Wulf Oesterreicher
Güterabwägung und Folgenabschätzung
Im Universitätsviertel am Eingang der Münchner Schellingstrasse, gegenüber der Ludwigskirche, war bisher direkt bei den Instituten für Romanische, Englische und Deutsche Philologie sowie den Instituten für Volkskunde und Theaterwissenschaft die nicht nur auf die Geisteswissenschaften spezialisierte Universitätsbuchhandlung Frank anzutreffen, die auch die Librairie Française betrieb. Diese Buchhandlung, deren thematisch hervorragend zusammengestellte, immer wechselnde sechs Schaufester und weitere vier Vitrinen an der Außenmauer die Neuerscheinungen, bestimmte Forschungsgebiete und die Semesterliteratur zeigten, war sehr gut geführt. Sie besaß sehr kompetente und motivierte Buchhändler, die einem jeden Bücherwunsch, auch den Wunsch nach eingehender Beratung, erfüllen konnten.
Dieses Juwel einer Buchhandlung musste vor einigen Tagen Insolvenz anmelden und ist seitdem geschlossen (von den drei angeblichen Kaufinteressenten war am Ende nichts mehr zu hören). Ich muss gestehen, dass ich von dem ‚Aus’ dieser Buchhandlung völlig überrascht wurde und es mich fassungslos machte – denn wo, wenn nicht in diesem Umfeld, so dachte ich, geht es einer guten Buchhandlung gut!
Hier möchte ich die Gedankenlosigkeit und Kurzsichtigkeit von Studierenden und Kollegen kritisieren, die das Informationspotenzial der Buchhandlung gerne nutzten, den Bücherkauf aber unterließen: Wir wissen ja, es wird gescannt, kopiert, im Netz heruntergeladen oder die Ware ‚Buch’ wird bei Amazon nachgefragt und teilweise billig erworben... Auch der Konsument im akademischen Bereich sucht ohne Rücksicht auf Verluste, die in einer Folgenabschätzung deutlich würden, seinen persönlichen Vorteil − es handelt sich also, wenn überhaupt nachgedacht wird, um eine sehr egoistische Güterabwägung.
Am Beispiel der Buchhandlung möchte ich eine allgemeinere Überlegung anstellen, bei der es im Grunde um eine eigentlich einfache ‚wenn-dann’-Rechnung geht: Wenn eine Buchhandlung keinen ausreichenden Umsatz macht, dann geht sie in die Insolvenz oder aber Wenn ich Insolvenzen bei Buchhandlungen vermeiden will, dann muss ich im Buchhandel kaufen. Dafür haben wir im Deutschen die schönen Wörter ‚Güterabwägung’ und ‚Folgenabschätzung’, die übrigens sehr schwer in unsere Nachbarsprachen Englisch, Französisch oder Italienisch übersetzt werden können.
Ich erinnere mich gern daran, dass wir uns als umweltbewusste und auch mit ökonomischen Zusammenhängen vertraute Studierende in Tübingen einer Maxime verpflichtet gefühlt und diese auch möglichst befolgt haben: Jeder Kauf eines Produkts ist eine Ermunterung für den Verkäufer und Hersteller, er ist immer auch die Förderung einer Produktions- und Distributionsform mit allen ihren Aspekten, also eine Aufforderung, so weiter zu machen.
Natürlich waren in diesem Kontext auch Freunde wichtig, wie der niedersächsische Bauernsohn Jens, der uns schon früh mit der Feststellung überraschte: „Ich esse doch kein Schweinefleisch aus dem Supermarkt! Ich weiß doch, wie dieses schlechte Fleisch hergestellt wird, wie viel Antibiotika es enthält und wie es in der Pfanne Wasser zieht“.
Auch erinnere ich mich noch genau an die Goldgräberstimmung nach der deutschen Einigung, wo betuchte Kommilitonen, die teilweise durchaus die Armut und Ungerechtigkeit in der Dritten Welt im Munde führten, unter unseren befremdeten Blicken teilweise begeistert von eigenen oder elterlichen Investitionen in Immobilien ‚im Osten’ sprachen, bei denen über 15% Rendite erwartet werden konnten. Schon damals war uns klar, dass solche Renditen nicht seriös zustande kommen können, sondern windige Firmen, Konsortien und beteiligte Spekulanten letztlich auf dem Rücken von schwächeren Dritten bei uns oder anderswo ihre Geschäfte machten.
Die Insolvenz der Buchhandlung Frank erinnerte mich – als Schwarzwälder – schließlich an die kleine Feldberggemeinde Falkau: Ein kleiner Laden im Zentrum des Dorfes war nicht nur für die Älteren ein Treffpunkt mit freundlichen Gesprächen und Alltagskontakten; dann aber fuhren plötzlich fast alle einmal in der Woche zum Kolossa nach Neustadt zum Großeinkauf; im Tante Emma-Laden wurde nur noch die Flasche Milch, die Hefe, der Uhu oder ein Bindfaden gekauft, die man im Supermarkt vergessen hatte. Als der kleine Laden schließen musste, war das Geschrei natürlich groß; vor allem die älteren Dorfbewohner, die nur selten Autofahrer waren, sahen sich jetzt eines Teils ihrer traditionellen Kommunikationsmöglichkeiten beraubt und noch stärker auf die Hilfe der Nachbarn und Verwandten angewiesen.
Ich möchte dafür plädieren, die Begriffe Güterabwägung und Folgenabschätzung (letzterer wird bezeichnenderweise, aber zu unrecht, eigentlich nur mit Technik-Folgenabschätzung identifiziert), so normal werden zu lassen, dass diese Wörter uns bei allen Entscheidungen in unserer Alltäglichkeit und unseren persönlichen Lebenszusammenhängen immer begleiten können. Wer also die Verpackungsorgien der Supermärkte (inzwischen auch bei Bio-Produkten!) nicht mehr tolerieren will, sollte sich um die regional teilweise gut ausgebaute Lieferung einer Bio-Kiste für Gemüse und Obst kümmern. Auch der schon angesprochene Fleischkonsum ist hier ein wichtiges Thema. Auf die Verkehrsmittel-Optionen − Privatauto, Fahrgemeinschaft, öffentliche Verkehrsmittel, Roller oder Fahrrad − brauche ich hier nicht einzugehen, da diese Diskussion ja erfreulicherweise allgegenwärtig ist. Aber auch die Diskussion um den Strom- und Wasserverbrauch gehört hierher.
Und um nochmals auf einen Aspekt der Insolvenz der Universitätsbuchhandlung Frank zurückzukommen: Auch die sehr bequemen Internetbestellungen, die von DHL, Hermes oder ups zu den unmöglichsten Tageszeiten geliefert werden und dann in der Regel bei Nachbarn hinterlegt werden müssen, weil die Empfänger berufstätig sind, sollten auf ihre Folgen für Sozialkontakte und den Handel vor Ort, nicht nur bei den kleinen Buchhandlungen, überdacht werden.
Also: Eine richtige Güterabwägung impliziert eine Folgenabschätzung, und die in diesen Wörtern angedeutete Aufforderung zu einer rationalen Sachbeurteilung sollte verstärkt auch in unseren Sprachgebrauch Eingang finden.
Wulf Oesterreicher, März 2013