Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Volker Braun

Writer
Born 7/5/1939
Member since 1996

... dessen Werke durch Tiefsinn, wortspielende Brillanz, Anspielungsreichtum und lyrische Intensität immer wieder zur Quelle des Vergnügens für denkende Leser werden.

Jury members
Juryvorsitz: Christian Meier
Peter Hamm, Harald Hartung, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Klaus Reichert, Lea Ritter-Santini, außerdem Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst)

Laudatory Address by Gustav Seibt
Historian, Literary critic and Journalist, born 1959

Das Wirklichgelungene

Das Überraschendste an der Nachricht, daß Volker Braun im Jahr 2000 den Büchnerpreis erhält, war, daß er ihn noch nicht hatte. Volker Braun und Georg Büchner, das sind zwei Namen, die seit dem ersten Auftreten Brauns so oft zusammen genannt wurden, daß sich schon bald die Formel verbreiten konnte, Braun sei der Büchner seines kleinen Landes. Mit pedantischem Humor könnte man die Parallele ausführen und behaupten, Brauns Stück ›Lenins Tod‹ sei sein ›Dantons Tod‹, die ›Unvollendete Geschichte‹ sein ›Lenz‹, und man müßte sich fragen, was nun sein ›Leonce und Lena‹ sei, das Stück ›Übergangsgesellschaft‹ oder doch eher der dramatische Roman von Hinze und Kunze mit seiner Dialektik des Stillstands. Brauns ›Hessischer Landbote‹ jedenfalls wäre dann sein entsetzlich wütender Traktat über ›Büchners Briefe‹ von 1978, in dem er schreibt, man müsse sich mitunter mit Gewalt daran erinnern, daß es nicht die eines Zeitgenossen seien, und wo es klipp und klar und ganz ohne philologische Umschweife heißt: Ich sehe heute keinen Grund, an Büchners Bekenntnis einen Abstrich zu machen. Solange eine Gesellschaft, sie mag mittlerweile wie immer heißen, auf Gewalt beruht, nämlich solange es »die da oben und die da unten« gibt, bedarf es der Gegengewalt, sie zu verändern.
Wollte Braun damals sagen, die DDR mit ihrer Zensur und ihren Spitzeln sei eine Art Großherzogtum Hessen? Kein Wunder, daß der Essay über Büchners Briefe, wie uns die Geschichte meldet, im »Apparat« kursierte und das Ende aller Verlagsvorhaben seines Verfassers bewirkte. Allerdings wäre, wie hier gleich eingeschoben werden muß, am Ende der siebziger Jahre das im Büchner-Aufsatz ausgesprochene Programm von der Zertrümmerung der Pyramide und der Aufhebung der vertikalen Arbeitsteilung auch im Westen nur unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz, nämlich bestenfalls taktisch preisverdächtig gewesen.
Die halbernste historische Analogie hat ihren seriösen Kern im geschichtsphilosophischen Denken eines Autors, der in Tatra und Wolga, den Automarken der herrschenden Klasse, die Nachfahren älterer Baureihen erkannte und vermutete, daß unter dem Lack vielleicht noch die stumpfe Mechanik der Vorzeit funktioniert: So rasch sind die neuen Zeiten nie erfunden; die Eisenbahn übernahm die Spurweite der Postkutsche, wie die Kutsche die Peitsche der Fuhrwerke beibehielt. So durfte Braun Hinze und Kunze, den Funktionär und den Chauffeur, als die Wiedergänger von Don Quichote und Sancho Pansa, von Jacques dem Fatalisten und seinem Herrn ohne weiteres auch einmal reiten lassen: Der Herr und sein Knecht ritten durch die preußische Prärie. Das Gras war gepflastert, die Bäume standen dünn in Reih und Glied wie her bestellt. Die Ortschaften, die sie passierten, schienen gereinigt, der gröbste Mist hinter Aufstellwände sekretiert. Es war ein wohlbeleuchteter Morgen, ein ruhiger Jubel lag über der Flur. Sie ritten brüderlich hintereinander, der Herr sah prüfend voraus, der Knecht hielt die Gurte des Gepäcks in den Zähnen und trieb die immermüden Gäule ein wenig zur Eile. Wer sie waren und zu welchem Ziele sie trabten, muß nicht mehr verschwiegen werden; heute weiß man, wohin der Weg führt.
Wieviel Geschichte steckt in diesen Sätzen, die 1985 in Leipzig endlich gedruckt werden durften, wieviel ist seither noch dazugekommen. Freilich, wo Geschichte sich vor allem wiederholt, sind selbst kleinere Abweichungen wichtig. Damals war, anders als in Kastilien dreihundert Jahre zuvor, der kleine Dicke der Chef und der lange Dünne der Fahrer, und mit ungeheurer Frechheit wird aus dem Morgenjubel von Diderots Aufklärung die gleisnerische Geputztheit einer Jubelstrecke durch die Ortschaften der einstigen Republik. Und wenn man in diesem Zusammenhang erfährt, der Weg der beiden Komiker sei immer vorwärts gegangen, dann hallt in dem kleinen unschuldigen Wort auf einmal der tiefe Abgrund an Vergeblichkeit unter der bisherigen Geschichte.
Verstehen wir das noch? Hat man es damals verstanden? Heute gelesen, erinnert der ›Hinze-Kunze-Roman‹ in seinen sprachlichen Mitteln, seinem historischen Mummenschanz, seiner Fiktionsironie und der trockenen parodistischen Luft, die in ihm vorherrscht, durchaus auch an Literatur der gleichen Zeit aus dem Westen, jener Stagnationsepoche, die man »Postmoderne« nannte. Man denke an Calvino und seine zeitlosen Ritter, an den Reisenden in einer Winternacht. So geistvoll war Volker Braun schon lange. Aber der Vergleich läßt doch vor allem den gewaltigen Unterschied erkennbar werden. Das Herbeizitieren historischer Epochen, mit dem wir im Westen uns während der achtziger Jahre ergötzten, jene heitere Gleichzeitigkeit ästhetisch genossener Vergangenheiten, zeigte ja wirklich nur, daß wir nichts Bestimmtes mehr vorhatten – was, nach einem Aperçu des Präsidenten dieser Akademie, geradezu die Definition von Postmoderne ist. Es herrschte zwischen dem, was da elegant in einem neuen Wohlstandshistorismus übereinandergeblendet wurde, keinerlei Spannung mehr. Der Sinn der historischen Zitate in Brauns ›Hinze-Kunze-Roman‹ ist dem genau entgegengesetzt. Die Puppenhaftigkeit der Figuren, der leerlaufende Witz der Dialoge, die ruckenden Kulissen an Stelle der frischen Natur, die zitierte Parolensprache, die Ersetzung des auktorialen Erzählers durch die autoritäre Hauptverwaltung Literatur – all das inszeniert gebremste Bewegung, gestaute Energie, abgebrochenes Sehnen, all das quält wie physischer Schmerz. Brauns Erzählung hat eine Richtung, sie will weiterkommen. Ihr fehlt jede Genügsamkeit.
Vielleicht darf man noch einen Vergleich riskieren. Auch zu Brauns ›Unvollendeter Geschichte‹ von 1975, der poetisch-expressiven Verarbeitung eines realen Falls, gibt es manche Parallelen in der gleichzeitigen westlichen Literatur; auch sie kannte damals das jugendliche Leiden, das Zerbrechen des einzelnen an den Umständen, die Konfrontation der verletzten Subjektivität mit dem »System«. Mancher erinnert sich vielleicht noch an die autobiographische Beichte ›Mars‹ des pseudonymen, an Krebs sterbenden Fritz Zorn, oder an Bernward Vespers ›Reise‹ – Bücher, die künstlerisch weit hinter der ›Unvollendeten Geschichte‹ Zurückbleiben, aber mit ihr den authentischen Verzweiflungston teilen. Freilich weist schon Brauns Titel in eine andere Dimension, die jenseits der vereinzelten Subjektivität liegt. Auch hier wird eine Richtung hinaus angezeigt, spürbar im Sehnsuchtsaroma der Erzählung, zum Beispiel in einer winzigen Wahrnehmung der unglücklichen Heldin: Sie saß dann irgendwo und sah die neuen Häuser, die aussahn wie aus einer vergangnen Zeit. Sätze wie dieser, die das seelische Unglück mit etwas Geschichtsphilosophischem vermählen, gehören zum Eigentümlichsten, was Volker Brauns Poesie der deutschen Literatur geschenkt hat.
Man könnte die Reihe der Vergleiche fortsetzen und Brauns Dramen zur Oktoberrevolution mit dem fast gleichzeitigen Marat-Sade-Stück von Peter Weiss konfrontieren oder den Büchner-Text von 1978 mit der bleiernen Zeit des deutschen Herbstes in Beziehung setzen – und käme so zu einer literarischen Parallelhistoriographie, die erstaunliche Berührungen zeigen und – von heute aus – die gemeinsame Zeitatmosphäre in der geteilten deutschen Literatur spürbar machen würde; die Entdeckung solcher grenzüberschreitenden Zeitgenossenschaft könnte manches heutige absichtsvolle Mißverständnis heilen. Doch vor allem wird dabei der grundsätzliche Eigensinn von Brauns Problemstellungen sichtbar. Der bürgerliche Laudator darf vielleicht von einem bezeichnenden Mißverständnis berichten. Als er die ›Unvollendete Geschichte‹ zum ersten Mal las, ganz gefangen vom Charme des Mitleids, die Braun ihr später selber kühl zubilligte, und zu dem berühmten Traum der geschundenen Heldin am Ende gelangte, da las er, wo bei Braun »Gleichheit« steht, erst einmal »Freiheit« – nur eine Sekunde lang und sogleich beschämt von dem peinlichen Lesefehler. Dieses Wort – so heißt es da von der Gleichheit – erschien Karin wie eine Erleuchtung, wie die Lösung aus den alten Verstrickungen. Beschämend ist der Lesefehler deshalb, weil er einem zeigt, wie man immer alles persönlich nimmt und auf sich bezieht, auf das Leiden des einzelnen. »Gleichheit« hat an dieser Stelle natürlich eine ganz andere Sprengkraft; nicht nur, weil der Vorwurf fehlender Gleichheit in einem System, das sich auf »Gleichheit« gewissermaßen spezialisiert hatte, die viel schärfer treffende Anklage war, sondern auch, weil in einem so vermachteten System – wo der Staat die Gesellschaft geschluckt hat – das Verlangen nach Gleichheit ja die Freiheit aller anderen mitdenkt. Fehlende Egalität ist in der Tat das Grundgebrechen einer Ordnung gewesen, die den zwischenmenschlichen Verrat staatlich organisiert hat.
Die ›Unvollendete Geschichte‹ nahm den entsetzlichen Fall, von dem sie berichtete, bei aller Zartheit in der Darstellung des jugendlichen Unglücks, wie schon der Titel der Erzählung ankündigt, nicht seelisch, sondern menschheitlich. Sie zeigt eine Konsequenz jener vertikalen Arbeitsteilung, deren Aufhebung der Text über Büchners Briefe fordert und die Brauns Stück ›Großer Frieden‹ umfassend verhandelt. Der Begriff hat es in sich, denn er nimmt zwei Sphären zusammen, die auch der Marxismus oft getrennt gedacht hat, Ökonomie und politisches System. Aufhebung der vertikalen Arbeitsteilung ist als Gleichheitsforderung in der Staatsgesellschaft ebenso eine Freiheitsforderung, und zwar eine, die sitzt, weil sie jene Kollektive einbezieht, die angeblich schon an der Macht sind. Eigentlich ist es, der Preisträger möge die Formulierung nicht krummnehmen, eine antileninistische Forderung.
Man kommt bei diesem Autor schnell ins Räsonnieren, so als läse man einen der philosophisch hochgestimmten Dichter aus Deutschlands klassischer Kunstperiode. Aber soviel Braun der Epoche von Klopstock bis Büchner verdankt, sosehr seine Kunst durch Zitat und Variation dazu beitrug, dieses Erbe zu beleben und fortzuentwickeln, so irrig wäre das Bild von einem Ideenpoeten. Das ist Braun zwar auch, vermutlich sogar der einzige, den die deutsche Literatur der letzten Jahrzehnte hervorgebracht hat; aber er hat zugleich ein Bild seiner Welt geschaffen, das eindringlicher nicht gedacht werden kann. Von den frühen autobiographischen Texten über ›Kipper‹, ›Tinka‹, die ›Unvollendete Geschichte‹ zur ›Übergangsgesellschaft‹ und dem Roman zwischen Funktionär und Fahrer wurde Brauns Werk zu einer Chronik, die erzählt, was im sozialistischen Deutschland gewollt und ersehnt, aber auch, was real gelebt und gearbeitet wurde. Daß die Historie, die aus dieser Chronik wird, am Ende tragisch wirkt, voller Schuld und Vergeblichkeit, ändert nichts am Erbarmen, dem Witz, der Sinnlichkeit, die diese Texte ihre geschichtliche
Umwelt siegreich überleben lassen. Von Kippers Dreckarbeit bis zum Wohnzimmer von Frau Kunze, vom Leipziger Literaturhörsaal bis zur Redaktionsstube der Magdeburger Lokalzeitung: Wer Braun gelesen hat, weiß, was gewesen ist in dieser Epoche der deutschen Geschichte. Selbst aus dem Westen hereingeschneite Neuberliner tun bis heute gut daran, mit Kunze einmal die Schönhauser Allee hinabzuwandern und ein nachdenkliches Wiedererkennen zu feiern.
Das tiefsinnigste dieser Bilder ist vielleicht die Geschichte von den ›Vier Werkzeugmachern‹ aus dem Jahre 1996, das die alte Welt im Moment ihrer Auflösung zeigt. Was da so kalt und vollkommen im halb kleistischen, halb altitalienischen Novellenton daherkommt und den fürchterlichen Zusammenhang von Entfremdung und Arbeitslosigkeit entfaltet – wiederum mit einem subtilen theoretischen Subtext –, geht nun schon alle an. Denn in dem Untergang des Schöneweider Transformatorenwerks wird doch weit über den ostdeutschen Abwicklungsfall hinaus das Ende einer ganzen historischen Formation sichtbar, der heute bereits archaisch wirkenden, klassischen Industriearbeit mit ihrer stählernen Schwere samt den an sie gebundenen Bewußtseinsformen. Wieder ist es Braun hier gelungen, ein Menschheitsbild zu schaffen und einen geschichtsphilosophischen Moment festzuhalten. Das Abmagern der feisten Arbeiter zu wesenlosen Wichten – ist es nicht die Allegorie des neuen elektronisch-globalen Weltprozesses, der unser aller Leben derzeit umkrempelt?
Was ist das für ein Dichten? Der menschheitlich-geschichtsphilosophische Anspruch von Brauns Kunstanstrengung verbietet jenes poetische Brutzeln des Seelenfetts, das sein Rimbaud-Essay an Trakl verhöhnte, aber auch den geistlosen Handbetrieb der Avantgarde einer in die Kunstautonomie emigrierten poetischen Moderne, deren Gebrauchswert gegen Null strebt und die Dichten zu Beschäftigungstheorie macht. Doch auch der Dichter als politischer Führer und Stichwortgeber des gesellschaftlichen Fortschritts hat in einer von Gleichheitsidealen so durchtränkten Poetik selbstverständlich ausgedient.
In Brauns Poesie erscheint wunderbarerweise der philosophische Gegensatz von Idealismus und Materialismus ebenso aufgehoben wie der Zwiespalt von Freiheit und Gleichheit. Denn diese Dichtung mißt die ganze Spanne der menschlichen Existenz vom Leiblichen bis zum Idealen aus, sie nimmt die Existenz des Menschen in dem Schmerz und der Lust der Körper wahr und in seinem himmlisch-hilflosen Träumen von der Versöhnung, dem umfassenden Glück der Gleichheit, die eine größere Liebe ist. Das ist der doppelte Standpunkt, auf dem »Gleichheit« nicht einfach eine politische Maxime ist, sondern Naturwahrheit und Kunstwahrheit in einem: eine Art Nervosität,
Brüderlichkeit als poetisches Prinzip, als Blick auf die Welt. Ich will nichts haben, wovon nicht ein jeder seinen Teil haben kann unter gleichen Bedingungen: Das ist ein Satz in einem Gedicht, das sonst nur Wahrnehmungen sammelt, Bilder von Manhattan. Den Funktionär Kunze sehen wir nicht nur als Vortragsredner offizieller Lehren, sondern auch in der Sauna mit seiner schweiß-beperlten Wolle – Fleisch neben anderem Fleisch. Man sagt vielleicht zu wenig, wenn man Brauns Dichten geschichtsphilosophisch nennt; eher müßte man es naturgeschichtlich heißen – eine Spannweite, die erst seine Werke der letzten Zeit, seit dem ›Bodenlosen Satz‹, dem ›Großen Frieden‹ bis zu den mythischen Stücken der Nachwendezeit ganz entfaltet haben, die aber schon in den ergreifenden Naturbildern der ›Unvollendeten Geschichte‹ angelegt war.
Was für ein Pathos! Doch im Raum zwischen den Polen von Leib und ideal, in der relativen, unvollkommenen, leidenden Sphäre einer stockenden und oft dummen Geschichtlichkeit entfaltet sich Brauns berühmter dialektischer Witz, sein satirischer Humor, seine zuweilen furchteinflößende Brillanz: Sie antwortet mit materialistischer Frechheit und idealistischer Unerbittlichkeit auf die jeweils herrschenden Verhältnisse, indem sie ihnen das Wort im Munde herumdreht. Mit hamletgleicher Insistenz betrachtet er die herrschenden Begriffe von allen Seiten, führt sie auf ihren materiellen Grund zurück und entwickelt zugleich ihre eingeborene Wahrheit. Das ist eine große Desillusionierungskunst vor dem Horizont eines nüchternen Idealismus. Man ertappt sich manchmal dabei, es zu bedauern, daß der Reklameschwall des Kapitalismus Volker Brauns Scharfsinn eher noch stärker unterfordert als die Begriffsattrappen der sozialistischen Parteidoktrin.
Es war nichts als ein Kategorienfehler, von diesem Autor 1989/90 ostentatives Aufatmen oder politische Bekenntnisse zur neuen Ordnung, überhaupt Tagesansichten, zu erwarten. Das Politische ist bei Volker Braun etwas Relatives, bedeutungsvoll erst in einem umfassenderen Zusammenhang. Seine politischen Äußerungen sind sowohl wörtlicher als auch poetischer zu nehmen als in der bürgerlichen Öffentlichkeit üblich; das mag man bedauern, doch es schließt ja das Verstehen nicht aus, wenn man nur gutwillig zuhört. Erst 1995 hat Braun uns bewußtgemacht, daß er schon ganz Anderes erlebt hatte als die friedliche Revolution von 1989: den Untergang Dresdens am 13. Februar 1945. Vom Wachwitzer Weinberg habe er stundenlang, das Physikbuch auf den Knien, auf die leuchtenden Trümmer gesehen. Der entsetzliche Widerspruch von Grauen und Schönheit, die Wirkung von Tod und Kunst, so schrieb Braun zu dem berühmten Bild, das die über eine Trümmerlandschaft sich beugendende Frauenfigur zeigt, rückte mir die Geschichte in ein scharfes Licht, als etwas Gewaltsames und Offenes, das Anteilnahme und Widerspruch fordert. Gegen den unschöpferischen Neuaufbau habe das dresdner Dichten sein Formbewußtsein gesetzt, den festen oder zertrümmerten Bau der Gedichte, den gestischen Vers und darunterliegend das ernste Maß der Blankzeile.
Liegt hier nicht der Ausgangspunkt dieser Kunst? Ist hier nicht die Brandstätte, auf der die Wortschöpfungen voller Pathos und Philosophie mit ihrer Spannung von Scharfsinn und Versmaß, Eleganz und Entsetzen, Trauer und Witz erst entstehen konnten? Eine furchtbare Objektivität kennzeichnet das Klima dieser Dichtung, ein Schmerz und eine Hoffnung, die zu groß scheinen, um in die gemäßigten Konventionen des öffentlichen Gesprächs Eingang zu finden. Volker Brauns Rückgriff auf die philosophische Epoche der deutschen Literatur, auf Ode und Epigramm, Traktat und Dialog, auf Schillers und Büchners Geschichtsdrama, Kleists Periodenbau, all dies bereichert und gebrochen durch die Körperlichkeit seiner verwundeten Epoche – dieser Neuansatz mit klassischen Formen ist so kühn wie historisch überzeugend. Volker Brauns Dichtung bezeichnet eine der großen Möglichkeiten der Kunst in unserer Epoche. Sie ist radikal und süß, sinnlich und verstiegen. Vor allem aber ist sie ganz Sprache, neue und liebevoll bewahrte Sprache, herb, genau, geistreich, melancholisch, rhythmisch und melodisch: so wie Sie es jetzt gleich hören werden.