Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Arnold Stadler

Writer
Born 9/4/1954
Member since 1998

... dessen Bücher, indem sie das Gruseln lehren, jenen Ernst bezeugen, ohne den die Komik keinen Grund hätte.

Jury members
Juryvorsitz: Christian Meier
Peter Hamm, Harald Hartung, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Klaus Reichert, Lea Ritter-Santini, außerdem Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst)

Laudatory Address by Peter Hamm
Writer and Critic, born 1937

Arnold Stadler oder Das übermütig vertuschte Unglück

Eigentlich ist nichts zum Lachen. Eigentlich ist alles zum Lachen. Zwei Sätze, die nur scheinbar Gegensätze sind, haben sie doch dieselbe Herkunft, nämlich aus der Verzweiflung. Notwehr gegen die Verzweiflung, wie Kunst sie seit jeher leistet, kann in eine Komik münden, der man ihre Herkunft kaum mehr ansieht. So meinte Stendhal bei der Lektüre des Don Quijote, er müsse »sterben vor Lachen«, für Dostojewskij aber, der sich vom eigenen Lachen nicht täuschen ließ, war derselbe Don Quijote »das traurigste aller Bücher, die menschlicher Geist je hervorbrachte«, ein Buch, geeignet für die Mitnahme zum Tag des Jüngsten Gerichts. Daß jede Hoffnung, der Verzweiflung dauerhaft Widerpart bieten zu können, bestraft wird, spätestens vom Tod, diese Gewißheit hat Arnold Stadler nicht nur die Wortfügung »Hoffnungsschmerz« eingegeben, sondern auch einen Satz wie diesen: »Ich war schon ganz verzweifelt, weil ich immer noch so viel Hoffnung hatte.«
Arnold Stadlers Bücher sind zum Lachen. Aber das Lachen, das sie auslösen, enthält stets schon sein eigenes Dementi. Diese Bücher, deren Protagonisten die Welt unter einem Don-Quijote-Blickwinkel und öfter noch unter einem Sancho-Pansa-Blickwinkel wahrnehmen und denen das Leben immer zugleich zu wenig und zu viel ist, sind urkomisch – vielleicht sollte ich besser sagen: saukomisch – und zugleich todtraurig. Unglück: so lautete das allererste Wort der Rede, mit der Arnold Stadler sich 1998 als neues Mitglied dieser Akademie vorstellte; im Unglück gründen seine Bücher, Unglück ist ihr Nährboden. »Es gab«, wie es im Stadler-Roman Feuerland heißt, »nur frühere und spätere Katastrophen.«
Samuel Beckett hat einmal geäußert, nichts sei komischer als das Unglück. Die Unglücklichen selbst finden sich allerdings kaum komisch, sie schämen sich vielmehr ihres Unglücks, vermehren es aber noch, indem sie es zu vertuschen versuchen. Doch sind es gerade diese Vertuschungsversuche, die das Unglück komisch erscheinen lassen. Vom »vertuschten Unglück« ist oft die Rede in Arnold Stadlers Büchern; einer seiner Ich-Erzähler bekennt sogar: »Ich selbst rechnete mich zum Segment vertuschtes Unglück.« Doch diese Bücher zeigen zugleich auch, daß das erzählende Ich selbst in der Lage ist – und zwar eben nur durch das Medium des Erzählens und nur für die Dauer des Erzählens in der Lage ist –, der Komik des eigenen vertuschten Unglücks gewahr zu werden und dieses dadurch zumindest zu mildern. Solche Schmerzminimalisierung mittels Erzählen kann bei Stadler in einem Erzählton erfolgen, bei dem Unglück von Übermut fast nicht unterscheidbar ist; so etwa wenn einer, dessen Unglück in seinem Alleinsein liegt, davon so erzählt: »Im Supermarkt kaufe ich zwei Schnitzel, um zu vertuschen, daß ich allein am Tisch sitze; und auch mir selbst gegenüber vertusche ich es, indem ich beide Schnitzel esse.«
Dem Unglück mit Übermut begegnen! So könnte geradezu ein Paragraph des Stadlerschen Schreibgesetzes lauten. Und wem fällt dabei nicht Robert Walser ein, der dieses Verfahren so virtuos wie keiner vor oder nach ihm praktizierte. Als Robert Walsers Kunst der »Vernünftigsprechung von Übeln« hat sein Namensvetter Martin Walser dies gerühmt; Robert Walser habe es verstanden – so Martin Walser –, das Schlimmste stets als das für ihn Beste auszugeben, »denn vom Schlimmsten aus schaut man nur noch dem Besseren entgegen«. Solche Vernünftigsprechung von Übeln betreibt auch Arnold Stadler, dem frühes katholisches Training dabei zugute kommt. Am übermütigsten zeigt sich das vielleicht in dem pseudotheologischen Traktat vom Haifisch als Gottesbeweis, der im Roman Feuerland zu der erstaunlichen Erkenntnis führt: »Daß du gefressen wirst, offenbart, daß es etwas Höheres gibt als dich.«
Wie schwer Arnold Stadlers Übermut erkauft wurde und wie leicht Stadler schon sehr früh hätte von Verhältnissen aufgefressen werden können, deren Fatalität in seiner Umgebung gern als Vorbedingung eines Höheren – einer jenseitigen Glückseligkeit – verklärt wurde, zeigt ein Blick dorthin, wohin auch alle Stadlerschen Ich-Erzähler immer wieder zwanghaft zurückblicken, nämlich in das »Hinterland des Schmerzes«, wie Stadler jenes oberschwäbische Hochland zwischen Donau und Bodensee benannt hat, wo er seine Kindheit und Jugend erlebte und erlitt und darüber zum Dichter wurde. Dichter wird man als Kind.
Dieses Kindheitsgelände ist kein Wein-, sondern ein Most- und Schnapsland, das allen Glanz und Reichtum in seinen Barockkirchen, Barockklöstern und Barockschlössern hortet. Doch hat der herrschende Katholizismus den Menschen hier kein barockes Lebensgefühl beschert, er wirkt vielmehr wie angesteckt vom schwäbischen Pietismus und dessen als Überordentlichkeit maskierter Angst, die hinter jedem Verlangen nach Schönheit Hoffart wittert. In diesem Ora-et-labora-Land wurde Arnold Stadler als – wie er sich selbst bezeichnet – Nachkomme einer »bedeutenden Ferkelhändlerdynastie« 1954 geboren, und hier wuchs er in der Nähe von Meßkirch auf einem Hof auf, der seit 1609 in der Familie war, dessen Zwangsversteigerung er aber später mitansehen mußte.
Arnold Stadlers erstes, 1989 erschienenes Buch trägt den Titel Ich war einmal, ein Titel, der ein trauriges Märchen signalisiert, einen Nachruf zu Lebzeiten. Dieses Debütbuch, das weithin noch bittere, manchmal bitterböse, dann aber doch auch wieder begütigende Beschwörung einer Kindheit ist und das Klage und Komik noch nicht so übermütig wie später in eines zwingt, zeigt das Kindheitsgelände als nahezu lichtlos, die Heimat als fundamentale Heimatlosigkeit. »Unsere Heimat war immer schwarz, auch im Sommer«, schreibt der junge Autor, dem der Leser aber sofort glaubt, daß er Schwarz nicht als Modefarbe trägt. »Das Frühjahr war so spät bei uns, daß es immer erst im nächsten Jahr blühte«: dieser Satz stammt aus einem späteren Stadler-Buch, aber er kennzeichnet genau die poetische Frequenz, auf die Stadlers unglückliches Bewußtsein in diesem Erstling gestimmt ist.
Die Erwartung dieses Kindes ist generell zu groß für jede Art von Erfüllung, es wird ihm, auch wenn es einmal kein Kind mehr ist, immer zu spät blühen. Aber eben darum wird sich auch der Erwachsene immer seine Kindlichkeit – also die Voraussetzung für jedes Künstlertum – bewahren. Natürlich wächst die Erwartung des Kindes deshalb so ins Extreme, weil die Realität, der es sich ausgesetzt sieht, so extrem eng und angstbesetzt ist, drückt sich Liebe hier doch vorzugsweise in der Form der Bestrafung aus und wird Ohnmacht in Selbsthaß kanalisiert, der wiederum Suizidwünsche begünstigt; das Stadlersche Kind beneidet jene Erwachsenen, die es schafften, ihrem Leben selbst ein Ende zu machen. »Ich liebe Schläge, wenn sie von oben kommen, wurde mir eingeredet«: so erinnert sich der erwachsene Erzähler. Da ist es nicht verwunderlich, daß das Kind, das er einmal war, ganz ähnlich wie vor über 200 Jahren schon das Kind Anton Reiser, dem die aus seiner Enge erwachsenen »Leiden der Einbildungskraft« ebenfalls die Kindheit schwärzten und der lieber als Tier fortzuleben wünschte, Wärme im Animalischen sucht, bei den Tieren. Selbst noch der Gymnasiast, der täglich in »die Stadt« fährt, »wie Meßkirch in Meßkirch heißt«, wäre lieber bei seinen Schweinen auf dem elterlichen Hof als bei seinen Mitschülern. Die Tiere gehören im Titel des dritten Stadler-Buches Mein Hund, meine Sau, mein Leben dann gewissermaßen zur Identitäts-Ausstattung dieses Autors.
Wie entsetzlich eng sich Lebensgeschichtliches und Geschichtliches in dieser Kindheit durchdringen, in der die Erwachsenen die Jahre nach 1945 meinen, wenn sie von den schlimmen Jahren reden, erhellt Arnold Stadler mit der Nennung eines einzigen Namens, dem Namen jenes Landmaschinen-Herstellers, der auf allen Maschinen und Wagen prangt, mit denen das Bauernkind täglich zu tun hat: Mengele. Dieser fluchbeladene Name drängt sich in jedes Stadler-Buch, und er fiel übrigens auch bereits im dritten Satz jener eingangs erwähnten Akademie-Vorstellungsrede Stadlers, in der er an die Polen und Russen erinnerte, die wenige Jahre vor ihm auf den Feldern gearbeitet hatten, wo sie dann durch Mengele-Maschinen ersetzt wurden.
Jede Enge provoziert Fluchtträume. Der »liebste Aufenthaltsort« des Kindes ist, wie der Ich-war-einmal-Erzähler verrät, der Atlas, in dem sich auch jenes Feuerland findet, wohin so viele Verwandte, die nur noch in den Erinnerungen der Erwachsenen existieren, ausgewandert sind; der Erzähler des zweiten Stadler-Romans Feuerland wird ihren Spuren nachgehen, dabei aber stets wieder auf die eigene Herkunftsenge zurückverwiesen werden. Aus dieser Welt, aus der zu seiner Kinderzeit allenfalls Wallfahrten oder Kirchenchor-Ausflüge hinausführten, führen freilich auch die frommen Träume heraus, die Erlösungsträume. Das Kind will, um das Entfernteste, also das Schönste, also den Himmel zu erobern, ein Heiliger werden – und es will, da es sich selbst so unerlöst fühlt, die ganze Welt erlösen. Doch dazu muß es diese erst zum rechten Glauben bekehren. Anton Reiser, der Protestant, wollte nur »ein großer Prediger« werden, dieses katholische Kind aber will Papst werden. Noch der Halbwüchsige wird dann Mao Tse-tung bekehren wollen, was allerdings schon daran scheitert, daß die Mao-Bibel, die es zu widerlegen gilt, in Meßkirchs Buchhandlung nicht zu bekommen ist.
Später, wenn das Ich-war-einmal-Kind schon keines mehr ist, wird es von seinem Helfer- und Erlösersyndrom dennoch nicht loskommen und sich im Kibbuz, bei der Kriegsgräberfürsorge, der Bahnhofsmission oder der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger zu verdingen suchen (wobei letzteres für einen Nichtschwimmer besonders übermütig wirkt). Und noch später – jetzt sind wir bereits im dritten Stadler-Roman Mein Hund, meine Sau, mein Leben (und zwar in dem »Don Quijote und ich« überschriebenen Kapitel) – wird der kindlich gebliebene junge Mann, der inzwischen Theologie am Päpstlichen Kollegium in Rom studiert, sich aber dennoch unerlöst fühlt, seine Rettung noch immer im Erretten suchen; nun will er die alleinseligmachende Kirche vor der englischen Königin, der Papula – der Gegenpäpstin – retten, indem er diese zur Ablegung des ihr einst zwar von Rom verliehenen, aber längst aberkannten Titels »Defenso fidei« zu zwingen versucht. Zu diesem frommen Zwecke plant er als Knappe des »armen Schweins« Franz Sales Obernosterer, womit ein seinem ebenso schwachen wie fetten Fleisch hilflos ausgelieferter Titularbischof und Satanologe gemeint ist, die Entführung der Königin von ihrem Sommersitz in Balmoral; ein Unternehmen, das naturgemäß zum Scheitern verurteilt ist, wiewohl es pedantisch genau vorbereitet wurde, u. a. mit der Beschaffung preisgünstiger Schnurrollen bei Raiffeisen in Meßkirch (in Rom findet man als Fesselmaterial offenbar bloß Schund).
In Rom aber findet dieser wegen angeblicher Epilepsie-Neigung für untauglich befundene Theologe schließlich zur Erkenntnis, daß er selbst es ist, der seiner Errettung und Erlösung im Wege steht: »Ich sah, daß ich, um mich zu retten, weg von mir mußte, daß ich mich verlassen mußte, weg von einem Menschen wie mir. Ich habe es versucht.« Daß dieser Versuch nicht als Suizid endet, verdankt das ewige Kind sicher auch der Entdeckung des Erzählens, der Entdeckung der Schrift, die auch dann Heilige Schrift ist, wenn sie keinen Erlöser transportiert, sondern nur das – für Augenblicke – erlösende Lachen.
»Die Komik«, hat Flaubert gesagt, »ist der einzige Trost der Tugend; es gibt übrigens eine Art sie aufzufassen, die hohe Kunst ist.« Nun ist aber auch diese hohe Kunst, in die Stadler sich gerettet hat, eine Form vertuschten Unglücks – und nicht nur im existentiellen Sinne. Vertuscht werden soll auch jenes Unglück, das für den Schriftsteller darin liegt, daß er sein Eigentliches – also eben das Unglück, das einmal sein Schreiben erzwang – nicht eigentlich, nicht auf eigentliche Weise, d. h. nicht unmittelbar sagen kann, will er nicht jenem Jargon der Eigentlichkeit verfallen, bei dem jener Denker landete, dem das erlösende Lachen so völlig versagt blieb und der, weil er aus derselben Gegend wie Stadler stammt, durch alle Stadler-Bücher gespenstert: Martin Heidegger.
Schon im Roman Ich war einmal erlebt der fünfzehnjährige Gymnasiast in der Meßkircher Stadthalle die Feier von Heideggers 80. Geburtstag, bei der der Jubilar »mit einer Stimme wie rohe Eier [...] selbst von der Heimat auf Hochdeutsch zu den anwesenden Landsleuten« spricht, was dem Halbwüchsigen, der Hochdeutsch nur als Befehlssprache kennt, unangenehm auffällt. Verwandter von Heidegger zu sein, ist das Höchste, was man damals in Meßkirch außerhalb des Skiclubs sein kann, vermeldet Stadler und outet sich selbst als Verwandten des »größten Denkers seit Plato«, ein Werturteil, das allerdings dadurch stark relativiert wird, daß Stadler es als Zitat aus der Bunten anführt und es überdies noch einem angereisten japanischen Heidegger-Verehrer in den Mund legt, was sich dann so anhört: »Del glößte Denkel seit Plato.«
Verwandt ist mit Heidegger auch der Viehhändler Naze, von dem es heißt: »Die Leute wußten, daß er mit Heidegger verwandt war, und er galt deshalb als gescheit, obwohl er schon vor Jahren mit dem Sprechen aufgehört hatte.« Dieser Viehhändler ist von seinem Philosophen-Vetter beauftragt, in den Höfen, auf die er kommt, alte, seltene Worte zu sammeln, wie sie vor allem Mägde und Knechte noch kennen, jene Wörter, mit denen der Philosoph, der immer nur zu Besuch aufs Land kommt, seine Idee vom gesunden Land und vom gesunden Landvolk zu bekräftigen sucht. Der Bauernsohn Stadler aber weiß es – im Roman Mein Hund, meine Sau, mein Leben – besser: »Im Gegensatz zu mir sagte unser Philosoph [...], wir seien noch gesund, ja die gesündesten überhaupt, angefangen mit der Sprache! Unserer Muttersprache! Aber war sie nicht schon so schwach, daß sie bald nach der ersten Begegnung mit dem Fernsehen und seinem hochdeutschen Gepränge in sich zusammenfiel und ausgestorben ist wie die Indianer? Sie, wir, ich: wir waren krank, selbst unsere Tiere, unser Gras und Getreide: krank. Unsere Lebewesen, unsere Schweine, neigten zum Herzinfarkt aus Angst, den Transport ins Schlachthaus nicht zu überstehen, die Hühner saßen mit ihren Depressionen in ihren Käfigen und sollten auch noch Eier legen, bis zum Tag, da sie zum Suppenhuhn verarbeitet wurden. Ich war krank. Wie oft mußte die Krankenschwester ins Haus kommen!«
Der Ich-Erzähler aus Mein Hund, meine Sau, mein Leben, der sich schon pränatal zur Krankheit zum Tode verurteilt sieht und deshalb seine Mutter wissen läßt: »Ich hätte mich für Wegmachen entschieden, wenn ich etwas hätte sagen können«, er, der die Muttersprache als seine »erste Fremdsprache« empfindet, wehrt sich gegen die unfreiwilligen Kalauer der Heideggerschen Gesundbeterei mit durchaus freiwilligen Kalauern; dabei wird etwa das beschämendste seiner Kinderleiden im hehrsten Heidegger-Ton zum »In-die-Hose-Machen als meinem In-der-Welt-Sein«. Stadler setzt da eine Tradition der Heidegger-Parodie fort, die von Oskar Maria Graf (Unser Dialekt und der Existentialismus) bis zu Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek reicht, und bekennt sich implizit zu jenen Autoren, die von Heidegger – nach einem Wort Robert Minders – »mit dem gelben Stern der Seinsentfremdung behaftet« wurden.
Während der einstige Priesterzögling Heidegger auch als Häretiker das Sakralisieren sprachlich nicht lassen kann, bildet der ehemalige Priesteranwärter Stadler den Gegenton aus, jenen Ton, den Jean Paul als das »umgekehrte Erhabene« apostrophiert hat, Jean Paul, mit dem Arnold Stadler so vieles, vor allem aber dessen »Fuchswitterung« für die komische Kehrseite aller Dinge gemein hat. Am entschiedensten bezieht Stadler Gegenposition zu jenem Heidegger, »der sich« – wie Stadler es in seinem Essay zu J. P. Hebels Gedicht Vergänglichkeit formuliert – »Hebel zeitlebens als ›Hausfreund‹ gehalten hat«, und der dabei – füge ich hinzu – aus dem erasmischen Hebel, dessen Heimat die Welt war, einen in tiefbrauner alemannischer Scholle wurzelnden Heimat-Hebel modelte, mit dem er – so wieder Stadler – »ausgewählte Bäuerinnen von Todtnauberg an seinen Geburtstagen quälte, als Belohnung dafür, daß sie zu Fuß zur Hütte hinaufgestiegen waren und ihre Gaben Frau Elfriede übergeben hatten: ein Gelege frischer Eier aus dem Ursprungsgebiet der Sprache oder einen blütenschweren Todtnauberger Schleuderhonig«.
Das »umgekehrte Erhabene« in Stadlers Ausformung ist nicht zu verwechseln mit Satire – Satire, die immer allzu gut zu wissen glaubt, was das Gute und was das Schlechte ist, und die vom Podest einer Überlegenheit herab urteilt, die Stadler nicht einmal fingieren könnte. Bei ihm kommt alles aus der Unterlegenheit – aus der Überlegenheit der Unterlegenheit, hätte Robert Walser wohl gesagt –, und wenn Stadler urteilt oder gar – selten genug – verurteilt, dann erschüttert und untergräbt solches Urteilen oder Verurteilen zuerst einmal die eigene Position; fragwürdig wird er zuerst sich selbst, so wie er sich selbst zuerst komisch wird. »Ich hätte mir selbst als Gegenbeispiel dienen können«, resümiert Engelbert Hotz, der Ich-Erzähler des vierten Stadler-Romans Der Tod und ich, wir zwei, der einen Workshop zum Thema »Wie man sich erfolgreich durchs Leben schlägt« besucht hat und von dessen Leiterin zu hören bekam: »Nur nicht so wie Sie!« Derselbe Engelbert Hotz, der bei einem Auktionshaus in fremdem Auftrag ein Cézanne-Bild eingereicht, dieses aber als Fälschung zurückerhalten hat, wittert sofort in sich den Schuldigen: »Vielleicht wurde der Cézanne auch nur deswegen als Fälschung zurückgewiesen, weil ich ihn angeschleppt hatte. Vielleicht war er echt. Vielleicht haben die Experten mich gemeint. Vielleicht haben sie mich mit dem Bild verwechselt.«
Der Satz aus dem Roman Feuerland: »Meine Angst war zu einem Witz geworden«, steht für allen Witz, für alle Komik in Stadlers Büchern. Immer kommt diese Komik aus der Angst, aus Identitätsirritationen. Nicht nur Engelbert Hotz, auch fast alle anderen Stadlerschen Ich-Erzähler werden uns bezeichnenderweise als zwergwüchsig vorgeführt. »Ich kam mir so klein vor, daß ich die Empfindung hatte, gar nicht ganz auf der Welt zu sein«, bekennt Engelbert Hotz, der seine Entwicklung als eine »vom Zwerg zur Schießbudenfigur« beschreibt, sich dann aber – und nun kommt wieder Stadlers Übermut ins Spiel – als Nachkomme der berühmten von Velazquez gemalten spanischen Zwergendynastie ausgibt und damit wieder etwas Größe zulegt.
Schon der Ich-war-einmal-Erzähler, den an den Heiligen besonders die Gnade der Bilokalität anzog, d. i. die Gnade, gleichzeitig hier und dort zu sein, mußte gestehen: »Ich war hingegen überall, wo ich war, nur halb, ohne die Gnade der Bilokalität.« Die Empfindung der eigenen Beschränktheit und Nichtswürdigkeit, das Gefühl, nur eine halbe Portion zu sein, drückt sich schon in der Namensgebung aus: Während das Ich-war-einmal-Kind noch namenlos war, trägt es als junger Mann, der im Roman Feuerland seine patagonischen Verwandten besucht, und auch noch im nächsten Roman den Namen Schwanz, ein Name, der zwar durch ein Behördenversehen zustande kam – die Vorfahren hießen noch Schwaz nach dem Tiroler Ort, aus dem sie nach Oberschwaben einwanderten dessen vulgäre Verballhornung aber auch anzeigt, wie verachtet sich sein Träger fühlt, wie lächerlich.
Seit neuem ist es sogar statistisch erwiesen, daß die meisten Menschen sich weit mehr vor Lächerlichkeit als vor dem Tod fürchten und deshalb die gesellschaftlichen Spielregeln minutiös einzuhalten versuchen. Witold Gombrowicz, der mit seinem Roman Ferdydurke m. E. so etwas wie den Don Quijote unseres Jahrhunderts schuf, fand für diese Anpassungsanstrengung die Formel: »Menschsein heißt den Menschen spielen.« Doch für dieses Spiel fühlen sich Stadlers Figuren mit ihrem »zu-hohen-Blutdruck-Gesicht«, ihren ständigen Schweißausbrüchen und ihrem Hinterwäldler-Dialekt, den man schon am Bodensee nicht zu verstehen vorgibt, denkbar schlecht ausgerüstet. Selbst bei größter Anpassungsanstrengung fallen sie immer wieder aus der Rolle, wirken entweder erst recht hinterwäldlerisch oder aber hochstaplerisch.
»Nur wenn wir unter uns waren, schämten wir uns nicht«, bekennt der zwar in Köln lebende, aber seinem oberschwäbischen Heimatdorf nie wirklich entwachsene Ich-Erzähler des vorläufig letzten Stadler-Romans Ein hinreißender Schrotthändler, dessen Titel ja bereits ein schreiender Widerspruch ist. Dieser zum Geschichtslehrer aufgestiegene Gastwirtssohn, der sich seiner Herkunft so schämt, daß er sie im Ausland mit »black forest, Switzerland« umschreibt, fährt einmal zu einer Beerdigung in sein Heimatdorf zurück und wird dort von den meisten Trauergästen mit der in dieser Gegend stereotypen Frage begrüßt: »Bischd au do?« – ›bist du auch da?‹ –, eine Frage, die eigentlich gar keine ist, aber den Zwang zu ständiger Seinsvergewisserung verrät im Sinne von ›bist du auch noch da?‹
In seinem Roman Die unsichtbare Loge schreibt Jean Paul: »Ich habe mit dem Tod geredet, und er hat mir versichert, es gebe weiter nichts als ihn.« Ein Satz wie von Arnold Stadler, in dessen Büchern keine noch so grell ins Burleske gesteigerte Komik verdecken kann, daß der Tod allzeit das Sagen hat. Im Ich-war-einmal-Erstling erlaubt sich Stadler zwar noch Scherze wie den vom Krematorium, das einen »Tag der offenen Tür« hat, oder den vom Leichenwagen, der in eine Radarfalle gerät, oder auch den vom verhinderten Selbstmörder, von dem gesagt wird: »Er hätte sich vor den Zug geworfen, wenn es den Zug noch gäbe«; aber es gibt hier doch schon als erste jener Reihe von Beerdigungen in Stadlers Romanen die Beerdigung der Bäuerin Lisa, bei der – Zeichen für Schönwetter – die Starfighter im Tiefflug über den Friedhof donnern. Und es gibt schon den Tod der geliebten Tiere des Kindes, diesen vielfachen Tiertod, mit dem im Roman Mein Hund, meine Sau, mein Leben dann nicht nur das spätere Theologiestudium des jungen Mannes begründet, sondern auf den auch die Erweckung des Erzählers zurückgeführt wird; von dem Kind, dem das geliebte Ferkel getötet und dann auch noch als Wurstsuppe vorgesetzt wurde, heißt es: »Damals muß ich den Verstand verloren haben, denn unmittelbar darauf begann ich zu dichten.« Im Roman Feuerland betritt der Tod schon mit den beiden ersten Sätzen überfallartig die Szene; es sind typische Stadler-Sätze in ihrer Verknüpfung äußerster Gegensätze: »In der Nacht vom 20. zum 21. Juni warf sich der Sohn des Fellhändlers Antonio aus Pico Grande, Patagonien, vor den Zug. Es war sein erstes Lebenszeichen.« Auf der letzten Seite dieses Buches stirbt dann der alte Fritz von Streng, der 1933 vor seinen Landsleuten aus Deutschland fliehen mußte und von dessen Gesicht gesagt wird, es sei »der Schauplatz einer universalen Kriegsgeschichte«. Er stirbt, weil aus einem vor ihm fahrenden Viehtransporter ein Schwein fällt und die Windschutzscheibe seines Wagens durchschlägt. Die beiden unnachahmlich lakonischen letzten Sätze lauten: »Das Schwein kann noch gerettet und notgeschlachtet werden. Er aber ist tot.« Dieser Fritz ist einer jener alten, ebenso bizarren wie bemitleidenswerten Männer, wie Stadler sie mehrfach beeindruckend einfühlsam geschildert hat, Don Quijotes der Männerliebe, die keinen jugendlichen Sancho Pansa mehr an sich binden, diesen allenfalls für Stunden kaufen können.
Aber auch jene Jüngeren, denen Liebe noch so leicht zufällt, erfahren die Nähe von Eros und Thanatos; mit seiner Cousine Rosa verkehrt der Feuerland-Ich-Erzähler entweder auf einem alten Friedhof oder in einer mit zotigen Zeichnungen bedeckten Vorzeithöhle, die im sogenannten Tal des Todes über einem steilen Abgrund liegt, und Rosa muß sich vor ihm im Liebesakt überdies als »Mordopfer« gerieren: »Allein so war es überhaupt möglich, daß wir zusammen waren. Nur wenn ich sie getötet hätte, wäre ich ihr noch näher gewesen.«
Es paßt ins Bild, daß der in Rom gescheiterte Theologe, nach Deutschland zurückgekehrt, sein Dasein als Grabredner fristet. Fast überflüssig anzumerken, daß dieses Bild des Grabredners in seiner Verschränkung von Ernst und Komik die genaueste Entsprechung für Stadlers Schriftsteller-Existenz mit ihrer Fixierung auf Vergänglichkeit darstellt. »Nichts läßt man uns, nicht einmal den Schmerz«, heißt es im letzten Stadler-Roman; schon im Buch davor gab es einen Stadler-Satz, der den Verlust selbst des Schmerzes in eine wahrhaft Robert Walser würdige Dialektik-Bewegung zwingt: »Mich zerriß es vor Schmerz, daß es mich nicht vor Schmerz zerriß.«
Auch wenn Verzweiflung über die Vergänglichkeit bei Stadler in noch so grotesk übermütiger Drapierung daherkommt und Passion von Posse manchmal kaum zu unterscheiden ist, stehen Stadlers Bücher in gänzlichem Gegensatz zur herrschenden hedonistisch-heidnischen Spaßkultur. Gegen deren drei Tabuthemen – nämlich Alter, Tod und Gott – verstößt Stadler mit einer Vorsätzlichkeit, deren innerster Antrieb – ich scheue das verpönte Wort nicht – Frömmigkeit sein muß.
In seinem liebevollen Essay zu J. P. Hebels Gedicht Vergänglichkeit meint Stadler, nicht eigentlich evangelisch sei Hebel gewesen, sondern »fromm und ungläubig«, und wird mit dieser Definition vom Leser Hebels zum Leser seiner selbst. Fromm erscheint mir Stadler zum wenigsten deshalb, weil er etwa die Psalmen ins Deutsche – nein, in sein Deutsch übertragen und sie dabei wunderbar aufgefrischt hat, sondern in der Art, wie er den Kampf gegen die unbesiegbaren Windmühlen des Zeitgeistes führt, jenes Zeitgeistes, der inzwischen auch in seinem »Hinterland des Schmerzes« die Herrschaft übernommen hat. Dort im Dorf, wo gerade noch vom Grüß Gott bis zum Vergelts Gott alles in Gottes Namen geschah, sind Trumpf nun Wörter wie ficken, vögeln, nageln, bügeln, und wer daran Anstoß nähme oder daran, daß die gesegnete Mahlzeit zum lumpig verkürzten Mahlzeit wurde oder daß neben dem Friedhof für die Sexmesse geworben wird, wer womöglich sogar den Namen Gottes öffentlich in den Mund nähme, böte selbst – wie Stadler weiß – ein Ärgernis.
Die Bücher Arnold Stadlers, in denen sich Frömmigkeit und Ungläubigkeit ebenso unauflöslich wie Schwermut und Übermut gegen diesen Zeitgeist verbinden, kommen – das muß noch gesagt werden – zwar einzeln daher, sind aber die Fortschreibung eines einzigen Ich-Buches – in dem Sinne, wie Robert Walser sein ganzes Werk als »ein mannigfaltig zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch« charakterisiert hat. Auch Stadler legt mehr Wert auf das Gewicht des einzelnen Satzes oder Abschnittes als auf ein sich rundendes episches Ganzes. Schon Martin Walser wies darauf hin, daß Stadler oft »eine ganze Existenzdimension in einem einzigen Satz« abbilde. Die Kongruenz von Stoff und Erzählweise bei Stadler trifft genau das Goethe-Motto, das er seinem Roman Feuerland vorangesetzt hat: »Man geht nie weiter, als wenn man nicht mehr weiß, wohin man geht.« Stadlers Erzählen wirkt oft wie improvisiert und scheint, wie jenes Jean Pauls, vorzugsweise aus Abschweifungen und Arabesken zu bestehen. Mit Blick auf Jean Paul hat Friedrich Schlegel »die Arabeske als Phantasie des Leidens« charakterisiert.
Auch das Übertreibungs- und Wiederholungsprinzip, wie es Thomas Bernhard kultivierte, hat Spuren bei Stadler hinterlassen, der übrigens als Jungautor wie so mancher andere auch von einem Besuch beim Untergangshofer in Ohlsdorf träumte. Im Roman Der Tod und ich, wir zwei erscheint Thomas Bernhard dann allerdings entzaubert zur »Imelda Marcos von Ohlsdorf mit den fünfundzwanzig Paar Gummistiefeln, den achtundsiebzig Tirolerhüten, Totschlägern, Geweihen in der Herrschaftsgruft von Ohlsdorf. Ich sagte mir«, so Stadler weiter, »unvorstellbar, daß Peter Handke oder Martin Walser solche Tirolerhüte tragen oder auch nur besitzen.«
Apropos Peter Handke. Er, der neben Martin Walser zu den frühesten Stadler-Begeisterten gehörte, hat von dessen Büchern nicht nur gesagt, sie seien die eines mit sich selbst oft erschreckend strengen Kindes und balancierten kühn »zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit«, sondern auch dies, daß sie, so wie andere Bücher kein mehrmaliges Lesen vertragen, kein einmaliges Lesen vertrügen, weil beim einmaligen Lesen der aus dem Mündlichen herrührende Darsteller- oder Schauspielergestus den eigentlichen, den geschriebenen Text von Stadlers Büchern zu verdecken drohe. Auch, möchte ich hinzufügen, erscheinen die für Stadlers Bücher so kennzeichnenden Abstürze zwischen zu großer Sehnsucht und zu großer Ernüchterung beim ersten Lesen leicht nur als stilistisches Ungleichgewicht. Beim zweiten Lesen entdeckt man dann, daß immer Scham die Urheberin solcher Brüche ist, Scham, welche die Herkunft der Komik aus der Verzweiflung vertuschen will durch rasche Tonlagenwechsel.
In übermütigster Stadler-Manier heißt es einmal im Roman Ein hinreissender Schrotthändler. »Nach langem Nachdenken kam ich darauf, nicht mehr nachzudenken.« – Nach langem Nachdenken kam ich meinerseits darauf, nun nicht länger über Stadler nachzudenken. Halt! Ein Gedanke drängt sich noch auf – einer zu dieser Preisverleihung. Am Ende seines Romans Der Tod und ich, wir zwei schreibt Arnold Stadler mit einem wieder vom Übermut diktierten Schlußschlenker: »Den Wilhelmine-Lübke-Preis kriegst du für dieses Buch nie!« Nun kriegst Du, lieber Arnold Stadler, halt statt dessen den Büchner-Preis, und der ist, wie Hermann Lenz es wohl gesagt hätte, au net schlecht. Man hat etwas zum Zurückgeben für schlimme Zeiten.
Eigentlich ist nichts zum Lachen. Eigentlich ist alles zum Lachen.