Claudia Schmölders
Freie Rede, Free Speech

Spätestens seit den Turbulenzen um Salman Rushdies Roman Satanische Verse (London 1988) ist der Modus der inquisitorisch bewehrten Gotteslästerung auf die Bühne des öffentlichen Lebens zurückgekehrt, und zwar weltweit. Inquisitorisch weltweit: da der iranische Revolutionsführer Ajatollah Chomeini als oberster Religionshüter der Schiiten im Februar 1989 die Fatwa gegen den Autor aussprach, ein Kopfgeld auf seine Tötung aussetzte, und dieses Todesurteil auf alle am Entstehen und Verbreiten des Buches Beteiligten ausdehnte. Der Fall führte zur Gründung eines Rushdie Defence Committees, das einen Aufruf mit mehr als tausend Unterschriften von Autoren verteilte; er führte zur zeitweisen Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen zwischen Iran und Großbritannien, und Übersetzer wie Verleger wurden Opfer tätlicher, ja sogar tödlicher Angriffe. Bis zum Februar 2016 und mithilfe von vierzig Staatsmedien wurde zuletzt das Kopfgeld auf fast vier Millionen Dollar erhöht, wenngleich Rushdie sich längst wieder öffentlich und weitgehend ungeschützt bewegt. Im selben Jahr 2016 meldete sich endlich auch die Schwedische Nobel-Akademie in dieser Sache zu Wort und nannte das Todesurteil eine „ernsthafte Verletzung der Freien Rede“.

„Freie Rede“ als bürgerliches Rechtsgut wird heute meist nach dem ersten Zusatz (First Amendment) der amerikanischen Verfassung definiert: „Freedoms are most in danger when the government seeks to control thought or to justify its laws for that impermissible end. The right to think is the beginning of freedom, and speech must be protected from the government because speech is the beginning of thought.” Zur Zeit von Rushdies Satanischen Versen 1988 war das gedruckte und als Buch verteilte Wort ebenso wie das auf Papier gezeichnete Bild noch Teil einer relativ überschaubaren medialen Öffentlichkeit. Aber schon die blutige Auseinandersetzung um die Serie von Karikaturen des Propheten Mohammed, die 2006 unter dem Titel „Mohammeds Gesicht“ in der dänischen Zeitschrift Jyllands Posten erschien, sowie erst recht die Morde an den Redakteuren und Zeichnern der französischen Zeitschrift Charlie Hebdo im November 2013 gehörten zu einer ganz anderen und seither immer weiter gewachsenen digitalen Verkehrsform. Im Jahr des Schwedischen Akademieurteils 2016 veröffentlichte der britische Historiker Timothy Garton Ash ein Buch über Redefreiheit. Prinzipien einer vernetzten Welt (München 2016), das der inzwischen unerhörten Komplexität des Sprechens in Wort, Bild und Ton unter den Bedingungen der digitalen Öffentlichkeit gerecht zu werden versucht. Auf einer eigenen Website (www.Freespeechdebate.com) hat er zudem bereits seit 2011 das Projekt als internationale, mehrsprachige Einführung in den Wertekanon der liberalen Gesellschaft vorgestellt, nach der Resolution 217 A der Vereinten Nationen von 1948. Artikel neunzehn lautete hier: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.“

Die Formulierung „Medien jeder Art“ ließ 1948 natürlich nicht erkennen, in welche Zukunft die technologische Entwicklung steuern würde. Folgerichtig widmet Garton Ash auf seiner Website der neuen Situation eine eigene Diagnose:

Die Meinungsfreiheit in einer vernetzten Welt
Am Anfang konnten Menschen nicht mit anderen Menschen, die außer Ruf- und Sichtweite waren, kommunizieren. Mit der Zeit lernten wir, zu zeichnen, zu schreiben und zu drucken. Wir erfanden neue Technologien wie den Telegraphen, das Telefon, das Radio und das Fernsehen. Damit weitete sich der Kreis der potentiellen Zuhörer von zehn auf zig Millionen aus. Heutzutage können wir über das Internet und mit Mobiltelefonen bis zu vier Milliarden andere Menschen erreichen. Noch nie gab es so viele Gelegenheiten, die eigene Meinung kundzutun.
Doch in unserer vernetzten Welt haben auch Kinderschänder, Morddrohungen und grobe Verletzungen der Privatsphäre mehr Spielraum als je zuvor. Deshalb müssen wir darüber sprechen, wie wir diese neu errungene Freiheit am besten nutzen können. Was sollte man nicht sagen, schreiben oder zeigen dürfen? Inwiefern sollte dies durch Gesetze bestimmt werden, und welche Rolle kann Selbstkontrolle spielen? Wer sollte über diese Fragen entscheiden?
Es geht hier nicht nur um die Möglichkeiten, die sich durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnen. Es geht auch darum, welchen Normen die Meinungsfreiheit im geopolitischen Westen (oder dem “globalen Norden”) unterliegt, und was Menschen aus dem aufsteigenden Osten und Süden fordern. In einer Welt, in der der Westen seine Vormachtstellung immer mehr verliert, gibt es keinen Zweifel daran, dass eine weltweite Debatte zwischen Menschen und Regierungen aus allen Himmelsrichtungen nötig ist. Nur wenn wir diese Debatte offen, ehrlich und gut informiert miteinander führen, können wir herausfinden, welche Normen universell gültig sind – oder es werden können – und wo lokale Unterschiede nötig und unabdingbar sind. Wir müssen über alle Grenzen hinweg miteinander sprechen und einander zuhören um herauszufinden, was wir selbst wirklich wollen. Viele von uns werden einige der Argumente hier zum ersten Mal hören. Niemand kann sich eine Meinung bilden, ohne diese Argumente zu kennen. (...)
Der Glaube an das universell gültige Versprechen der Aufklärung führt zu der Überzeugung, dass wir endlich daran arbeiten müssen, wirklich universell gültige Regeln zu finden. Ein Weg zu diesem Ziel ist der Versuch, Prinzipien aufzustellen, von denen wir glauben, dass sie für alle Menschen aus allen Nationen, Religionsgruppen und Kulturkreises gelten sollten und können, diese Prinzipien jedoch zur Diskussion stellen und bereit zu sein, sie zu revidieren, Alternativen zu finden und Kritik konstruktiv anzunehmen.“

Timothy Garton Ash bezeichnet sich selbst und ist gewiss auch ein klassischer Liberaler mit entsprechendem Idealismus. Möglicherweise wird er aber kulturpolitischen Tatsachen von heute nicht ganz gerecht. So jedenfalls könnte man denken, wenn man die Gegenseite betrachtet. Der freien Meinung und ihrer Verlautbarung in jeglichem Medium steht ja nicht nur das strafbewehrte Verbot gegenüber, sondern die individuelle Zensur, das Werkzeug der Staaten und Inquisitionen. Ein deutscher Kulturwissenschaftler, Gunnar Schmidt, äußerte sich dazu anlässlich der Akademie-Ausstellung über die Sprache, die im September 2016 im Dresdner Hygiene Museum eröffnet wurde. Im Katalog heisst es: „Eine Gesellschaft ohne Zensur ist kaum denkbar, da Kultur immer auch Zonen der Tabus und Verbote definiert. Kultur basiert auf dogmatischen Grundlagen, die das Lebewesen Mensch zum Träger von Ordnungseinschreibungen macht. (...) Zensur ist in dieser Hinsicht auch der Prüfstein für die Subjektivität, die sich an den kulturellen Regeln abarbeitet, ja, Zensur kann Subjektivität spürbar machen.“ [Sprache. Ein Lesebuch von A – Z. Hrsg. für das Deutsche Hygiene Museum und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung von Colleen M. Schmitz und Judith E. Weiss. Dresden 2016, S. 264.]

Die Perspektive der Kunst und der künstlerischen Anregung durch Zensur, ihr phantasievolles Unterlaufen, ihre Beschämung, ist ein ergiebiges Feld der „Freien Rede“, die ja nicht nur in Wort und Bild und Ton, sondern – ja sogar sehr nachhaltig – auch als Gestik erfolgen kann. Alle Varianten werden unterschiedlich diskutiert. So hat der amerikanische Ideenhistoriker Robert Darnton soeben der literarischen Zensurgeschichte ein Buch gewidmet (Die Zensoren – Wie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat, München 2016). Es gab demnach durchaus sehr intelligente Textzensoren, etwa in der DDR, die letztlich Unterdrückung und Strafen verhindern halfen, um das Buch erscheinen lassen zu können. Allerdings steht am Horizont doch immer die Gefahr der leibhaften Auslöschung des denunzierten Künstlers, sei sie staatlich motiviert, wie in China oder in Nordkorea oder heute etwa immer häufiger in der Türkei, oder aber religiös, durch unmittelbare Tötung, wie im Fall der Pariser Anschläge auf Charlie Hebdo durch fanatisierte Muslime.

Das Thema der „Freien Rede“ hat aber in den letzten Jahren durch die gigantischen Überwachungssysteme (NSA) sowie die Gegenangriffe von Hackern eine völlig neue technische und politische Größenordnung erlangt. Schon ist die mediale Aufrüstung von Regierungen in diesem „Cyberkrieg“ bis in die tägliche Publizistik eingedrungen, und sie wird fieberhaft verbessert. Umgekehrt hat das facebook-Verbot der chinesischen Regierung, auf sieben Jahre ausgelegt, inzwischen auch privatwirtschaftliche Konsequenzen. Vorwürfe gibt es jetzt auch im freien Westen. Facebook soll im US Wahlkampf von 2016 falsche Aussagen millionenfach unkontrolliert verbreitet haben. Nun entwickelt die Firma eine Art technischer Zensur, die einen „Faktencheck“ ermöglichen soll – und mit diesem neuen Zuschnitt will man den chinesischen Markt zurück erobern. Ein gigantisches Geschäft steht bevor – mit Hilfe des neuen Präsidenten Trump.

Wie ideal sieht es dagegen noch in der bildungsbürgerlichen und akademischen Subkultur aus. Timothy Garton Ash zitiert auf seiner Website die für vorbildlich gehaltene „Chicago University Declaration on Freedom of Expression“ von 2016:

„The university may restrict expression that violates the law, that falsely defames a specific individual, that constitutes a genuine threat or harassment, that unjustifiably invades substantial privacy or confidentiality interests, or that is otherwise directly incompatible with the functioning of the University.” Trotz alledem halte die Universität am Ideal einer völlig freien und offenen Diskussion fest. Wie auch immer: Hätte Robert Darnton dieses Thema bearbeitet, er hätte die einzelnen Prozesse studiert, die sich an dieser Universität in den letzten Jahren abgespielt haben müssen, die Anklagen etwa wegen sexual harassment etc., und er hätte vermutlich Unterschiede von Universität zu Universität, von Fakultät zu Fakultät, von Land zu Land festgestellt.

Wirklich dramatisch virulent geworden ist das Thema „Freie Rede“ aber im demokratischen Westen nicht nur in abgeschirmten „campus communities“ oder bei NGOs oder grün-roten Parteiungen, sondern seit den allgemeinen völkischen Wahlerfolgen, zuletzt von Donald Trump, in der Weltpolitik selber. Mit der fortwährenden Denunziation der freien Weltpresse als „Lügenpresse“ bereitet sich das Klima einer massiven Zensur von morgen vor, nicht anders als 1933. In einer Unterredung mit der New York Times am 22. November 2016 hat Donald Trump von „Lügnern im Raum“ gesprochen, während er selber nach und nach seine Wahlreden Lügen straft. Auf der Frankfurter Buchmesse 2016 hat sich ein Netzwerk „Free Speech Alliance“ gebildet und der amerikanische PEN hat inzwischen eine Art Notdienst eingerichtet: DARE, i,e. „Daily Alert on Rights and Expression“. Auch eine ganze Reihe anderer Maßnahmen sind unterwegs, so ein Massenaufruf für das Recht auf Freie Rede, sowie ein argumentativer Werkzeugkasten (toolkit) für Autoren, Rechtsanwälte und Aktivisten, die dieses bürgerliche Gut in Schulen, Universitäten, Bibliotheken und Communities verteidigen wollen; sowie eine „Sprachuhr“ (language watch), um alle Verzerrungen der Sprache durch das kommende Regime und die neuerdings herrschenden Angriffe auf die sprachliche Integrität zu registrieren und so zur deren Verteidigung beizutragen. Ein großer Protestmarsch ist für den 20. Januar 2017 geplant. – Geht es in deutschen oder in EU Ländern vergleichbar dramatisch zu? Auch hier wird überall von einer „Lügenpresse“ gesprochen; auch hier wird immer wieder geklagt, warum nicht alle Tabus – wie etwa die Holocaustleugnung – gebrochen werden können; auch hierzulande also gibt es einen Anspruch auf „Freie Rede“ von rechts. Von rechts – und von unten. Die Verrohung des Sprachstils in Internet-Kommentaren zwingt die Medien schon längst zu eigenen Zensurmaßnahmen. Wo sollen wir diese Zensur einordnen?

Claudia Schmölders, Dezember 2016