Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Karl Krolow

Writer
Born 11/3/1915
Deceased 21/6/1999
Member since 1954

Sein dichterisches Werk vereinigt poetische Überlieferung und moderne Ausdruckskraft.

Jury members
Ehrenpräsidenten: Rudolf Pechel und Rudolf Alexander Schröder
Präsident: Hermann Kasack
Vizepräsidenten: Kasimir Edschmid, Fritz Usinger und Gerhard Storz
Beirat: Friedrich Bischoff, Adolf Grimme, Rudolf Hagelstange, Wilhelm Lehmann, Fritz Martini und Gerhart Pohl.

Laudatory Address by Ernst Kreuder
Writer, born 1903

Dichtung als existentielles Experiment

Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1956 an einen jüngeren Lyriker wird bei manchen Zeitgenossen vielleicht Verwunderung erregen. Als Gottfried Benn in Darmstadt mit diesem Preise ausgezeichnet wurde, war er fünfundsechzig. Karl Krolow ist nicht ganz fünfundzwanzig Jahre jünger.

Von den Vorurteilen, Künstlern gegenüber, überstand den Zusammenbruch auch die Forderung nach einem herkömmlich preis-würdigen Schaffensalter. Wenn wir uns jedoch, im Hinblick auf die großen schöpferischen Namen des deutschen Schrifttums, nur der Todesernte dieses einen Jahres erinnern, dann sollte es keinen mehr nach solchen Vorurteilen gelüsten. Ich denke an die Grabinschriften von Gottfried Benn, Ludwig Klages,Hans-Hasso von Veltheim-Ostrau, Bert Brecht und Hans Carossa. Man wird vor diesem Todesregister die Empfindung einer mahnenden Beunruhigung nicht mehr verleugnen können. –

Von allen schreibenden Künstlern, scheint mir, hat es der Lyriker in einem besonderen, spezifischen Sinne mit den Empfindungen zu tun. Er ist ohne Zweifel ein Mann, der sich entschließt, seine Empfindungen zu seinem Beruf zu machen. Das bedeutet, er wird davon leben müssen. Die Bundesrepublik bezahlt nicht ihre Lyriker. Er wird vermutlich eine Familie damit ernähren müssen. Sicherlich hat er sich, bei diesem Experiment, das nicht von vorneherein vorgenommen. Wissenschaftliche Versuche gefährden, mit geringen Ausnahmen, nicht das Leben unserer Gelehrten. Der Dichter experimentiert heute nicht nur mit der Sprache, sondern auch mit seiner Existenz. Er arbeitet in der freiwilligen Schutzlosigkeit, die Einkünfte bleiben ungesichert, sein Lebensabend wird ebenso abenteuerlich ungewiß werden wie sein Lebensmittag.

Krolows Gedichte besäßen, neben anderen Eigenschaften, vermutlich nicht dieses geisterhaft Beunruhigende, wenn er nicht ständig, mit seiner Begabung und mit seinem Leben, ohne Netz arbeiten müßte. Sie werden diesen Ausdruck aus der Manege kennen.

Aber auch über einen Lyriker zu sprechen, ist, sagen wir, eine »luftige« Angelegenheit. Der Romancier, der Dramatiker –, das ist kompakter, greifbarer. Ein Gedicht erscheint neben einem Drama, neben einem Roman wie ohne Volumen, gewichtlos, ein Hauch. Man kann es vorweisen, doch niemals kann man seinen Kunstwert beweisen. Vielen wird es, gerade heute, als nutzlos Vorkommen, wertlos, zumindest als überflüssig. Überflüssig wie so manches, was uns noch unerwartet entzücken kann. Auf den Sommerwiesen hörten wir ein Pferd hinterm Gatter wiehern. Nach einem Abstieg ins Tal hörten wir noch lange und fern den Jodelruf der Almhüter. Vorgänge, die uns unerklärlich, vielleicht nur für den Augenblick, befreien. Das Brausen der Luft in den Wäldern, das rauschende Tosen der Brandung hinter der Küste, aber auch das heulende Pfeifen einer Lokomotive in der nebligen Tagesfrühe, nutzlose Eindrücke von geheimer Intensität. Doch das Gedicht ist nicht nur geschaffen, um uns zu entzücken. Längst nimmt auch der schöpferische Prozeß der Kunst an der Enträtselung des Daseins teil. –

Verse von Krolow waren mir seit Jahren bekannt, bis mich eines Tages ein Gedicht von ihm stutzig machte. Es steht in dem Bändchen »Heimsuchung« von 1948 und heißt »Gegenwart«. Zunächst begegnen wir Sinneseindrücken, dann wird plötzlich eine fremde, unsichtbare Dimension angetastet:

»Der Mauerputz blättert
In rötlichen Schuppen,
Weht unter die Füße
Mir Schmetterlingspuppen.
Im Aussatz des Steines, im kalkigen Grind,
Blühn fleischlich die Tage, die jenseitig sind.«

Wer immer es unternimmt, nutzlose Wahrnehmungen, vergängliche Empfindungen, sich zur Erforschung vorzunehmen, wer sich den Umgang mit Eindrücken und ihre Verwandlung ins Bleibende zur ausschließlichen Beschäftigung erwählt, zur Lebensarbeit, der darf ohne den Nachweis von Lehranstalten, ohne »Zulassung« die Gezeiten des Daseins schauen, er darf die Straßen der praktischen Vernunft hinter sich lassen. Denn er wird in die außermenschlichen Bezirke der Wirklichkeit Vordringen, nicht nur als Besucher, er wird sich mit dem Weltgrund ins Gespräch wagen. Er darf, wie Krolow, in seinem Gedicht »Wasserlandschaft«, sagen:

»Widerschein der Vogelwolke
Glänzt wie feuchter Lack.
Und ich spreche mit des Windes
Leisem Dudelsack.«

Man hat Krolow eine Zeitlang als Naturlyriker bezeichnet. Wer diese Dichtungsart nicht oberflächlich betrachtet, wer nicht harmlose, bukolische Idyllik damit meint, dem muß nicht gesagt werden, daß der Dichter die Natur als magische Fülle erfährt, den Kosmos als Geheimnis. Wenn der Schutt des Wissens zur Seite geräumt ist, wird der Dichter die Welt noch einmal neu sehen, zwar nicht wie am Tage der Schöpfung (sie wurde seither zunehmend und mechanisch verunstaltet und verwüstet), aber doch wieder wie zum ersten Male. Und nicht nur den Mond, die Frühe, die flutenden Wasser, er erlebt noch einmal den Wind, die Stille, die Grashalme an einem Feldweg: wie zum ersten Mal als Empfindung entdeckt und ins Gedicht überführt, mit den Netzen der Sprache aus dem Hinschwinden geborgen. Das geschieht nicht mit hergebrachten, nicht mit ortsüblichen oder handelsüblichen Worten. Wenn Krolow im Gedicht die »indianische Hautfarbe des Nachmittags« einblendet, wenn er vom »schmelzenden Metall einer Frauenschulter« spricht, dann mußte das erst gefunden werden von ihm, erfunden, mit neuen Ausdrucksmitteln erschaffen, damit es uns eines Tages selbstverständlich wird wie andere Metapher, wie die von der »kandisfarbenen Frühe«, vom »feurigen Schutt des Mittags« oder die von dem »Kalk der Schlaflosigkeit«. –

Krolow bildet diese Welt nicht nur noch einmal mit Worten nach. Er tut mehr. Er errät Vorgänge der sichtbaren und unsichtbaren Wirklichkeit, jenseits wissenschaftlicher Bestimmungen. Die Geschichte wissenschaftlicher Wahrheiten ist nicht frei von Trugschlüssen, Irrtümern, Widerlegungen, Berichtigungen. Bei den Künsten sind solche Unstimmigkeiten so wenig vorstellbar wie der Gedanke, der Wind widerlege das Licht oder Wasser könne sich irren. Dafür bleiben die Wahrheiten der Kunst unbeweisbar. Gedichte lassen sich nicht definieren wie Begriffe. –

Als moderner Lyriker kennt Krolow nicht nur die gegenwärtige Struktur der inländischen Lyrik. Er ist unterrichtet über den Pegelstand der Lyrik des Auslandes. Das bedeutet, er arbeitet auch mit Errungenschaften der französischen und spanischen Surrealisten, nützt ihre Verfremdungsentdeckungen und weiß um die Ausdrucksmöglichkeiten des Alogischen, des Irrealen, des Halluzinatorischen –, Grenzergebnisse, die seit Rimbaud und Lautréamont zur Thematik der Dichtung geworden sind Er wird daher die Leser enttäuschen, die bodenständige Klänge erwarten, denen die übliche, repräsentative oder »klassische« Bildungslyrik gewohnt ist. Dafür wird der anspruchsvolle Leser den Strömungen der avantgardistischen Weltlyrik begegnen. Sie ist legitimiert durch Namen wie Ezra Pound, Lorca, Eliot, Saint-John Perse, wobei das Vermächtnis von Heym und Trakl, von Loerke und Benn nicht unterschätzt werden darf in seinen zeitgenössischen Einflüssen. –

Wenn man sich diese fünf oder sechs schmalen Bändchen Krolowscher Gedichte in der Reihenfolge vornimmt, in der sic erschienen sind, dann folgt man vielfältigen Spuren eines unruhigen Vorwärtsdringens, das ich einmal nicht als Entwicklung ausgeben möchte. Es sind Arbeitsprozesse, die an Wachstumsvorgänge erinnern, wobei es auch Wurzelausläufer gibt, die nicht immer weiterwachsen. Die Kunstbedingungen ändern sich, auch unter dem Einfluß der Lebensvorgänge neue lyrische Bildungen entstehen. Mit den Formmitteln der sogenannten Naturbilder wird von Jahr zu Jahr sparsamer umgegangen, das Bänkelliedhafte der frühen Balladen verklingt. Aus dem Stadium der subjektiven Erregungen, der Selbstbezichtigungen, der Klagen und Ängste gelangt der Dichter zu neuen Ausblicken, und damit zu der eigentlichen Aufgabe, seinen Beitrag zu leisten an der Erkundung, an der Enträtselung des Daseins. Das Naturbild wird vertieft zum Sinnbild, bei den lyrischen Beutezügen wird es jetzt auf eine neue Präzision der Sinnbildlichkeit ankommen.

Die Diktion wird einfacher, reduzierter, die Aussage wird lakonisch. In dem Band »Die Zeichen der Welt«, 1952, überwiegt noch die Naturdämonie, doch die Elemente einer später sich bildenden Struktur der lyrischen Phantasie, die auch den Menschen in die metaphysische Konzeption bringt, sind hier bereits sichtbar:

»Mond schlug mich in seine Kralle
Den kein Dunkel auf Armen mehr trug.
Im lautlosen Sternenfalle
Rann bitter wie Schöpsengalle
Die Zeit in den Mitternachtskrug –
In die Luft, die sich rollte wie Schlangen,
Wie sie kühl in der Schwärze gehangen.

Die zarten Baumstimmen sogen
Die Wasser der Stille ein.
Von Heuhaufenschatten umflogen,
Den Schlingen des Schweigens betrogen,
Hör ich heiser die Toten schrein,
Die das Mondhorn – ein Rudel Hyänen –
Anbellen mit rissigen Zähnen.«

Von diesen Expeditionen in den sublunaren Bereich der Pflanzen, Tiere, Lüfte und Firmamente gelangt Krolow, nicht ohne Resignation, in die versachlichte Sphäre der großstädtischen Daseinsverstrickung. Der lyrische Duktus wird trocken, karg:

»Ein Toter ist kein Reim auf Zärtlichkeit.«

Man kann gegen Lyriker vieles einwenden, man kann sie für Seiltänzer ausgeben, Equilibristen, für Leute, welche die Zollschranken der Wirklichkeit umgehen, um das »Nichterklärte« einzuschmuggeln über die Grenze des Zulässigen –, doch wenn man sie liest, hat man sie auch wörtlich zu nehmen.

So ist für Krolow der Tod nicht nur eine poetische Farbe, sondern auch das Wissen um die ständige Anwesenheit der verborgenen Gegenseite des Lebens. Die Anziehungskraft dieses Gegenpols ist ihm wie ein Sog bekannt. Nicht ohne geheimen Zwang werden die »Elegien auf den Tod eines jungen Dichters« geschrieben. Sie sind einem jungen schweizer Lyriker gewidmet, der 1952 in Arles Selbstmord beging: Alexander Xaver Gwerder. Und sie gehören zu den besten Leistungen Krolows. Erlauben Sie mir bitte, zwei Strophen daraus vorzulesen:

»Du Erscheinung am Schieferhang,
Ohne die Grimasse des plötzlichen, selbstgegebenen Todes,
Mit dünnen Lippen der Ewigkeit,
Mit Lippen, aus neuer Vernunft geschaffen,
Mit Augenwinkeln, in denen das Schweigen abstrakt wurde
Vor einer Landschaft mit fliegenden Fischen und hastig
geschriebenen Gedichten.


Mit neunundzwanzig Jahren bist du gegangen,
Um wieder zu kommen als Flüstern über einer Preiselbeerböschung im Spätjahr
– Dunkles, vom Abend verschlungenes Lispeln der Alterslosigkeit ‒, ...
... Dein Gesicht – halbiert vom Umsonst – leuchtet.«

Nicht gerade zufällig gibt es bei Krolow auch einen Zyklus »Gedichte gegen den Tod«. – Es ist hier nicht die Stunde, über die zunehmende Vereinzelung zu reden – sie wird sich stets tarnen –, die einem Manne heute widerfahren muß, der das Dasein – gegen jeden gesunden Menschenverstand – noch einmal als magisches Netzwerk, als mythenaltes Weltwirken visionär wittert und erspürt, und der sich anschickt, die Transzendenz alles Diesseitigen zu erkunden. Müßig, sich vorzustellen, wie das unter die gleichen Fingerabdrücke paßt: der Umgang mit dem Numinosen und der tägliche Gang zwischen den Abfahrtstafeln der Uhrengeleise. –

Um seinen literarischen Standort zu bestimmen, hat man Krolow auch einen Schüler von Wilhelm Lehmann genannt, oder man hat ihn in die Nähe von Elisabeth Langgässer gerückt, von Peter Huchel, Horst Lange oder Günther Eich, doch ist er aus diesem Schülertum, aus dieser Nähe wieder fortgegangen. Der neue Ton in den »Moralischen Gedichten«, 1954, besitzt andere Schwingungszahlen:

»Wenn die Wirkung der Rätsel einsetzt,
Hat die Vergeblichkeit Pause.«

Wenn hier von dem eigentümlich Geisterhaften seiner Lyrik gesprochen wurde, dann darf nicht übersehen werden, daß es nicht wenige Gedichte gibt, die von heiterer Leichtigkeit sind, von einer, wenn auch kühlen und spröden, Heiterkeit. Diese spirituelle, diese luftige und souveräne Heiterkeit verrät das Unvermögen, sich selbst immerzu wichtig zu nehmen, zugleich aber auch die Freude am reinen Kunststück, am Balanceakt, am blitzenden Kunsttrick. Doch es ist mehr als erfahrenes Artistentum, wenn es in dem Gedicht »Einsamkeit, II« heißt:

»Es ging so ein stilles Leuchten
Von ihm aus.
Das machte die Glühbirne,
Die er im Munde trug.
Immer in der Dämmerung
Wiesen ihre zarten Fäden
Den Leuten den Weg,
Die an seiner Wohnung vorüber kamen,
Obwohl er doch mehrere Treppen hoch wohnte.

Eines Nachts antwortete
In einiger Entfernung
Eine andere Glühbirne.
Er leistete keinen Widerstand.«

Der heute einundvierzigjährige hat, so scheint mir, manchmal etwas hastig die Stufen genommen, die ihn über die Wallungen der Melancholie, über die Ödnisse der Resignation, über die zeitweilige Erschöpftheit einer Dekade amüsant-trockener Feststellungen zu jenem numinosen Stockwerk führten, wo man der Aura zen-buddhistischer Meister begegnet, der Weisheit des Unsinns. Auch damit hat Krolow die Lyrik unserer Gegenwart beeinflußt.

Diese dichterische Leistung: gestern, vor fünfzehn Jahren, war an ihrer Stelle noch das Schweigen, heute können diese Gedichte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Sie haben unsere Empfindungen verändert. Lassen Sie mich, lieber Krolow, mit dem Hinweis schließen, daß Büchners Anmut der Ironie, wie wir sie aus »Leonce und Lena« kennen, Ihnen gewiß nicht fremd ist. Nehmen Sie unsere Begrüßung im Geiste dieses unvergessenen Dichters an, skeptisch, mutig und selbstgewiß, sie gilt nicht nur dem jüngsten Träger des Georg-Büchner-Preises, sondern auch einem der diesjährig Eingebürgerten unserer gottlob so kunstanfälligen Stadt.