Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Marie Luise Kaschnitz

Writer
Born 31/1/1901
Deceased 10/10/1974
Member since 1949
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Stets dem Geiste zugewandt, Antikisches und Heutiges in humanem Sinne verbindend und auf eine neue für uns gültige Weise formend...

Jury members
Juryvorsitz: Hermann Kasack
Friedrich Bischoff, Bernard von Brentano, Kasimir Edschmid, Rudolf Hagelstange, Gertrud von le Fort, Wilhelm Lehmann, Rudolf Pechel (Ehrenpräsident), Rudolf Alexander Schröder (Ehrenpräsident), Gerhard Storz, Fritz Usinger

Laudatory Address by Kasimir Edschmid
Writer and Journalist, born 1890

Laudatio auf Marie Luise Kaschnitz

Es ist vielleicht nicht Sitte, bei Würdigungen wie dieser, durch den Büchnerpreis gegebenen, von einem privaten Standpunkt auszugehen, und wahrscheinlich ist es auch wenig akademisch, aber warum sollte man es nicht tun, wenn die menschlichen Voraussetzungen es gestatten, und ich denke, sie erlauben es.

In einigen Ihrer Bücher, liebe Marie Luise Kaschnitz, sprechen Sie von Ihrem Vater. Sie beschwören die Erinnerung an ihn, indem Sie sein Leben bis zum Tode begleiten und vom Tode wiederum in seltsamer Klage zum Leben zurückfinden. Ich habe Ihren Vater gekannt und diese noble Gestalt verehrt. Er hatte die Güte, mich nach Bolschweil bei Freiburg einzuladen und er zeigte mir freundliche Anerkennung lange ehe ich Sie selbst kannte. Ich erwähne dies nicht nur, weil Atmosphärisches auch zum Werk hin Verbindung schafft, sondern weil ich, indem ich den Schatten Ihres Vaters herauf rufe, mir bewußt bin, eine Generation anzusprechen, die schon, als sei es Hunderte von Jahren her, durch die erschreckenden, von der Zeit verursachten Veränderungen in den Horizont unseres Bewußtseins geglitten ist. Ihr Vater war ein ausdrucksvoller, hochgestellter Repräsentant jener kaiserlichen Epoche, deren Charakter die heutige Generation kaum mehr zu verstehen vermag. Ja, gemessen an Ihrem mit Experimenten geladenen, von elektrischen Blitzen durchzuckten Büchern, erscheint mir die Polarität dessen, was den ruhigen Sinnesadel dieses ritterlichen Mannes betrifft, und die Kühnheit, mit der Sie sich in die Schlacht des Geistes und die Wollust, Neues zu formen, stürzen, fast unausmeßbar. Um so tiefer ergreift mich jedesmal beim Lesen ein Gedicht, das Sie vor beinahe zwanzig Jahren schrieben und Ihrem Vater widmeten und das jenen kosmischen Klang hat, den viele Ihrer frühen Dichtungen besitzen. Mit Ihrer Erlaubnis will ich es hier vorlesen:

»Die Seele
Meinem Vater
Es geht dein Leib, dein schönes Angesicht
Zur Erde ein, daß Erde ihn erneue
Wird schwarze Taxuswand und Windenbläue
Ein Tropfen Tau im siebenfarbnen Licht.
Es steigt dein freier kalter Geist ins All,
Empor in jenes Reich demantner Kühle
Wird Licht im Licht, Stern in der Sternenfülle
Ein reiner Klang im ehernen Choral.
Zuweilen nur, im Anbeginn der Nacht
Wird das Geäst ein schwerer Flügel streifen
Und durch den Garten, wo die Früchte reifen
Geht deine Seele, die ums Leben klagt.«

Es ist möglich, daß Sie, wie viele Dichter, die in unruhigen Zeiten leben und stark bewegte Kurven in ihrem Werk zeigen, sich vielleicht heute zu vielen Versen Ihrer Anfangszeit distanziert einstellen. Das ist menschlich und auch das Natürliche. Denn wenn man auch nicht unbedingt an das Besserwerden der Welt glaubt oder daran, daß es möglich ist, die Menschen zu ändern oder sie zu begrenzten Höhepunkten zu führen (ich selbst glaube daran, denn wie könnte ich sonst existieren?) so lebt der schöpferische Mensch doch ohne Zweifel – er kann ja nicht anders, da er Gestalter ist – in der Spannung jeweils Vollendeteres formen zu wollen. Wie dem auch sei, wenn wir nicht nur vom literarischen sondern vom menschlichen Standpunkt aus zurückblicken, so haben Ihre Gedichte, die während des Krieges, an Tagen, die wie erstarrt zwischen Bombennächten lagen, in der »Frankfurter Zeitung« erschienen, einer breiten Schicht von Menschen den Glauben erhalten, daß es jenseits der Greuel, der Angst, der Barbarei, des Entsetzens und Mordens doch noch jenes »Einzigartige« gibt, das vom Ewigen zeugt, das die Schönheit liebt und das den Menschen nicht etwa im Sentimentalen sondern im Humanen anrührt und beglückt.

Sie können des Dankes dieser Menschen in vollem Bewußtsein sicher sein, einerlei ob diese Ihnen später auf Ihrer Bahn folgen oder überhaupt folgen konnten. Jedenfalls traf sich damals etwas exemplarisch Seltenes: Ihr Erlebnis des Schmerzes und Ihr stolzes Sichaufrecken über das Leid hinaus berührte sich mit den Gefühlen der besten Schichten der Nation, Ihr Gedicht war der Ausdruck der Epoche und gleichzeitig die Überwindung dessen, was in dieser Zeit satanisch war. Ihre Aussage war im Kern Opposition und positives Bekenntnis.


Ihr Weg über verschiedene schmale Bände blieb in der Folge ein sichtliches Ringen um den Ihnen gemäßesten formalen und gedanklichen Ausdruck. Sie schrieben Hörspiele und Zeitgedichte und Erzählungen – und Sie bekannten sich im Nacherzählen und Ausdeuten antiker Sagen, Geschehnisse und Mythen zu jener Gesinnung, die in Hellas das Abendland schlechthin und den Boden sieht, auf dem unsere geistige Existenz ruht... trotz aller Skepsis und trotz unserer im Allgemeinen beispiellos veränderten Daseinslage.

Es gibt da ein Kapitel, in dem Sie das Verhalten des Odysseus schildern, der vom Kap der Circe aus einen Ausflug in die Unterwelt macht, um den alten Zukunftdeuter Theiresias zu sprechen. Zu seinem Erstaunen findet er an der Schwelle des Hades einen seiner Matrosen namens Elpenor, einen dummen und nicht einmal tapferen Burschen, der in der vergangenen Nacht in der Betrunkenheit vom Dach der Circe gestürzt ist und sich das Genick gebrochen hat. Seine Seele ist rascher gereist als das schwarze Meerschiff des Odysseus. Odysseus spricht mit ihm, ehe er seine Mutter und die Scharen anderer Schatten anredet. Der Mann jammert ihn, weil er verzweifelt ist, denn er darf nicht mehr leben und kann noch nicht in das Reich der Toten eingehen, weil die Zeremonien noch nicht vollzogen sind, seine Verbrennung und die Aufrichtung seines Ruders auf dem Grabhügel, Handlungen, die ihn erst von der Oberwelt freimachen. Dieses Zusammentreffen, welches die antike Welt stark beschäftigte, das Homer aber nur nebenbei erwähnt, ist für Ihre Betrachtung eines der Hauptbegebnisse dieser über Jahrtausende unerhört gerühmten Unterweltsfahrt, ja es beweist Ihnen, wie durchaus realistisch und doch mythisch die Beziehung zwischen Dasein und Tod sich offenbart. Denn Odysseus erlebt hier sinnbildhaft die tiefste Traurigkeit, das Wissen um den letzten Schmerz, der vor dem Hinüberwechseln aus dem einen Dasein in das andere jenseitige Leben liegt.

Es hätte natürlich viel näher gelegen und ich gestehe, daß ich den besonderen Akzent darauf gelegt hätte, von dem Zusammentreffen des Odysseus mit Achilleus zu sprechen, den Odysseus hier in der Unterwelt darum preist, daß er auch bei den Schatten König sei, worauf Achilleus mit der größten Apotheose antwortet, die je in der Dichtung dem Leben gespendet wurde: indem er sagt, er möge lieber auf der Erde oben als Knecht bei einem dürftigen Mann mit geringem Besitz gegen Tagelohn pflügen, als Herrscher der abgeschiedenen Seelen zu sein.

Hier wie anderswo erweisen Sie sich als Kennerin der antiken Welt und als Wissende um ihre Geheimnisse, aber Sie zeigen sich auch als eine strenge Diagnostikerin, eine vom Verstand immer, selbst im Reich der Unirdischen, scharf geleitete Könnerin, und ich sage nicht zuviel, wenn ich Ihre Position in jenem Umkreis feststelle, der mit dem Namen, den ich verehrungsvoll ausspreche, dem Namen Ricarda Huch bezeichnet ist – wenn wir davon absehen wollen, daß diese große Tote eher der Geschichte als dem Mythos Deutung gab. Aber wie sie es tat, mit einem Griff, den ich, mit der Bitte nicht mißverstanden zu werden, als männlich bezeichnen könnte, ich meine hart, kristallklar, nicht verschwommen, nicht geistreich sondern geistvoll – so stehen Sie mit Kennen und Können inmitten der antikischen Welt, der Sie ja in vielen Gedichten, zumal denen an Rom gehuldigt haben.

Es ist wahr, Sie sind dem Mythos immer näher als der Geschichte und es ist wohl die Art der Frau überhaupt, sich zu den Hieroglyphen der mythischen Vorgänge mehr hingezogen zu fühlen als zu den Schicksalsergebnissen der Geschichte... der Geschichte, die Ihnen wahrscheinlich im Grunde nur eine Ansammlung von Greueln ist. Sie haben in Ihrem letzten Buch die »Engelsbrücke«, Römische Betrachtungen, ein kleines Kapitel »Mythos und Politik«, in dem Sie – nehmen wir an, Sie ständen auf dem Forum Romanum – die ganze römische Plastik mit Unwillen vom Tisch fegen. Diese Kunst ist für Sie nur der Ausdruck staatlicher und auf Staatstugenden bezogener Hymnik, im besten Falle langweilig und im übrigen Verherrlichung von Kriegstaten, Preis des Militarismus, Verklärung der Barbarei usw... im Gegensatz zur griechischen Plastik, die dem Mythos zugeneigte Schöpfungen formt.

Nun, ich will nicht davon reden, daß zum Beispiel auch soziale Taten und anderes, was Verklärung angeht, auf den römischen Bildnissen dargestellt wurde, ich will nicht darauf bestehen, daß das Porträt als Ausdruck des individuellen Wertes und persönlichen Wertes erst in Rom geschaffen wurde, ich will nicht davon sprechen, daß Rom auch in hohem Maße anfällig für die Mythen der Griechen, der Etrusker, der Ägypter und des Orients überhaupt gewesen ist, aber ich will davon reden, daß Rom, in seinem staatlichen Bau längst hätte einstürzen müssen wie Hellas, wenn es nicht diese großartige historische Ordnung und diese Gesinnung zum Staat als schöpferische Kraft besessen hätte, die es diesem Staat erlaubt hat, mehr Jahrhunderte als fast alle Staaten der Welt zu existieren und ein Reich nicht der Gewalt sondern der Pazifizierung aufzurichten und es sauber und klar vor die Nachwelt zu stellen (bei allen Scheußlichkeiten natürlich, die hier wie bei jedem menschlichen Tun unterliefen) einen Staat, der sogar von dem Krieg verlangte, daß er nur »fromm und gerecht« sein dürfe. Wenn man hier vergleichen will... ach wie grauenhaft, ach wie entsetzlich ging es, wenn es überhaupt erlaubt ist, hier eine Parallele anzusetzen, in den griechischen Mythen zu.

Liebe Marie Luise Kaschnitz, ich bin hier, um Sie zu preisen und nicht um mit Ihnen zu hadern, obwohl es meiner Natur entspricht, wie der von Ihnen verehrte Carducci sagt: »predicare non posso senza maledire«. Aber ich finde es angenehm, daß Ihr Werk so angelegt ist, um darüber diskutieren zu müssen.

Ich verrate nichts, wenn ich gestehe, daß gerade das Buch von der »Engelsbrücke« meisterlich ist, obwohl ich mich hie und da bei der Lektüre heftig über Sie geärgert habe. Zum Beispiel, wenn Sie von dem großen Gregorovius, der heute noch so lebendig ist wie je, sagen, er habe süßlich über eine Ruinenstadt im Volskerland geschrieben. Aber es handelt sich dabei um Kleinigkeiten.

Ich bin wie Sie wissen, kein Fremder in der Stadt, die Sie in Ihrem letzten Buch durch das Prisma Ihres Wesens sehen, und ich habe mit Entzücken nunmehr die Stadt, ohne persönlich etwas Neues zu erfahren, durchaus neu erblickt. Es war reizvoll zu beobachten, wie Ihr Verstand, der Sie zwingt, in neue Experimente des Schöpferischen und neue Kategorien des Denkens vorzustoßen, zusammenprallt mit Ihrem Hang, die Welt in Symbolen zu schauen, sie nicht mathematisch zu erkennen, sondern in jenem Mythos zu suchen, der sich der Ratio dauernd wieder entzieht. Dieser Kampfplatz in Ihnen selbst liegt auf hoher Ebene und ihn zu betrachten ist recht reizvoll. Die Suggestion Roms auf Sie ist ungeheuer, aber die Abwehrkräfte in Ihnen, die Sie sich Ihrer eigenen Epoche verbunden fühlen, lehnen sich dagegen auf, Sie wollen sich nicht vergewaltigen lassen von etwas, das gewesen ist, Sie wollen denkerisch Repräsentant Ihrer eigenen Zeit sein und mit dem Barometer Ihrer Dekade urteilen und also Distanz nehmen zu der ungeheuren summa des in Rom schon aufgespeicherten Geistesgutes – aber Sie lieben und verehren das Antikische doch, obwohl Sie sich dabei selbst im Wege stehen. So sind Sie, um es beispielhaft zu sagen, entzückt von der römischen Engelsbrücke, aber Sie sind zu gleicher Zeit bereit, aus der Entzückung wie aus einem Pullover herausschlüpfend, rasch alles mögliche nicht Gelungene oder Häßliche an den Figuren auf der Brücke, ihren Gesichten und Gesten zu finden... aber dann neigen Sie doch das Haupt, wenn die Pinien sich vor den goldenen Schicksals-Himmel der Campagna stellen.

Mit Ihrem Gemüt und Ihrem Verstand formen Sie ein Bild Roms und damit der Welt überhaupt, das rätselhaft gebrochen erscheint, nicht zum wenigsten dadurch, daß diejenige, die dies Bild schafft, sich im Geiste über ihr Werk hinaus den dunklen Versuchungen zuneigt, die sie anziehen und bedrängen, so wie auch Odysseus einst, statt zu dem freundlichen Ithaka aufzubrechen, erst noch, auf göttliche Weisung, die Fahrt in die Unterwelt unternahm.

Dabei ist Ihr Wesen immerzu bereit, den eigenen Weg, auch in der Rückschau, zu sichten und zu deuten und zwischen den Fährnissen der eigenen Konstitution das eifrig zu suchen, was Sie »zwischen Verzicht und Behauptung die humane Mitte« nennen.

Darin liegt etwas Abenteuerliches und Besonderes: dieser Wagemut neben so viel Ordnungsgefühl, dieses nahe Begreifen des Todesmysteriums neben so viel Lebenskraft – so wie Sie es dargestellt haben in dem ergreifenden Halbdunkel der Erzählung von Ihrem Vater und seiner Trauer um seinen Rappen und in der Schilderung der Totenmesse von Ludwig Curtius in Rom, und so enden Sie auch, viel versprechend, dies Rombuch letzter Hand mit der vielsagenden sich selbst gegenüber hochmütigen Geste: »genug des vernünftigen Auf Zeichnens, hinein in das Herz der Dinge, aus ihm zu schweigen oder zu reden, entrückt und verwandelt in der Zeichensprache des Gedichts«.

Sie geben sich damit selbst die Parole: hinaus in neue Fährnisse des Geistes. Wir rufen Ihnen dazu unser »Brundisium« zu, den Glückwunschgruß der Antike für diejenigen, welche sich dem ungewissen Meer des Ozeans und des Geistes anvertrauten.