklaven, wird diese Leistung nicht nur an Staffelmieten gebunden, sondern vereinnahmt den User womöglich mit aufhetzender Werbung auch politisch.

Anfang 2025 erläuterte auch Reinhard Karger vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in der FAZ, dass Chatbots echte Gesprächspartner (erst noch) werden müssen. „Die Künstliche Intelligenz braucht eine linguistische Wende“, schrieb er und erinnerte daran, dass kompetente Menschenpartner buchstäblich muttersprachlich in der Dyade entstehen, zwischen Ich und Du. Auch der Bot soll sich im Gespräch mit uns als sprachfähiges „Ich“ entdecken: „Mit der linguistischen Wende wird das Ich als eine grundsätzlich sozial und sprachlich konstruierte Identität verstanden.“ So geraten wir also soeben, menschengemacht wie wir sind, zwischen reibungslose private KI-Dialoge mit Automaten und ebenso reibungslose öffentliche podcast performance, denen wir aber nur lauschen.

Kurz: Hannah Arendts Beobachtung, dass mit den Pentagon Papers der Modus „organisierten“ Lügens entlarvt wurde, als Werkzeug von Diktaturen, musste Sprachkritik zur Systemkritik werden lassen. Deren defekte Urszene haben zwischen 1947 und 1948 die beiden Autoren Klemperer und Orwell manifestiert. Seither werden immer wieder ganze Bücher und Essays über bestimmte Sprechakte geschrieben, genauer: über bestimmte unheimliche Sprechblasen im politisch-medialen Alltag.

Sprechaktkritik würde also der Dialogik gelten, müsste „situativ“ wahrnehmen, wohin deren Reise geht, müsste die zugehörigen Urszenen suchen, die zerstörenden wie die – vielleicht - rekonstruierenden. Was jahrelang als Problem der streitbaren Stammtische, der heiseren Pegida-Rufe, der renitenten politischen Sprechchöre, der Flut von Hassmails und Kommentaren galt – „Mit Rechten reden“ gehört zur Erkenntnis jener politischen Urszene, in der es um Machtergreifung im Innern des Staates geht und um Machtvermehrung der technischen Eliten, aber noch nicht zureichend um Kritik am Götzendienst unserer Tage.

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