Uwe Poerksen
Brüsselprozeß

„Bologna war ein Wirtschaftsprojekt. Wenn Bologna Brüssel geheißen hätte“, sagte der Bildungspolitiker Hans Zbinden im Mai dieses Jahres der Zeitschrift Fachhochschule Schweiz, „hätte sich die Politik von Anfang an informiert.“ Es wäre in der Schweiz vor der Umsetzung zu Folgeabschätzungen gekommen, viele Unklarheiten wären vermieden worden, die jetzige Planungsunsicherheit nicht entstanden.
Die Bolognareform, oder, wie sie bei uns zumeist hieß, der Bolognaprozeß, gehört einem Worttypus an, den Martin Walser vor Jahrzehnten als ‚einheimische Kentauren’ beschrieben hat. Kentauren sind Zusammensetzungen, deren Vorderteil anders aussieht und etwas anderes ist als das Hinterteil. Einheimische Kentauren sind in den Worten Walsers komponiert aus „Begriff und Realität“ und sie eignen sich gut „zur Einschüchterung, zur Verhetzung, zum Aufputschen“. Man benutze sie gern, wenn man nicht genau wisse, was man sagen möchte. „Also meiden wir das deutlichere Einzelwort, spannen es zusammen mit einem zweiten, dadurch verwischen wir das Gesagte, heben es ein bißchen auf; wir beschädigen die Deutlichkeit, den Umriß, aber wir potenzieren den Willensanteil, die Wucht, das Vitale, manchmal sogar die Substanz.“
Eine solche Zusammensetzung ist auch dann von Nutzen, wenn man zwar genau weiß, aber nicht genau sagen will, was man sagen möchte. Das sogenannte Grundwort dieses Kompositums ist im öffentlichen Sprachgebrauch mittlerweile ein so vager, unbestimmter Mobilmacher, daß es sich dem Gebrauchstyp einreiht, den ich als Plastikwort beschrieben habe: Prozeß suggeriert Nähe zur Wissenschaft oder Expertentum, hat positive Ausstrahlung und einen universellen Anwendungsbereich. Vorläufig inhaltsarm, ist dieser Bewegungsbegriff mit vorherrschendem Zukunftsaspekt ein Gut, dessen scheinbare Natürlichkeit einen imperativen Beiklang hat. Aufgrund seiner Inhaltsleere ist es ein flexibel anwendbares Instrument in der Hand von Experten... Daß dieses Hinterteil das näher charakterisierende, bezeichnende ‚Bestimmungswort’ Bologna erhält, ist in der Tat ein hervorragender Kunstgriff. Seriöser, vertrauenswürdiger hätte dieser Prozeß kaum daherkommen können. Bologna ist jene Stadt, in der 1119 die älteste Universität nicht nur Italiens, sondern Europas gegründet wurde.
‚Brüsselprozeß’ wäre in der Tat die treffendere Bezeichnung gewesen. Bologna war ein Wirtschaftsprojekt. Die ökonomisch zentrierte Transformation einer Institution, die für die Zeit des Prozesses nur als Unternehmen betrachtet wurde. Das zentrale Merkmal, das diese Institution auszeichnet, geriet außer Sicht. Effizienz, strategische Vereinheitlichung und Rationalisierung waren der Maßstab. Eine ausgedehnte Verwaltung, Kontrolle und Messung der Leistung das Werkzeug, die schulmäßige Vermittlung vorgeschriebener Inhalte die Methode. Es war das direkte Gegenstück zu dem Projekt, das Schleiermacher um 1800 in einem seiner schönsten Werke als ‚akademische Freiheit’ beschrieben hat.

Die Universität als Unternehmen zu betrachten, ist kein unberechtigter Gesichtspunkt. Selbstverständlich nicht, es gab dafür starke Gründe. Aber es ist ein Teilaspekt. Gerät er ins Zentrum, beschädigt er die Substanz.

Uwe Pörksen, Okober 2010