Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Alexander Kluge

Writer and Film producer
Born 14/2/1932
Member since 1981
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... dem Chronisten des 20. Jahrhunderts, der das Universum der Geschichte und der Gefühle mit Scharfsinn und unbestechlicher Phantasie seziert und gleichzeitig erweitert hat.

Jury members
Juryvorsitz: Klaus Reichert
Friedrich Christian Delius, Heinrich Detering, Peter Hamm, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, außerdem Peter Benz (Stadt Darmstadt), Konrad Schacht (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst)

Laudatory Address by Jan Philipp Reemtsma
Literary scholar and Publicist, born 1952

Unvertrautheit und Urvertrauen – Die »Gattung Kluge«

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Kluge, sehr geehrte Damen und Herren,
es ist natürlich alles andere als üblich, eine Laudatio, die sich auf die Auszeichnung eines geistigen (wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise materialiserten) Werkes bezieht, mit der Erwähnung eines physischen Merkmals des Preisträgers zu beginnen. Ich weiß nicht, ob Sie, sehr geehrter Herr Kluge, sich daran erinnern, daß sich vor zwanzig Jahren der damalige Noch-nicht-Verleger Franz Greno an Sie mit der Frage wendete, ob Sie an einem Werbespot im Radio mitwirken würden. Es ging um den von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur initiierten und finanzierten Reprint der Sämmtlichen Werke Christoph Martin Wielands. Da sich zu einem Preis von DM 148,– das Unternehmen beim Absatz von 10000 Kassetten finanzieren konnte, brauchte es nur noch eine gute Idee, um die Aufmerksamkeit von ein paar Tausend Leuten auf den Umstand zu lenken, daß sie etwas kaufen konnten, das nur wenige von ihnen bisher vermißt hatten, die meisten aber, hätten sie es denn einmal gekauft, davon waren Finanzier und Verleger überzeugt, nicht mehr würden missen wollen.
Nun also die Reklame-Idee: Franz Greno fragte Sie, ob Sie dem Unternehmen Wieland-Reprint Ihre Stimme leihen wollten, und zwar sollten Sie – unkommentiert – eine Reihe der Neologismen Wielands, vornehmlich aus seinen Shakespeare-Übersetzungen, vorlesen: Kriegserklärung – Steckenpferd – Liebeswut – rosenwangig – kaltherzig – Milchmädchen – Schafsgesicht – Anziehungskraft – Abschiednehmen – Weltall – Fortschritt – Sicherheitsklausel – Aufklärung – Weltliteratur – und so weiter – eine andere Stimme sollte dann die Angaben zur Ausgabe sprechen. – Sie hatten keine Zeit oder keine Lust oder empfanden den Antrag vielleicht als irgendwie unsittlich. Erlauben Sie mir dennoch zu bedauern, daß nichts daraus geworden ist. Greno und ich waren uns einig, daß Ihre Stimme und daß Ihre Stimme (und schon bin ich nicht mehr bei der bloßen Physiologie) mit ihrem Timbre aus Freundlichkeit und Genauigkeit, trainierter Naivität und Insistenz, zudem Ihre in so besonderer Weise im öffentlichen Raum präsente Stimme ideal gewesen wäre, um den Neu- Auftritt dieses großen deutschen Aufklärers zu begleiten.
Das Stichwort der öffentlichen Präsenz ist es, das aus einem anderen Grunde nahe legt, mit der Stimme zu beginnen. Ihre mediale Gegenwart hat sich ja in diesen zwanzig Jahren ungemein vergrößert. Was der schuldlose Rezipient als Hör-Angebot annehmen oder ausschlagen kann, rückt dem Laudator, der Ihre Bücher sortiert – die gelesenen hierhin (und auf Zettel und Anstreichungen durchmustern), den ungelesenen eine Prioritätenfolge für die anstehende Lektüre geben –, der ein Notizheft beginnt, dessen Eintragungen sich zu drei Vierteln als für die vorgeschriebenen zwanzig Minuten unverwendlich erweisen werden... – und der abends dann versucht, sich ins Telenirvana zu zappen, und dann... – ja, es muß nicht einmal Ihre Stimme sein, die zeigt, daß Kluge dort fortspricht, wo der Laudator längst erschöpft Pause macht in seinen Konzepten, sondern manchmal ist es das Gesicht und die Stimme eines ganz anderen Menschen, den man kennt oder auch nicht, egal, aber man hört es ihm an: Er antwortet gerade auf irgendetwas, das Kluge vorher gesagt hat.
Wie ist diese Polypräsenz einigermaßen zu würdigen? Glücklicherweise muß ich das im Falle des Büchnerpreises nicht. Dem aber, der es das nächste Mal wird tun müssen, rate ich dringend, sich nicht nur auf das geschriebene literarische Wort, auf das ich mich beschränken darf, nicht nur auf das historisch-politisch-soziologische Wort, das ich unberücksichtigt lassen muß, nicht nur auf das gesprochene Wort, nicht nur auf Theorie und Praxis des Bildes, auf Interviewtechnik und andere Formen der TV-Präsenz zu konzentrieren, sondern auch das in ganz anderer Weise kulturpraktische Werk zu würdigen, anfangend mit dem zusammen mit Hellmut Becker verfaßten Buch über Kulturpolitik und Ausgabenkontrolle von 1961 (durchaus noch lesenswert das Kapitel über »Rechnungsprüfung und Kulturpolitik«) und möglicherweise nicht endend mit den Vertragswerken, die die Präsenz Kluges in den TV-Sendern regeln – die (ich weiß es zwar nicht, weil ich sie natürlich nicht kenne, aber denken kann ich es mir doch) durchaus in die Gesammelten Werke Kluges aufgenommen werden müssen. Aber darüber redet dann ein anderer.
Ich denke jedoch, daß es nicht nur die Verpflichtung dem hier zu übenden Genre der Laudatio für einen Literaturpreis gegenüber ist, von dem Schriftsteller Alexander Kluge zu sprechen, und für heute nur von ihm. Denn es ist unverkennbar die Stimme seiner literarischen Texte, die aus allen anderen Präsenzen der öffentlichen Figur klingt, darum sei man mit der eilfertigen Suche nach dem spezifisch Experimentellen bei Kluge vorsichtig. Man könnte – nicht nur, weil es die Experimentellen in den letzten Jahrzehnten im Dutzend und Schock gab, und man die Irritationen ebenso routiniert zu produzieren wie sich in sie zu fügen lernte – vor allem in diesem speziellen Fall daneben liegen. – Ich halte es für wahrscheinlich, daß man Kluge für einen weit weniger traditionellen – ich sage nicht: konventionellen – Autor hält, als dies angemessen wäre. Es finden sich in der Sekundärliteratur viele Arbeiten, die mit großem theoriegeschichtlichen Aufwand und vielen weniger empirischen als geschichtsphilosophischen Behauptungen über die Verfassung der Welt, sowie sich durchaus nur scheinbar daraus ergebenden Behauptungen über das, was in der Literatur nicht mehr möglich und stattdessen vonnöten sei, den Büchern Alexander Kluges bei aller expliziten Wertschätzung doch nur eine zeitgemäße Gebrauchsrahmung verpassen, an denen man sie dann erkennen soll. Wer solche Analysen und Kommentare liest, hat das Gefühl, Kluges Geschichten könnten sich auch ganz anders anhören.
Auf der Suche nach Begriffen, die etwas wie ein Gerüst meines Textes über Kluge abgeben könnten, habe ich unter anderem »Lücke« notiert. Dann trafen die erbetenen Fahnen des neuen Buches ein, das lautete: Die Lücke, die der Teufel läßt. Abgesehen davon, daß das autos epha immer mit Warnschildern umstellt ist – was heißt denn das: »Die Lücke, die der Teufel läßt«? Außerdem stieß ich auf einen Klassiker der Kluge-Philologie, Helmut Heißenbüttels Der Text ist Wahrheit. Zur Methode des Schriftstellers Alexander Kluge, in dem aus der Nachbemerkung zu Geschichte und Eigensinn zitiert wird, das Buch sei ein Fragment, man müsse »die Lücken mitlesen«. Heißenbüttel möchte dieses auf ein bestimmtes Buch bezogene Zitat zum Signum der Klugeschen Texte überhaupt machen. Die Lücke kennzeichne sie allesamt, Fragmente, die sie seien. Was Heißenbüttel damals wollte, war die Diskussion von der Frage wegsteuern, wie sich denn Dokumentarisches zu Fiktivem und beides zum Gestus des Erzählens verhalte: »Nicht das Dokumentarische oder Authentische ist wichtig, sondern das Lückenhafte. Das Fragment, das sich niemals zu etwas Geschlossenem, gar Abgeschlossenem schließt, ist die Form, in der sich Erfahrung mitteilt, die ihres Zentrums, ihres zentralen Bezugs nicht sicher ist.« Daraus folge dann allerlei für die Figur des Autors im Text, für die Rolle der Subjektivität, und das mag alles richtig sein. Nun ist es aber bei einem Werk dieses Umfangs und dieser Fülle ganz unsinnig, zu sagen, es bestehe aus einer Anhäufung von Fragmenten. Fragmenten wovon? Diese Frage muß beantwortbar sein, denn Fragmente sind relational zu erfüllten Formen. Das Fragment existiert nicht, wie Heißenbüttel das wollte, als selbständige Form, wenn doch, ist es eben keins mehr und es über die Beschreibung von Abweichungen beschreiben zu wollen, ist eine ziemlich fragwürdige Angelegenheit, die nur zu noch fragwürdigeren Folgerungen führen kann.
Die Texte, die Alexander Kluge seit den Lebensläufen, und der Schlachtbeschreibung bis heute zur Lücke, die der Teufel läßt geschrieben und neu geschrieben und immer wieder neu arrangiert und modifiziert veröffentlicht hat, gehören einer eigenen Textgattung an – wie sollen wir sie nennen? So, wie André Jolies vorschlug, von der »Gattung Grimm« zu sprechen, wird sie wohl zunächst nur »Gattung Kluge« heißen müssen. Literarische Gattungen zu definieren, ist immer schwierig, aber hier wie anderswo wird man sehen, daß man über den Gattungsnamen eine schnelle Verständigung herzustellen in der Lage ist – über die genaue Definition wird man sich, wie in anderen Fällen auch, zanken können, wenn man Lust und Zeit dazu hat. Das einzige wirkliche Problem besteht darin, daß man sich der Gattung Kluge nicht einfach bedienen kann. Wer es täte, stünde als Kopist da, als jemand, der etwas, das ihm nicht gehört, mißbräuchlich nutzt und zur Masche macht. Aber sind Gattungen Privatsache? Nun, sicherlich nicht. Aber wenn man die Kamera etwas zurückfährt, sieht man, daß nicht nur Alexander Kluge in der Gattung Kluge geschrieben hat. Schlagen Sie Kleists Anekdoten auf und überlegen Sie, ob bei einigen – zum Beispiel Sonderbarer Rechtsfall in England oder Mutterliebe – nicht auch eine Einordnung in die Gattung Kluge möglich wäre; oder überlegen Sie, ob die Tradition recht hat, Büchners Woyzeck als fragmentarisches Theaterstück anzusehen – viele Theaterstücke sind ja keine: die Iphigenie ist, worauf Reich-Ranicki hingewiesen hat, ein Hörspiel, der Faust II ist ein Film – oder ob er nicht viel besser aufgefaßt werden kann als Text vom Schlage eines der Lebensläufe, wo Dokument, fiktive Rede, Reflexion zu einer sehr komplexen Einheit arrangiert werden. So besehen wäre Kluge ein Schriftsteller, der sich der nur zufällig so genannten »Gattung Kluge« bedient, und dies in einer Weise, die Heißenbüttel ihm gerade abspricht: es gewinne, so schreibt er, »der Text die Oberhand über den Autor.« Er, der Text, der uns gewissermaßen vom Zufall geschenkt wurde, mache den Autor gleichsam zum Medium, durch das hindurch – was? wirke. Merkwürdig, daß es eine Zeitlang modern war zu meinen, man sage einem Autor dann das Höchste, wenn man ihm bescheinigte, es gebe ihn eigentlich gar nicht. Der Denkfehler war profund: Dokumente zu verwenden, Fotos, Karten und Zeichnungen in die Texte zu integrieren, vervielfältigt die Möglichkeiten subjektiven Verfugens und bringt sie nicht zum Verschwinden, seit alters her weiß man’s doch: in nova fert animus mutatas dicere formas corpora. Das versteht sich doch. Warum tut man sich so schwer damit?
Vielleicht ist es gerade Kluges Präsenz – nicht nur die akustische versteht sich, nicht nur die seiner längst in den Formelbestand der Alltagssprache eingegangenen Buchtitel, sondern die seiner Texte, zitiert oder osmotisch aufgenommen –, die die Abwehr einer sonst als zu mächtig empfundenen Subjektivität herausfordert. Vielleicht muß man den Charme der Stimme Kluges, in dessen gesprochenen Sätzen immer etwas wie ein Moment der teilweisen Zurücknahme mitschwingt: »Ganz so meine ich es ja nicht« (eine Eigenschaft, die seinen geschriebenen Sätzen ganz abgeht), daher verstehen. Aber wenn jemand am Beispiel von Kluges Texten vom Verschwinden der Subjektivität spricht, bescheinigt er dem Autor nichts weniger als den technisch perfekten Einsatz seiner literarischen Mittel. Alexander Kluge ist, das gehört nun einmal zu einem bedeutenden Autor, jemand, der seine Subjektivität machtvoll in die Welt mischt und Menschen nötigt, sich ihr – partiell und auf Zeit – zu unterwerfen.
Aber es handelt sich natürlich um keine frei flottierende Subjektivität – die brächte so etwas nicht fertig und wäre auch nicht interessant. Sie ist gebunden, in Form und Stil, und nur durch diese Bindung gewinnt sie Autorität. Die Form ist die der Konzentration auf ein Einzelnes (eine Begebenheit, eine Situation, einen Ablauf, eine auf einen bestimmten Punkt gerichtete Reflexion), darin die Bündelung literarischer und außerliterarischer Verweisungsmöglichkeiten (aber nicht -notwendigkeiten). Der Stil ist die Virtuosität der Abweichung vom Erwarteten. Ein riskantes Stilmittel übrigens. Allzu leicht kann es zum bloß Kapriziösen mißraten oder in die Routine der Effektmacherei abgleiten. Das tut es nur dann nicht, wenn sein Einsatz präzise genug ist, so, daß das Überraschende dem Geschilderten zugeschrieben wird, nicht dem, der es schildert. Das ist die sozusagen textuelle oder subjektive Seite. Daß die aber kein Spiel ist, liegt an einer objektiven Voraussetzung des Verfahrens. Wir kennen die Welt ziemlich gut und kennen uns doch nicht in ihr aus. Das bedingt eine Doppelstruktur unserer Wahrnehmung und unseres Bewußtseins. Wir sind immer auf Überraschungen gefaßt, suchen sie sogar – darauf beruht unsere alltägliche Neugier, unsere Neigung zum Klatsch, unsere Disposition zur forschenden Tätigkeit, unsere Lust am Reisen. Wir sind aber auch von dem Potential an möglichen Überraschungen, das die Welt bereithält, aufs Gröbste überfordert. Darauf beruht unser Hang zur Routine (die unterstellt, man könne sein Leben partiell so einrichten, daß keine Überraschungen Vorkommen), die Tugend der Diskretion, der Höflichkeit, Neigung zu Formen schlechthin, unsere Liebe zur Wahrheit (zur unumstößlichen), unsere Lust an der Lektüre von Reiseberichten.(1)
Wir sind also bereit zu glauben, daß die Lektüre frappierender Möglichkeiten menschlicher Existenz auf diesem Planeten (und potentiell anderswo) über Wichtigstes informiert – wir glauben an die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen – nehmen aber als mentale Kompensation jene Stilmittel, die das Frappierende im sonst vielleicht für alltäglich Gehaltenen, mit sicherer Hand schraffieren, als Sicherheitsversprechen wahr, als lebten wir nicht auf dem Hochseil, sondern mit Netz (und solange wir lesen, tun wir das auch – naja, meistens jedenfalls).
So etwa müßten die Voraussetzungen der Analyse der besonderen Perfektion, mit der Alexander Kluge die Gattung Kluge handhabt, aussehen. Von hier aus kann man auch einige wiederkehrende Themen ins Auge fassen, die sich, meine ich, besser als Resultate der Gattung und ihrer technisch-stilistischen Ausprägung denn als gewählte theoretische Voraussetzungen lesen lassen; – natürlich gehört zu Alexander Kluges öffentlicher Präsenz auch seine Präsenz als Theoretiker (und das »auch«, daß er sich sonst verbitten müßte, sei nur aufs Konto des Genres Literaturpreislaudatio geschrieben), aber es wäre ein Fehler, diese Präsenz als die aufzufassen, aus der sich die anderen als bloße Reinkarnationen herausbildeten. Es haben seine Texte nämlich keineswegs den Charakter von Belegen für seine Theoreme. Sie stehen oft in merklicher Spannung zu diesen. Zum Beispiel beim Begriff des »Urvertrauens«, einem der für die reflektierende Prosa Kluges zentralen Begriff. Kluge hat in der furchtbaren Geschichte einer cineastischen Sensation, der Verfilmung der Hinrichtung eines Elefanten mittels Elektrizität, demjenigen, der als Produzent die Idee dazu hatte, die erste Person Singular geliehen, und mit dieser grammatischen Form drückt er die Verwunderung darüber aus, daß der Elefant sich vertrauensvoll in die Prozedur seiner Ermordung gefügt habe. Der sich bei der Hör-Fassung des Textes einschaltende Autor Kluge erläutert daraufhin den Begriff des »Urvertrauens« und die Elefanten-Geschichte als Exempel. Mir würde eine andere Deutung der Geschichte eher einleuchten, etwa die, daß das spezifische Vertrauen des Elefanten, der »sich losreißen und jedes Hindernis hätte niedertrampeln können«, und dies in afrikanischerer Umgebung zweifellos getan hätte, ebenso ein Zivilisationsprodukt ist wie Elektrizität, Film und die Idee, ein snuff-movie zu drehen. Vertrauen, glaube ich, ist immer gerichtet und enthält immer seine Negation, warum mir die Rede vom Urvertrauen stets unvertraut geblieben ist, aber ich neige zu dualen Konzepten, denen Kluge theoretisch explizit und in seinen literarischen Arrangements implizit auf hartnäckigste Weise den Boden zu verderben sucht. Auch das Böse sei nichts als das Gute, zur falschen Zeit, am falschen Ort. Worüber man lange gestritten hat und lange streiten könnte und streiten wird, vielleicht ein andermal mehr, aber darum geht es hier nicht.
Vielmehr darum, daß Kluge, wenn er über seine Texte spricht, gar nicht sie, sondern anhand seiner Texte die Wirklichkeit deutet und damit selber wie jeder andere seiner Leser auch, gegen die in seinen Texten stets vorhandene Verrätselungsstrategie opponiert. Was Kluges Texte oft in die Nähe der Gattung Anekdote rückt, ist der programmatische Verzicht auf Zusammenhang. So, wie wir uns die Weltbegebenheiten zusammengestrickt haben, finden wir sie bei Kluge nicht, die Maschen sind aufgetrennt. Wo immer wir durch seine Prosa etwas sehen, sehen wir eine Lücke im Weltgewebe. Diese Herstellung von Unvertrautheit, wird, wie gesagt, kompensiert durch die Aura des sicheren, souveränen Stils: Sie macht uns mit der Lücke vertraut und erlaubt uns, unsere Angst in Neugier umzuwandeln und zu sehen, welche anderen Verbindungen dieses Ereignisses mit den vielen anderen möglich sind – »ein Schlag tausend Verbindungen schlägt«, Lücke hin, Lücke her, »aus dieser Welt können wir nicht fallen« – ja, wäre da nicht die Kompensation der Kompensation (stilistisch existentiell geboten, denn sonst würden die Klugeschen Prosainseln zu Idyllen), die konsequente Verrätselung, die uns in eine Unsicherheit zweiter Ordnung, eine konstruktive stürzt: Welche Verbindungen wären denn haltbar und welche bloßes Hirngespinst? Und was stellt die Geschichte (lassen Sie mir diesen Doppelsinn durchgehen) eigentlich mit dieser Unterscheidung an?
Verrätseln ist eine schwierige Angelegenheit. Diffus Mehrdeutiges schreiben ist leicht, gutes Verrätseln setzt Eindeutigkeiten ebenso voraus wie der Zweifel Gewißheit. Wer durch das Rätsel eine Lücke reißen will, muß zuvor erzählend eng geknüpft haben. Gute Verrätseler sind selten; Perutz wäre zu nennen und, vor allem natürlich, Kafka. Der Name muß deshalb fallen, weil in Kluges neuem Buch Die Lücke, die der Teufel läßt ein Text steht, der, betitelt »Macht der Vorstellungskraft« in einer engsten kommunikativen Beziehung (und zwar nur auf Grund seiner Rätselstruktur) steht zu Kafkas Vordem Gesetz. Intendiert scheint mir (ich kann mich irren) diese Verbindung nicht zu sein, aber ich rate zur Doppellektüre. Sie werden feststellen, daß sich aus beiden Texten etwas wie ein Doppeltext herstellt, der – nun, probieren Sie’s aus.
In der für den ganzen Band titelgebenden Geschichte – auch sie rätselhaft genug und wie die »Macht der Vorstellungkraft« ein Rätsel thematisierend (und als Text die konzeptionellen Rätsel, die die titelgebenden Begriffe mit sich fuhren, entfaltend) – heißt es über einen Richter beim Inquisitionsgericht, der eine Angeklagte auf Grund von Tränen und mangels Beweisen laufen läßt, er sei »privat ein Liebhaber Ovids« gewesen. Kluge ist – ein programmatischer und kunstvoller Liebhaber Ovids. »Ovid«, sagt Kluge, »ist Montaignes Gott, Heiner Müllers und auch meiner.« »Ovid beschreibt in seinen Metamorphosen, daß Lebewesen, die leiden, sich lieber verwandeln, als weiter zu leiden. Das ist die ganze Geschichte der Metamorphosen. Natürlich sind das alles Fiktionen [...] es ist nicht wahr, daß Daphne sich in einen Lorbeerbaum verwandelte, nur weil ein gieriger Apoll hinter ihr her war. Als er sie fassen wollte, wurde sie ein Baum...« »Neue Metamorphosen« schrieb Arno Schmidt in Schwarze Spiegel »(frei nach Ovid, fiel mir in einem Ruinenfeld ein): Ein Windgott [...] verwandelt eine vor Russen fliehende Berlinerin in einen Schornstein. Oder den von Polypen verfolgten Waffenschmuggler in einen Trampdampfer der Reederei Rickmers.«(2) Ovids Metamorphosen sind die Großmetapher schlechthin für die Auffassung, daß der Welt poetisch beizukommen sei, dort selbst imperativisch formuliert: mutando perde figuram! Kluge teilt dieses poetische Urvertrauen. Daß eine diesbezüglich skeptische Haltung seine eigenen Texte anzuführen in der Lage wäre, zeigt, wie konzeptionell strapazierfähig es ist. Wie könnte es besser geehrt werden als mit der Verleihung eines Preises, der nach dem Verfasser des Woyzeck benannt ist.

(1) Der Krieg zum Beispiel ist, und vielleicht auch darum attraktiv, eine dramatische Kombination beider Momente. Abenteuer, Unsicherheit, Risiko in Permanenz und Organisation, Disziplin. Beides hat der Teilnehmer wie der Leser von Kriegs- bzw. Schlachtbeschreibungen.
(2) Kluge, Müller, Schmidt – wer noch? Auch ein unverächtliches Dissertationsthema.