Claudia Schmölders
Gesicht zeigen!
„Gesicht zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland e.V. ist ein deutscher Verein mit Sitz in Berlin, der sich gegen Rechtsextremismus einsetzt. Der Verein ermutigt Menschen, gegen Xenophobie, Rassismus, Antisemitismus und jede Form rechter Gewalt aktiv zu werden. Ziel ist die Stärkung des gesellschaftlichen Engagements und die Sensibilisierung für jede Art von Diskriminierung.“
Mit diesen Worten wurde und wird in der Enzyklopädie „wikipedia“ ein Verein vorgestellt, den der frühere Staatssekretär und Botschafter Uwe-Karsten Heye zusammen mit Paul Spiegel und Michel Friedmann im Jahr 2000 gegründet hat. Hoch renommierte Politiker und Publizisten beteiligten sich damals; Gerhard Schröder wurde Schirmherr, und im Jahr 2009 zählte man neben 150 Einzelpersonen auch rund 150 Unternehmen, Vereine, Verbände, Städte und Gemeinden als Mitglieder.
Niemand hätte sich damals träumen lassen, dass die Formulierung „Gesicht zeigen“ etwas anderes bedeuten könnte, oder jemals anders hätte verstanden werden können, als im vorgestellten Sinn: nämlich als Aufforderung zur moralischen Standfestigkeit gegen rechtsextreme, fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Umtriebe.
In eben dieser Situation sind wir aber offenbar heute, und groteskerweise im Zeichen ausgerechnet dieser Redefigur. Mit der Einwanderung zahlreicher Muslime aus dem näheren und ferneren Orient fallen strenggläubige Frauen auf, die ihre Tracht tragen, ob Burkini, Hijab, Niqab oder Burka, nicht anders als Nonnen im Christentum oder Juden mit Schläfenlocken und Kippah. Eine wilde Diskussion beherrscht zunehmend die westliche Publizistik des Jahres 2016, und dabei geht es längst nicht mehr nur um die Frage, ob textile Marker in einer säkularen Gesellschaft verboten sein sollen, ob sie im Gegenteil vom Sog der modischen Phantasie – und damit vom Kapitalismus – erfasst und eingeschmolzen werden können, oder ob Frauen, die sich weigern, unverhüllt auf die Straße oder schwimmen zu gehen, dann eben im Haus bleiben sollen. Auffällig viele männliche Publizisten interessieren sich plötzlich für die unterdrückte Muslima, und also für die Sache der Frau, die man doch mit dieser geballten Kritik zugleich frontal angreift. Die Idee, die Imame zur Rechenschaft zu ziehen, die über die Seelsorge der Moschee die Ehepaare ideologisch beherrschen, bleibt im Hintergrund; es wäre ja Kritik an der patriarchalen Situation.
Stattdessen setzt sich als grotesk überzogene Idee durch, dass die abendländische Demokratie auf das Zeigen des physischen Gesichts eingespielt sei, dass mithin die Verschleierung des Gesichts ein Verstoß gegen diese westliche Verfassung sein müsse. Nicht nur, aber vor allem die Neue Zürcher Zeitung wollte am 30. August 2016 polemisch gegen die Burka „das entblößte Antlitz zum Fundament der Aufklärung“ erklären – als habe der Verein „Gesicht zeigen!“ oder überhaupt jeder Mensch, der diese Redewendung benutzt, jemals auf eine Nudität Bezug genommen.
Dieses Missverständnis hat aber in der Tat in der Schweiz einen ihrer zentralen Ursprünge. Johann Kaspar Lavater, der Zürcher Pfarrer, brachte um 1800 mit seinen monumentalen Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe einen radikalen Analogismus sozialer Interaktion ins Spiel. Nicht den sozialen Status sollte man am Phänotypus erkennen, sondern die Nähe des Menschen zu Gott, als dessen Urbild, zugleich aber auch die charakterliche Disposition im säkularen Umfeld. Lavater wurde berühmt für diese schneidend widersprüchliche Lehre von der „Menschenkenntnis“: einerseits mit Anschluss an romantische Verklärung, andererseits an naturwissenschaftliche Markierung des Individuums. Nicht verwunderlich planierte seine Theorie das Feld der Gesichtserkennung in medizinischer wie polizeilicher Hinsicht, und inspirierte zugleich den Bildakt der Beseelung von Landschaft und Malerei, wie etwa bei Carl Gustav Carus.
Lavaters Physiognomik drang tief in die Psychologie der Freimaurer und Illuminaten ein; die Ideengeschichte der sogenannten „Menschenkenntnis“ ist ohne sie nicht zu denken. Auch wenn „Physiognomik“ im strengen Sinne die Deutung des ganzen Körpers in Ruhe und Bewegung einschließlich der Stimme bedeutet, ist Gesichtslesekunst ihr Zentrum geblieben und als narratives Sternbild in die gesamte europäische Literatur eingegangen: Tolstoi, Balzac, James, Wilde, Joseph Roth, Thomas und Heinrich Mann, um nur einige zu nennen. Sprachverwandt mit den visuellen Künsten von Malerei und Fotografie und Film, ist die Kunst der Gesichtslektüre also gerade nicht Fundament der Aufklärung, sondern der Metamorphose. Und bipolar in diesem Sinne ist sie noch heute. Während die kriminalistischen Digitalprogramme der Gesichtserkennung immer subtiler werden, wachsen die Strategien der Manipulation ins Unendliche, teils durch Bearbeitung der visuellen Artefakte, teils aber schon durch ästhetische Chirurgie.
Der Hang zur Tilgung metaphorischer Distanz hat allerdings eine intellektuelle Vorgeschichte in dem, was man seit biblischer Zeit als Heilsgeschichte kultiviert hat. Karl Marx sah das irdische Paradies im literalen Sinn Wirklichkeit werden, viele Hitler-Anhänger glaubten an eine Auferstehung von Barbarossa aus dem Untersberg. Vor allem aber der vielfach beschriebene „Gesichtsverlust“ der deutschen Nation in den Versailler Verträgen motivierte die eugenische Obsession der NS-Diktatur. Das Gesicht als physische Kategorie zerstampfte das reiche, metaphorische Wortfeld. Heute stehen wir sowohl im Christentum als auch im Islam vor einem Erstarken der Creationisten, die jede metaphorische Distanz, jede hermeneutische Vielfalt göttlicher Rede tilgen wollen, um den Preis realer Dummheit.
Aber seltsam. Ein Wort wie „Facebook“ wird heute von niemandem auf Anhieb physisch und in wörtlicher Übersetzung verstanden, als „Gesichtsbuch“ nämlich. In Wahrheit entwickelt sich dieses soziale Medium zu einem „Image“-Buch unter „Freunden“, meint also – optimierende - Arbeit am Selbstbild. Und eben um dieses moralische Selbstbild, und um keine irgendwo erzwungene oder erstrebte Blöße, geht es bildungsreichen, intelligenten Sprechern der Wendung vom „Gesicht zeigen“.
Claudia Schmölders, September 2016