Hans-Martin Gauger
Hingerichtet (Nachtrag)
> zum ersten Artikel „Hingerichtet“
Zu dem, was ich unter dem mir ziemlich unangenehmen Stichwort Hingerichtet geschrieben habe, sagte mir mein Freund Daniel Jacob, romanistischer Sprachwissenschaftler in Freiburg (er war dort einmal mein Assistent): „Das kriegst du nicht wieder raus!“. Er meinte, dass es mir nicht gelingen werde, den von mir beanstandeten Gebrauch von hinrichten im gängigen Sprachgebrauch zum Verschwinden zu bringen, und damit implizierte er zugleich (insofern war sein Einwurf sehr prinzipiell), dass man schon aus diesem Grund solche Beanstandungen, eben weil sie unnütz seien, unterlassen sollte.
Da stoßen wir wieder auf das Motiv ‚Sprachwissenschaft beschreibt und erklärt, aber sie wertet nicht’ (dazu meine Glosse „Die Sprachwissenschaft wertet nicht – oder etwa doch?“) Und natürlich will sie, schon weil dies kaum geht, den Sprachgebrauch auch nicht verändern. Zu diesem Einwand Jacobs sage ich: Ja, das ist so, das Ziel, auch nur die Medien dazu zu bringen, ihren Sprachgebrauch zu ändern, wäre vermessen, obwohl es schön wäre, wenn man diesen punktuell, dort wo er einen massiv stört, verändern könnte – den Sprachgebrauch und also schließlich im betreffenden Punkt die Sprache selbst, denn eine Sprache ist ja nichts anderes als das Kondensat (im Kopf der Sprechenden) des Gebrauchs, der von ihr gemacht wird. Deshalb übrigens ist es unsinnig, Sprache und Gebrauch, der von ihr gemacht wird, völlig zu trennen.
Es ist also nicht oder kaum möglich, den Sprachgebrauch zu ändern. Dies ist das eine, das andere aber ist, dass Sprachkritik, die natürlich den Sprachgebrauch hinterfragt, sich letztlich nur an den Einzelnen richten kann. Und da gelingt es hin und wieder schon, den einen oder anderen zu überzeugen, so dass er den kritisierten Gebrauch unterlässt. Und jedenfalls kann der Einzelne bestimmte Dinge einfach nicht mitmachen. Herbert Pilch, ein Freiburger Kollege von mir, schrieb einst einen Aufsatz mit dem schönen, sich an Luther anlehnenden Titel „Von der Freiheit eines Sprechers“. Gut, nebenbei, der Titel mit dem generischen Maskulinum an dieser Stelle ginge heute nicht wenigen nicht mehr so ungehindert in den Laptop wie seinerzeit in die Schreibmaschine (Luther sprach ja auch geschlechtsneutral von der „Freiheit eines „Christenmenschen“). Aber, davon abgesehen, genau so ist es – jede und jeder kann sagen: ‚Also, ich sage – und vor allem ich schreibe – das nicht’. Ich insistiere auf dem Schreiben, weil das Schreiben ja zunächst einmal (jedenfalls in aller Regel) ein „genaueres Sprechen“ ist (so sagte es einmal schlicht, aber zutreffend Gerhard Storz): das Schreiben ist genauer, anspruchsvoller, bewusster. Man muss auch sprachlich nicht alles mitmachen. Hier gilt ein Wort aus dem Evangelium, das dem Vater von Joachim Fest (dieser erzählt davon bewegt und bewegend in seinen Erinnerungen mit dem Titel „Ich nicht“) im Blick auf die Nazis so wichtig war: „Und auch wenn alle es machen, ich mache es nicht“ oder in lateinischer Knappheit (so sollten die Söhne es sich notieren): „Etsi omnes – ego non“ („Auch wenn alle, ich nicht“ wäre deutsch doch wohl ziemlich an der Grenze des Möglichen; übrigens ist die Formulierung im Matthäusevangelium, 26.33, nicht so knapp). Keiner also muss im Blick auf bestimmte Wörter und Wendungen und auch im Blick auf Grammatisches so reden und schreiben wie alle. Und ist dies nicht wirklich für den Einzelnen eine große Sache?
Ich zum Beispiel schreibe nie, weil ich es als falsch empfinde, ‚Er sagte, er verstünde das nicht’, sondern ‚Er sagte, er verstehe das nicht’, und da bin ich ja auch nicht der einzige. Als Sprachwissenschaftler würde ich nicht behaupten, es sei falsch zu sagen ‚er verstünde das nicht’. Dafür ist diese Verwendung des „Konjunktivs 2“ viel zu verbreitet und zwar auch bei ‚guten Autoren’. Es kommt hier zudem etwas Regionales herein, und es darf hier auch hereinkommen – süddeutsch ist der „Konjunktiv 1“ ungleich häufiger. Ich sehe nicht ein, weshalb ich als Süddeutscher, der ich diesen Konjunktiv lebendig in mir habe, norddeutsch reden soll. Für mich ist der Schwund des „Konjunktivs 1“ was er tatsächlich ist: eine (semantische) Verarmung. Ich nehme mir also für mich die Freiheit, ‚verstünde’ so nicht zu gebrauchen, weil ich es (für mich) für falsch halte. Auf dieser Freiheit beruht das Recht der Sprachkritik prinzipiell. Insofern geht der Einwand ‚Da kann man nichts machen’ ins Leere. Beim eigenen Reden und Schreiben kann man sehr wohl etwas machen! Daniel Jacobs Meinung entspringt einer „professionellen Deformation“, nämlich der normalen des Sprachwissenschaftlers. Andererseits zeugt sie von Realismus, an dem auch ich natürlich nichts auszusetzen habe. Vielmehr: ich partizipiere an ihm. Nur den eigenen Sprachgebrauch hat man ganz in der Hand.
Nun aber etwas anderes, was ich Daniel Jacob auch entgegenhalten kann. In der Zwischenzeit habe ich nämlich festgestellt, dass der von mir beanstandete Gebrauch von hingerichtet („Sie haben diese Männer förmlich hingerichtet“), wie mir scheint, plötzlich stark zurückgegangen ist. Die Leute in den Medien, „die öffentlich Meinenden“, haben da offenbar von sich aus etwas gemerkt, nämlich dass das mit dem so gemeinten ‚hinrichten’ eigentlich nicht geht. Übrigens: „die öffentlich Meinenden“ – ein hübscher Ausdruck von Nietzsche: die allermeisten können ja nur privat meinen, und also ist „öffentlich meinen“ zu können ein enormes Privileg. Jedesmal wenn ich die Kritik eines Konzerts lese, bei dem ich dabei war, empfinde ich dies ziemlich stark ...
Eine dpa-Meldung berichtete im Januar 2015: „Der jordanische Pilot Muas al-Kasaba ... ist offenbar bestialisch hingerichtet worden“. In „Spiegel-Online“ war dann aber von „Tötung“ und „Ermordung“ die Rede. So auch in der „Süddeutschen“, wo freilich auch noch einmal „hinrichten“ vorkam. In den „FAZ-Nachrichten vom 24.01.15 hieß es: „Terrorgruppe tötet japanische Geisel. In einem Video behauptet die Terrormiliz ‚Islamischer Staat’, eine ihrer beiden japanischen Geiseln ermordet zu haben“. Und am 9. April 2015 hieß es in einer Gedenksendung des Deutschlandfunks: „Heute vor siebzig Jahren wurde der Theologe Dietrich Bonhoeffer ermordet“. Genau so ist es richtig, obwohl es da zum Schluss noch etwas wie ein SS-Standgericht gab. Ganz unwichtig ist es sicher nicht, wie man sich da ausdrückt. Offenbar hat, wenn der Wikipedia-Artikel über Bonhoeffer Recht hat, 1956 der Bundesgerichtshof dekretiert, dieses SS-Standgericht habe hier ein „ordnungsgemäßes Verfahren“ durchgeführt, und er hat damit eine Entscheidung von 1952 eines anderen Senats des Bundesgerichtshofs korrigiert, der hier von einem „Scheinverfahren“ gesprochen hatte. Die SS-Leute hätten eben nach damaligem Recht geurteilt ... Nein, Bonhoeffer wurde ermordet, und dasselbe gilt für Sophie und Hans Scholl und Christoph Probst über zwei Jahre früher, am 22. Februar 1943. Hier von „Hinrichtung“ zu reden, ist eine Verbeugung vor Freisler, der übrigens damals eigens aus Berlin nach München gekommen war, um den „Prozess“ ordnungsgemäß zu leiten. Aber noch einmal: auch hier, ob nun „ermordet“ oder „hingerichtet“, gibt es „die Freiheit eines Sprechers“. Ich nehme mir die Freiheit, auch im Fall der Geschwister Scholl und Christoph Probst und auch in dem von Dietrich Bonhoeffer von ‚Ermordung’ zu reden.
Hans-Martin Gauger, Juni 2015