Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Ernst Jandl

Poet
Born 1/8/1925
Deceased 9/6/2000
Member since 1981
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Es ist ihm wie keinem anderen gelungen, sowohl die unfreiwillig komischen wie auch die zutiefst verzweifelten Züge unserer gegenwärtigen Existenz zur Sprache zu bringen und zugleich daran zu erinnern, daß es in der Literatur vor allem auf den Wort-Laut ankommt.

Jury members
Juryvorsitz: Herbert Heckmann
Beda Allemann, Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Günter Busch, Hans-Martin Gauger, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bruno Snell (Ehrenpräsident), Dolf Sternberger (Ehrenpräsident), Bernhard Zeller, Ernst Zinn

Laudatory Address by Helmut Heißenbüttel
Writer, born 1921

Zu meinem sechzigsten Geburtstag hat Ernst Jandl mir ein Gedicht geschenkt, in dem die Verse Vorkommen:

»ich kenne deine texte seit
ich habe keinen sinn für zeit
was hat dein hiersein je mit zeit zu tun
gegen den schritt der uhr bist du immun.«

Dies stimmt im Gedicht, das ein Gedicht von Ernst Jandl ist. Es stimmt nicht, wenn ich, was im Grunde nicht erlaubt ist, die Aussage dieser Verse auf mich persönlich, auf das Bewußtsein, das ich von mir habe, übertrage. Ich bin nicht gegen den Schritt der Uhr immun. Die Daten der Taschenkalender, die Zeiten der Uhr, die Zeiteinheiten, nach denen Tag und Nacht vergehn, spielen eine Rolle, die niemals unterbrochen werden kann. Das Bild- und Wortgedächtnis steht in einem ununterbrechbaren Widerstreit zum Bewußtsein der Zeit, die nach Daten und Uhr mißt.
Eine Folge davon ist, daß ich mich deutlich an das Gedicht von Ernst Jandl erinnere, das ich als erstes las. Wo? Vermutlich in einer der frühen Streitzeitschriften. Es war:

»16 jahr

thechdthen jahr
thüdothdbahnhof
wath tholl
wath tholl
der machen
thüdothdbahnhof
thechdthen jahr
wath tholl
wath tholl
der bursch
wath tholl
der machen
wath tholl
wath tholl
der machen
thechdthen jahr
thüdothdbahnhof
wath tholl
der machen
der bursch
mit theine
thechdthen jahr«

Heute fällt es mir nicht leicht anzugeben, worin die Faszination bestand, die für mich unmittelbar von diesem Gedicht ausging. Es war eine Art Sprachmaterialität, ein Geruch, ein Geschmack eher als etwas, das mit Urteil oder Einstufung zu tun hatte. Es war für mich auch sofort ein Lautlesegedicht. Ich mußte selber das »th« ausprobieren und den verzögernden syntaktischen Rhythmus, der mich schon damals vage an Jazz denken ließ. Dazu kam, was offenbar für mich wichtig war, der Charakter des auf ein Mindestmaß reduzierten Porträts.
Heute möchte ich sagen, daß in diesem Gedicht bereits kennzeichnende Elemente enthalten sind, die auch für spätere Texte Jandls gelten. Das syntaktische Ritardando, das den Satz: »thüdothdbahnhof wath tholl der machen der bursch mit theine thechdthen jahr« allmählich zusammensetzt, läßt sich verfolgen bis in die späten Gedichte in »heruntergekommener Sprache«; auch das lispelnde »th« gibt einen Vorklang darauf. Gleichzeitig stellt es sich dar als eine der Keimzellen einer phonetischen Poesie, der Lautpoesie Jandls. Reduktion und Einbeziehung bisher unbenutzter sprachlicher Parameter deuten sich an; umgangssprachliche wie phonetische Ebenen werden benutzt.
Ausgehend davon könnte ich geradezu eine Art Stammbaum für das Werk von Ernst Jandl konstruieren. Auf der einen Seite steht dann das, was ihn zuerst, über die Schallplatte und durch Lesungen, bekannt gemacht hat: das Lautgedicht. Dem wäre als Pendant das typographische Gedicht zuzuordnen.

»spruch mit kurzem o
sso

Oder:
tee: ein stück
:
:
lieber : tee
:
:
(egal) :
ich : tee
:
:
fragt :
(er nie) : tee


Auf der anderen Seite stehen die Ansätze der frühen Gedichte oder, in dem Band Laut und Luise (zuerst als Walter-Druck 1966), umfangreiche Texte wie »prosa aus der flüstergalerie« oder »die klinke des pinguins«:

»eine winzige nasse Wasserrose erkletterte die sieben sprossen des mondes. unter der kuppel der sankt pauls-kathedrale flüsterte sie: sind sie die flüstergalerie? ja, flüsterte die flüstergalerie zurück.«

»hinter dem hummel ohne fleisch den tenor um eine wüste im ei nach der fahne an einem bastard wegen einer lücke anstatt des zebras zugunsten des rätsels innerhalb des lifts zwischen seele und milch ungeachtet des balles auf der treppe unterhalb des frosches oberhalb des fadens als jause gegen die klinke des pinguins«.

Man muß nämlich im Auge behalten, daß Jandls Werk sich nicht in Reduktion, Lautgedicht, Typogramm erschöpft, sondern daß ebenso das Ausschreiten des Sprachinnenraums, der semantischen Färbungen und Mischungen, der Bedeutungsmodalität eine Rolle spielt. Jandl operiert von Anfang an auf der ganzen Breite der aktuellen poetischen Veränderung, der syntaktisch-asyntaktischen wie der semantisch-semiotischen Transformation der Poesie. Dies ist nicht immer beachtet worden, und bis heute gibt es da Mißverständnisse. Unübersehbar ist das erst geworden seit der Gedichtgruppe »tagenglas« vom März 1976, abgedruckt im Band die bearbeitung der mütze 1978. Und auch hier muß man Front machen gegen die Meinung, der Jandl des Sprachwitzes und der phonetischen Kalauer sei nur ersetzt durch den des Gastarbeiterdeutschs.
Jandl selbst hat in einem Nachwort zu dem Zyklus »gedichte an die kindheit«, abgedruckt in der gelbe hund 1980, zu der Veränderung seiner Schreibweise gesagt:

»im märz 1976 schrieb ich den Zyklus ›tagenglas‹ und begann damit eine Reihe von gedichten, deren spräche, im gegensatz zu aller herkömmlichen poesie, unter dem niveau der alltagssprache liegt, es ist die spräche von leuten, die deutsch zu sprechen genötigt sind, ohne es je systematisch erlernt zu haben, manche nennen es ›gastarbeiterdeutsch‹, ich aber, im hinblick auf poesie, nenne es eine ›heruntergekommene sprache‹. im dezember 1977 begab ich mich, im Zyklus ›gedichte an die kindheit‹, vorübergehend auf einen weniger düsteren nebenpfad. aus der thematik des zyklus und einer aufhellung der seelenverfassung des autors bot sich, zum vorerst einmaligen gebrauch, eine ›verkindlichte sprache‹ an. sie enthält fehlerhaftes, widersprüchliches und banales, wird aber, im gegensatz zur ›heruntergekommenen‹ abart, deutlich gesteuert durch eine der dauernden sprachschulung ausgesetzte intelligenz.«

Wo liegt der Unterschied? Was heißt es, wenn die Sprache der Poesie unter dem Niveau der Alltagssprache liegt? Einmal:

»manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht
velwechsern.
werch ein illtum!«

Fast 20 Jahre später:

»du haben zudecken
ein erden für alle
steifen nicht mehr haben
selber sein ein steifer«

Kann man sagen, daß in dem ersten Gedicht etwas benutzt wird, das unter die Oberfläche der Sprache dringt, das die Mechanik der Laute und Buchstaben verkehrt und dadurch aufdeckt? Poesie entsteht durch die Demonstration des Aufdeckens? Kann man im ändern Falle sagen, daß unter das Niveau der Sprache gehen bedeutet, die Feinmodulation der Sprache aufzugeben? Nicht mehr die Diffizilitäten der grammatisch-syntaktischen Bezüge, sondern Reihung der Grundformen, Lapidarität der Formulierung?
Aber ändert sich nicht auch etwas anderes? Was bedeutet die Irritation der Richtungsorientierung rechts und links durch Auswechslung des anlautenden Konsonanten? Entsteht Exemplarisches nicht dadurch, daß gleichsam am Gefüge des sprachlichen Zusammenhangs gerüttelt wird? Geht man einen Schritt weiter, fällt alles zusammen? Purzeln Wörter und Buchstaben unkontrollierbar durcheinander? Das Gedicht ein Gebilde, welches dies zeigt, aber zugleich den Zerfall noch einmal aufhält, beispielhaft? Auf der anderen Seite eine Reduktion, ja eine Regression auf Grundformen, Rücknahme von Konjunktion und Deklination? Aber zugleich der rüde Vergleich zwischen der Steifheit der Erektion und der Steifheit der Leiche? Beides vergleichbar allein in der Feststellung einer Bewegung nicht hin zu etwas, sondern weg von?
Weg von was? Wir sind, zumindest seit Theodor W. Adorno, gewöhnt, als ein Kriterium der Kunst und Literatur im 20. Jahrhundert die Negation anzunehmen. Das heißt, Positives, Poesie heute entsteht dadurch, daß die Kennzeichen von Poesie gestern umgekehrt werden. Dieses Umgekehrte (Zwölftonreihen anstelle von Dur-Moll-Tonleitern, geometrische oder amorphe Komposition anstelle von formal geordneter Darstellung von Sehbildern, Vokabeln anstelle von Metaphern, Absurdität anstelle von ideellem Gehalt) dient dann als Ausgangspunkt, als Material wie als Konstruktion der Gebilde, die nun den aktuellen Standpunkt repräsentieren. Ist es so? Sind, um in einem naheliegenden Schreibbereich zu bleiben, Eugen Gomringers »Konstellationen« schon deshalb Gedichte, weil sie metaphorische Redeweise vermeiden und sich auf den natürlichen Assoziationsraum der Vokabel zurückziehn? Sind Gerhard Rühms »dokumentarische sonette« schon deshalb Gedichte, weil sie Zeitungsmeldungen mit Hilfe von sinnlosen Füllsilben zu einer historisch überlebten poetischen Form, der des Sonetts, auffüllen? Ist Antipoetik schon Poesie?
Der Gedichtband Jandls, in dem der Zyklus »tagenglas« abgedruckt ist, beginnt mit dem im Mai 1975 entstandenen Zyklus »der gewöhnliche rilke«. Einfache, ja banale Aussagen werden jeweils mit dem Namen Rilke verbunden: »rilke / atmete / pausenlos«, »rilkes schuh / war einer / von zweien«, »rilkes hand und rilkes hand / an ihm herunterhängend«, »rilke schlug die äugen auf / alles war sichtbar / nichts war unsichtbar«. Sprachliche Äußerungen, die sich für sich nicht oder kaum unterscheiden lassen von einer Menge ähnlicher sprachlicher Äußerungen, werden unterschieden durch den Zusatz Rilke. Das heißt, der Name des Dichters, dessen Werk im allgemeinen Bewußtsein noch einmal das Höhere, das Bedeutsame, das Tiefsinnige verkörpert, wird als Wechselbegriff für Poesie, fast als Markenzeichen dafür, eingesetzt.
Diese Demonstration, die man in keinem Gedicht des Zyklus als Parodie lesen kann, zeigt etwas, das über die Negation hinausgeht oder sie beiseite läßt oder für das die Negation lediglich ein Durchgang ist. Wenn Rilke, so möchte ich abkürzend sagen, für den Raum der hohen Metapher, der sogenannten dichterischen Redeweise stellvertretend steht mit allem, was sich historisch und ästhetisch damit in Zusammenhang bringen läßt, so ist er, Banalrede poetisierend, doch von dieser nicht einfach abzutrennen. »der ungewöhnliche rilke / und der gewöhnliche rilke / steckten im gleichen«. Nicht die Negation, nicht die dadaistische oder surrealistische Umkehrung sind das Ziel, es wird auch nicht einfach das, was im 20. Jahrhundert antipoetisch ausprobiert worden ist in eine Materialfunktion verlagert, sondern der Textraum insgesamt, der literarisch sinnvoll verwendet werden kann, wird transformiert und verlagert, »rilke wird um sein / gewicht erleichtert / so rauh erzieht / die erde ihren sohn«.
Die Erleichterung des für Poesie stellvertretend stehenden Rilke um sein Gewicht bedeutet, daß der Raum der exemplarischen Rede, der Raum, in dem sich Text erst entfalten kann, aus den historisch gewachsenen Sonderformen herausgezogen wird nicht, indem diese einfach umgekippt werden, sondern indem ihm in einem verlagerten Redebereich eine neue Basis bereitgestellt wird. Poesie bewegt sich woanders hin. Nicht durch Gegensteuerung gegen entleerte traditionelle Formen, gegen ausgeleierten traditionellen Sprachschatz, sondern in einer Umorientierung insgesamt. Der Zustand der Sprache als Poesie wird neu definiert.

»von einen sprachen

schreiben und reden in einen heruntergekommenen sprachen
sein ein demonstrieren, sein ein es zeigen, wie weit
es gekommen sein mit einen solchenen: seinen mistigen
leben er nun nehmen auf den schaufelen von worten
und es demonstrieren als einen den stinkigen haufen
denen es seien, es nicht mehr geben einen beschönigen
nichts mehr Vorstellungen, oder sein worten, auch stinkigen
auch heruntergekommenen sprachen-worten in jedenen fallen
einen masken vor den wahren gesichten denen zerfressenen
haben den aussatz. das sein ein fragen, einen tötenen.«

Will man nicht in den unergiebig gewordenen Form-Inhalt-Schematismus zurückfallen, muß, man sagen, daß das Gedicht durch eine ihm jeweils eigene Strukturierung aus Wortwahl und grammatischer Sonderform bestimmt ist. Kern und Schlüssel dieser Strukturierung liegen in der Bildwahl des Gedichts, in seiner metaphorischen Ebene. Solange die Metaphern im weitesten Sinne mythologisch bezogen sind, hat Poesie von daher ihren Glanz und ihre Sonderstellung. In dem Moment, in dem sich unter den mythologisch-metaphysischen Bezug der direkte zur Natur, zu den Gegenständen unmittelbarer Umgebung und zur Subjektivität darunter schiebt, erhält das Gedicht seine Besonderheit von Stimmung, Innerlichkeit, aber auch soziologisch und politisch. Bis in das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bestimmt auf diese Weise die Metapher, die bedeutet, die überhöht, das Gedicht.
Was nun Ernst Jandl in seinem Werk entworfen hat, ist eine Umstrukturierung, in der nicht mehr die Metapher, sondern die Benennung die metaphorische Ebene besetzt. Das bildhafte Reden der traditionellen Poetik wird allmählich herübergezogen in den Bereich der alltäglichen Vorgänge und Verrichtungen. Nicht das Höhere, Glänzende, Bedeutende und nicht das Hintergründige, Geheimnisvolle, Raunende machen das Gedicht aus, sondern das Direkte, das Vordergründige, das Naheliegende, ja das Drastische, Deprimierende, Unauflösbare, Unbewußte. Eine erste Summe dessen zeigt »von schlafkunst« in dem Band die bearbeitung der mütze; »gemiedenen«, »von walden« oder »a man of achievement« in dem Band der gelbe hund oder »morgen erinnern«, »selbstporträt 18. juli 1980« und das Titelgedicht »selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr« wären dem zur Seite zu stellen.
Die Umstrukturierung bedeutet nicht, das muß betont werden, daß die metaphorische Ebene verschwindet. Die Bilder, die auftauchen, Hund, Wald, Trinken, Mütze, sind nur auf sich selbst bezogen wie der Name Rilke, nicht auf das, was über sie hinausweist. Sie machen den Textraum geschlossener als er es je zuvor war, weil sie sich selbst genügen. Die Autonomität des Textes wird zum alles andere vernachlässigenden Ziel. Dieser Textraum aber hat seine Autonomität und seine Stellvertretung dadurch, daß er das konkrete Vorhandensein des Menschen als Text noch einmal entwirft. Die psychoanalytisch erfaßbare Untergründigkeit, das Ungesicherte der Neurose, die Pathologie des Alltags, Desorientierung und Diskontinuität der Vorgänge, in denen jeder Tag um Tag existiert, werden nicht durch eine neue modernere Methode abgebildet, sondern erscheinen im Gedicht, wie Ernst Jandl es entworfen hat, noch einmal. Text wird die Realität, hinter der der biographische, der Autorenbezug verschwindet. Es gibt die Person Ernst Jandl nicht mehr, so könnte ich zuspitzend sagen, weil es den Text Ernst Jandl gibt.
War es nicht immer so? Es war solange nicht so, wie sich durch den übergreifenden Bezug der Metapher auf Metaphysik, Philosophie, Poetik eine tragfähige Übereinkunft ausbilden konnte. Das Netz, das die biographische Person wie den Text auffangen konnte, war traditionell zugleich das, was beide zusammenhielt. Heute kann jeder nur auf eigene Faust, quasi selbstvernichtend, schreiben. Hier wird das Risiko zu einem Kriterium, das stärker und entscheidender ist als alle formalen oder ideologischen Kanons. Ich könnte so weit gehen, das, was Martin Heidegger in seiner 1946 auf Rainer Maria Rilke gesprochenen Rede »Wozu Dichter« gesagt hat, nämlich: »Dazu ist aber nötig, daß solche sind, die in den Angrund reichen«, vollkommen umzudeuten und umzubiegen. Der Heideggersche Satz, seinem Kontext nach auf den am Werk Rilkes exemplifizierten Zustand der Metaphysik bezogen, würde dann seinen Sinn erst finden im Gedicht Jandls, in der unwiderrufbaren Metaphysikferne dieses Gedichts.

»selbst porträt 18. Juli 1980

es sei mit ihm was los. nein, so genau
wisse er selbst es nicht, spüre jedoch
daß nichts mehr sei wie es gewesen sei.
davon erzählen wolle er eigentlich nicht,
wolle eigentlich überhaupt nichts, wolle aber
auch nicht völlig untätig sein, beschäftige sich
daher nach wie vor mit gedichten, deren
herstellung. auch wenn
kein wort mehr glänze.
...
aus dreckigem glase
jetzo trinke er
das übliche gemisch, nur etwas
mehr mineralwasser, dafür
weniger whiskey, die flasche
beinah leer, und er
nicht willens das haus
um neuen vorrat zu verlassen; müsse ja
dieses gedieht hier noch
schreiben und absegnen, ehe
er sich an das spiel
mit dem schach-computer mache, seinem
neuesten hausgenoss, bekanntlich
dem einzigen (immerhin
schon dritten, nachdem
den ersten und zweiten
innerhalb rückgabefrist
er verabschiedet habe), dreckig
das glas, von seinen
schokoladelippen
gestern nachts.
er schon griffe zum strick,
den es im haus nicht gebe, gäbe
es nicht so unmäßig viel
auch noch in seinem alter
zu erleben: schokolade,
whiskey, schach-computer,
nutten – nein, vor diesen
habe er immer sich
gehütet, sich zu hüten
sei überhaupt zeitlebens
seine kunst gewesen.
(er wäre ein genie
gewesen, hätte er
sich selbst ver-
hüten können.)«

Ich spanne ein neues Blatt in die Schreibmaschine ein. Ich fange noch einmal oben auf der Seite an. Ich fange überhaupt noch einmal an. Dies ist eine Laudatio. Dies ist eine Lobrede. Dies ist eine Lobrede, die bezeugen soll, warum Ernst Jandl im Jahre 1984 den Büchnerpreis erhalten hat. Wofür erhält man einen Preis? Für das, was man gemacht hat. Was man gemacht hat sowieso, ob Preis oder nicht, einer hats sein müssen, wie Arnold Schoenberg gesagt hat. Der Preis ist keine Belohnung. Denn für das, was einer, wie Ernst Jandl, gemacht hat sowieso, kann man nicht belohnt werden. Es ist da. Es ist da und nie wieder rückgängig zu machen. Lieber Ernst, ich gratuliere Dir.