Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Wolfdietrich Schnurre

Writer
Born 22/8/1920
Deceased 9/6/1989
Member since 1959

... seine und unsere Welt facettenreich beschrieben und sie in Gedanken und Bildern so aufsässig wie versöhnlich dem Verständnis des Lesers nahegebracht hat.

Jury members
Juryvorsitz: Herbert Heckmann
Beda Allemann, Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Kultusministerium), Ludwig Harig, Geno Hartlaub, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bruno Snell (Ehrenpräsident), Dolf Sternberger (Ehrenpräsident), Bernhard Zeller, Ernst Zinn

Dankrede

Das ist wahr –: Eine ungeheure, zu Literatur kaum in Relation zu setzende Summe, die einem da zufällt. Es stecken mindestens die Jahrespacht für das alte Bauernhaus am Elbdeich und die Lebenshaltungskosten für, grob geschätzt, anderthalb Jahre darin, umgerechnet auf zwei Personen, vier Pferde, einen Bobtail, zwei Katzen, einen Kakadu, ein Meerschweinchen allerdings noch. Denn es gilt ja auch die Schulden zu tilgen, die beim Installateur, beim Schornsteinfeger vor allem.

Ich gestehe, ich bin froh, diesen Preis erst jetzt erhalten zu haben, denn er ist ja immens angeschwollen inzwischen; im letzten Jahr allein um eine Summe, die – streicht man so Pflichtpartizipierer wie Fiskus, Müllabfuhr, Elektrizitätswerk – glatt ausgereicht hätte, acht bis neun Monate lang den Schreibtisch nicht mehr verlassen zu brauchen. Wenn man das auch vielleicht nicht unbedingt einer stetig zunehmenden Höherbewertung der Literatur zugute halten sollte.

Jedenfalls, hätte ich jenen Preis früher bekommen, wäre die Pacht garantiert nicht in ihm enthalten gewesen, sondern man hätte sie erst mühsam wieder durch etwas so Unliterarisches, im Formalen Banales wie ein Fernsehspiel sich erarbeiten müssen. Da kann man nun also das begonnene Buchmanuskript getrost wieder aus der Schublade holen –: Wo war ich, vor der letzten Einkommensteuervorauszahlung, doch schnell noch stehengeblieben?

So, meine Damen und Herren – ohne den üblichen Existenzschiß, der sich in der Tat erstlinig aus Bankschulden, Finanzamtsforderungen, Kreditzinsen und noch etlichen ähnlichen, Geist und Seele gleichermaßen schikanierenden Ingredienzen zusammensetzt –, so wieder fragen zu dürfen, verdanke ich Ihnen: Der Jury; der Akademie; Darmstadt; meinem Heimatland Hessen, dem Bund und Ihnen – Doktor Büchner.

Obwohl ich wirklich nicht behaupten kann, daß ich Sie als revolutionären Typ bewundere; Sie sind mir nicht zähe genug. Und ich bedauere auch Ihr Emigrantenschicksal nicht sonderlich; es war vorauszusehen, Doktor.

Wir haben alle einmal Flugblätter verteilt oder Parolen, die auf die Herrschenden zielen, an Wände, an Mauern geschrieben; es ist kein Ruhe förderndes Geschäft; und bei Hitler konnte man bekanntlich ja auch wesentlich mehr als nur das ohnehin fragwürdig gewordene Vaterland dafür verlieren, zum Beispiel den Kopf.

Feuerköpfig, tapfer, gerechtigkeitsliebend oder jugendlicher Überschwang, Doktor –: Das ist hier wirklich die Frage. Obwohl, ich kann im Grunde nicht mitreden da; ich bin während der sechseinhalb sinnlosen Jahre, die ich auf der falschen, nämlich der deutschen Seite Soldat sein mußte, immer so feige, will sagen: lebenshungrig wie möglich gewesen, Und statt mich bis zum bitteren Ende mit meinen kämpfenden Kumpeln solidarisch zu fühlen, habe ich – denken Sie, Doktor! – die Desertion vorgezogen. Die Folge: Jene sind draußen geblieben, ich stehe hier. Keine angenehme Position, da haben Sie recht. Übrigbleiben hat von allen Scheinvorzügen noch immer die meisten Schuldneurosen geboren.

Wenngleich es jetzt natürlich auch ganz interessant wäre zu fragen: Obergefreiter Büchner –: Und Sie –? Wie hätten Sie sich vor Woronesch verhalten ? Ich fürchte, Doktor, Sie wären, unser bravouröses »Hurra!« auf den Lippen, mit den anderen zusammen exakt in die sowjetischen Flammenwerfer gerannt. Oder Ihr Herr Vater hätte sich schon wesentlich früher wieder mit Ihnen vertragen und Sie wären seinem drängenden Wunsch nachgekommen, während des Krieges (was es ja gab) Ihr Studium zu Ende zu bringen.

Hier darf ich allerdings wieder eine schwache Kompetenz anmelden. Denn angenommen, Sie wären, was zu vermuten steht, bei Ihren Untersuchungen »Über das Nervensystem der Fische« geblieben und hätten aus diesem Thema tatsächlich den Vortrag gefiltert, auf den hin die Universität Zürich Sie zum Doktor phil. promovierte: Ich hätte Ihnen, wenn auch mehr vom Metaphysischen her, auf sicher nicht ganz unergiebige Weise zu assistieren vermocht. Nämlich mein Thema lautete: »Wo sind während der Sintflut die Fische geblieben?« In den jüdischen, das heißt: alttestamentarischen Speisegesetzen tauchen sie zwar wieder auf; in Noahs doch weit eher in See stechender Arche hingegen hat es weder für Süß- noch für Salz-, geschweige für Brackwasserfische Behälter gegeben.

Als Naturwissenschaftler, Doktor, wissen Sie, daß das Argument: »Die Fische haben eben in ihrem Element überlebt«, bedauerlicherweise nicht sticht. Denn der Süßwasserfisch geht im Salzwasser und der Salzwasserfisch geht im Süßwasser ein. Im Brackwasser aber, das der Beschaffenheit der Sintflutgewässer doch noch am nächsten kommen dürfte, gehen beide Spezies zugrunde. Beide hätten also – logisch, wie Mythen nun e’ sind – durchaus ein Arche-Aquarium verdient. Nun, glücklicherweise, Doktor, ist es mir in meinem Buch »Der wahre Noah, Neuestes aus der Sintflutforschung« gelungen, das Problem einer Lösung zumindest insofern etwas näherzubringen, als sich bei der Landung herausstellt der Leviathan, der ja wohl fraglos überlebt haben dürfte, ist – an der Rückenflosse gemessen, die dem watenden Noah die Bartspitze streift, – ein Haifisch gewesen.

Wiewohl ich ansonsten der Ansicht bin, daß der Literat, im Interesse der Ausgewogenheit seiner Geschichte, kein Recht hat, Probleme zu lösen Er hat sie wahrzunehmen, aufzureißen, seine Akteure hineinzustoßen. Nun laßt uns sehen, wie sie sich behaupten darin. Am glaubwürdigsten sind unsere Helden merkwürdigerweise noch immer, wenn etwas schiefläuft mit ihnen, wenn sie versagen, wenn sie zugrundegehen an den Problemen; Doktor, finden Sie nicht –?

Doch ich greife vor. Denn ich möchte noch ein wenig bei Ihren wissenschaftlichen Arbeiten, also auch bei Ihrer Zürcher Probevorlesung »Uber Schädelnerven« verharren. Diesmal als reiner Pragmatiker jedoch, wenn Sie gestatten. Nämlich eben die Schädelnerven, Doktor, sind es gewesen, die mir im Sauerstoffzelt damals dann auch noch abhanden zu kommen drohten, nachdem schon der Enzephalograph den schwächlichen Hirnstrom kaum mehr hat registrieren können; lediglich eine winzige, kaum noch sich schlängelnde Linie war da später zu sehen. Der Sehnerv, der Riechnerv, der acusticus und der vagus haben denn auch lange auf sich warten lassen. Erfreulicherweise nicht ganz so lange wie die womöglich noch ärger in Mitleidenschaft gezogenen Extremitäten-Muskeln jedoch.

Es ist eine Polyneuritis, eine Nervenentzündung gewesen, Doktor, die das bewerkstelligt hat. Was besagt, obendrein war der Patient im Nacken, im Rücken, an Armen und Beinen und Füßen und Händen gelähmt. Eine Schriftstellerkrankheit, die schließlich abwägend, sehr zögernd den Kopf wieder freigab. Freigab, Gedanken entstehen zu lassen, die man, an Gesundheit leidend, nie gehabt hätte. Ich denke, Doktor, Sie wissen, was ich da meine. Eine Schriftstellerkrankheit schon deshalb, weil der Delinquent nach anderthalb Klinikjahren, er war 46 inzwischen, mit einer Anstrengung, die etwa ein Achtjähriger aufbringen müßte, wenn man ihn zwänge, einen Viertelzentner zu stemmen, wieder versucht hat, sein erstes großes A zu errichten. Es war fast einen halben Meter hoch, erinnerte an ein zusammengebrochenes Zelt und hat den Erbauer erschöpfende Schweißausbrüche und beinah ein Herzversagen gekostet. Denn der Arm hing am Galgen; das Gelenk war geschient, und die Zeichenkohle hatte der Professor durch einen Flaschenkorken gesteckt, der exakt in den Hohlraum paßte, den die zur Kralle erstarrten Finger umschlossen.

Doktor Büchner, ich habe wieder schreiben gelernt. Buchstabe um Buchstabe; das Alphabet ist eine Geheimwissenschaft, die sich einem erst durch ein langes, banges Studium erschließt. Dann habe ich wieder Wörter zu schreiben gewagt; Wörter, die, kaum, daß sie krumm und schief dastanden, zu funkelnden Worten gerannen, wie man sie so vielgestaltig, assoziationsbereit und luftwurzelhaft miteinander verschränkt als gesunder Schreiber nie erkannt hätte. Und dann stand da auch eines Tages auf dem riesigen, gegen die zitternden Knie gelehnten Zeichenblock auch wieder ein Satz. Er lautete: »Ich kann schreiben.« Ich habe mir die damals erarbeitete Blockschrift, in der er gehalten war, bis heute bewahrt.

Ich habe aber auch in jener Zeit begriffen, daß anders geschrieben werden muß als bisher. Wenn Lähmung, Verstummen und Blindheit einen erwarten, und ihre vorgezogenen Signale sind ja unübersehbar gewesen –: Doktor, dann gibt es nur eins: Jede Seite geschrieben, als läse der Tod Korrektur.

Nein, er ist nicht mein Feind. Im Gegenteil, er ist mir zugeschworen vom ersten Tag an. Er –: Mein Tod. Der mich in meinem Schatten gesellig und schweigsam begleitet. Wir haben nämlich einen Fehler begangen, Doktor – wir Schreiber. Wir haben unseren wahren Feind nicht erkannt. Der schlimmer ist als der Tod. Der nicht tötet sondern vergißt. Der auslöscht, planiert; in Staub aufgehen läßt und sein Gleichmutszepter über Schimmel, Stockflecke, Moder und Fäulnis erhebt: Die Vergänglichkeit, ja. Gegen sie, nicht gegen den Tod schreiben wir an. Der Tod ist menschlich. Denn er hat ja mit uns zu tun. Die Vergänglichkeit meint die Welt; ob Vergehen, ob Werden, ihr ist es gleich. Der Tod jedoch ist beteiligt, zumindest an uns.

Ich darf mich da auf die Probetode berufen, die ich gestorben bin. Ich kann mich an den im Sauerstoffzelt und an drei soldatische in Rußland erinnern; vier ist nämlich meine Glückszahl, müssen Sie wissen. Diese Probetode, Doktor, sie sind sachlich, fast angstfrei gekommen. Keine Drohung, kein Grauen. Der Würgegriff unter den Atemgeräten sogar mit einem sanften Bedauern. Logisch; sind wir doch ein Leben lang aufeinander angewiesen gewesen. Was hätte mein Tod für einen Aufgabenbereich ohne mich? Und da soll er mich schinden? Nein; jedes Probesterben beweist es: Der Ernstfall wird sich nicht von ihm unterscheiden.

Denn der Tod hat eine Geliebte –: das Leben. Daß er sie totküßt, sie schlägt vor Verzweiflung, sie würgt aus Wut darüber, daß sie sich in der Kunst mit der Dauer verbündet, verweist nur auf die Tiefe dieser Beziehung. Und wer, Doktor, wäre da nun wohl besser geeignet, uns, die wir dieses flüchtige Leben zu bannen versuchen, beim Schreiben über die Schulter zu blicken, als er? Ich jedenfalls nehme jeden Wink, jedes Schädelschütteln von ihm an. Gewiß, ich habe gut reden; ich lebe ja noch; bereits 39 Jahre länger, als es Ihnen vergönnt war. Lieber Doktor aber was sagt das? Könnte ich zu Ihnen reden, wenn es Sie nicht mehr gäbe? Es gibt Sie. Sie leben, spüren Sie das nicht?

Das nämlich ist die große Chance, die wir gegen die Vergänglichkeit haben, wir Schreiber: Wir können den Tod, ihren Befehlsausführer – wie lang, wird sich zeigen – mit Argumenten beschämen. Unsere Argumente sind unsere Werke, die dem Menschen gelten und diesem ungeheueren diesem einmaligen Leben; wobei die Lebensdauer, Doktor – bitte glauben Sie es mir – wirklich zweitrangig ist. Wichtig ist einzig, was wir in der Zeit, die wir atmen, hier schreiben. Es kann morgen schon vergessen sein da haben Sie recht. Aber wenn ich heute sterbe, und mein Buch ist noch morgen zu haben, ist die Vergänglichkeit für exakt die Zeit entmachtet die meine Gedanken, meine Figuren in einem Leser noch leben.

An ihn, an den Leser muß man sich halten. Er ist unser Verbündeter. Er verteidigt uns gegen Tod und Vergessen. Er – und niemand sonst – läßt uns hoffen, der Vergänglichkeit noch eine Weile gewachsen zu bleiben. Und wer wäre da wohl sicherer aufgehoben, Doktor Büchner, als Sie? Obwohl dieser Saal voll festlich gestimmter Menschen auch auf die Kehrseite weist –: auf den unverschuldeten Umstand, Doktor, zu einer Gallionsfigur, zu einem literarhistorischen Alibi werden zu können. Denn immerhin ist es doch verblüffend zu sehen, wie Ihnen, dem vaterlandslosen Gesellen und aufmüpfig-terroristischen Obrigkeitsverächter, hier der oberste Mann einer Regierung Referenz erweist, deren Staatsschutzorganen Sie gewiß nicht so vergleichsweise gemütvoll wie damals den hessischen entkommen wären. Obwohl, hier spielt wahrscheinlich auch noch eine Affinität zum Lyrischen eine Rolle, wenngleich Lyrik-Anthologien ja eigentlich nur noch im Streuverfahren auf Wahlverwandtschaft zu pochen vermögen.

Gleichviel, Doktor: Sie werden nicht nur gelesen, es wird – last, not least – auch Ihrer gedacht. Und das nicht so knapp: jährlich mindestens eine Preisverleihung lang. Ich hoffe, Sie hören da jetzt auch ein wenig die Bitterkeit mit heraus, die in dieser Feststellung mitschwingt. Unbesorgt, Neid ist es nicht; mir fällt es ohnehin schwer, raketenbeschützt, raketenbedroht, noch an eine leseversessene Nachwelt zu glauben. Nein, die meine ich nicht. Ich meine Werner, ich meine Karl, ich meine Max.

Max, Doktor, ist ein Talmudkenner gewesen, wie es keinen zweiten gab in jener Frankfurter Gegend. Als Kind war er mein Freund. Max hat mit neunzehn Selbstmord begangen. Der Grund wird Ihnen kaum einleuchten, Doktor: Max ist Jude gewesen. Mit Karl und seinen Leuten bin ich noch 1935 von Berlin bis rauf nach Pommern gezogen. Auf jedem Rastplatz hat mich der Rechtsprecher von Karls Zigeunersippe gezwungen, meinem Vater eine Ansichtskarte zu schicken; besser sei besser. Karls Sippschaft hatte an sich vor, rechtzeitig zu Beginn des Weißenseer Herbstpferdemarktes, wieder nach Berlin zu kommen. Doch südöstlich von Stettin hat ein SA-Trupp das Zigeunerlager gestürmt. Karl, Doktor, ist, mit den anderen zusammen, nach Auschwitz, ins Zigeunerlager gekommen. Ihnen mitzuteilen, was ihm und den Seinen dort widerfuhr, erspare ich Ihnen. Werner, mein dritter Freund, ist Hitlersoldat gewesen wie ich. Er war 18, als ihn in der Ukraine die Tretmine zerriß.

Warum sage ich Ihnen das? Weil diese drei, als sie starben, noch sehr viel jünger waren als Sie. Weil diese drei kein Werk hinterließen, das ihr Andenken aufbewahrt hätte. Weil diese drei ausgetilgt wären, hätte ich nicht ihre Stimmen im Herzen behalten. Weil ich es als ungerecht empfinde, daß tote Schriftsteller leben, Getötete aber, die nicht zu schreiben verstanden, noch einen zweiten Tod sterben, den des Vergessens. Weil jene drei für tausende stehen. Und weil wir nicht, mit vergleichsweiser Anteilnahme, jener hunderttausend von gestern sondern jenes einen von 1837, nämlich Ihrer, Doktor, gedenken. Und: weil ich hier gern Tacheles reden möchte mit Ihnen.

Denn Sie sind, wie Sie gewiß schon gemerkt haben, für mich kein Verehrungsobjekt, sondern Kollege und unterscheiden sich eigentlich nur dadurch von mir, daß Sie, obwohl Schriftsteller, eine Privatdozentur hatten in vergleichender Anatomie. Während – humanistisches Gymnasium hin, humanistisches Gymnasium her – meine Ausbildung sich in teilnehmender Betrachtung des Krieges erschöpfte. Doch klagen wir nicht. Ihr früher Tod, Doktor, kann durchaus auch als ungerecht empfunden werden, gar keine Frage. Doch Ihr Werk, wie gesagt, hat Sie ja unsterblich gemacht – bisher jedenfalls. Allerdings Ihr Werk nicht allein; auch die Doktor, die sich zu ihm Ihre Biographie noch besorgten, ja dieser oft genug den Vorzug zu geben schienen vor jenem, oder sie doch zumindest gleichbedeutend mit Ihren Werken vermengten –: auch sie dürften das Verdienst für sich buchen, Ihnen unser Bewußtsein erschlossen zu haben.

Denn Sie wissen es selbst: Die Zeitläufte sind Ihnen nicht immer so günstig gesonnen gewesen. Und gäbe es diesen, mit Ihrem Namen verbunden Preis nicht, aus dessen Anlaß ich mir die Freiheit nehme, zu Ihnen zu reden –: lieber Doktor, ich fürchte, es wäre heute wesentlich stiller um Sie. Zumindest hätten nicht so erstaunlich viele zeitgenössische Schriftsteller büchnerpreisbedacht so urplötzlich ihre Seelenverwandtschaft mit Ihnen oder Sie gar als Leitstern, als Vorbild entdeckt. So daß man sich wirklich fragen muß: Hat es eigentlich in Deutschland keine anderen politischen, human-revolutionären Schriftsteller gegeben, als immer und immer nur Sie? Ja, kann man als unabhängiger Autor nicht zur Not auch ohne Vorbild, ohne revolutionäres Anlehnungsbedürfnis, ohne sprachlich-stilistische Anleihen aus dem vorigen Jahrhundert auskommen? Ich habe eigentlich, so lange ich schreibe, die Erfahrung gemacht, ich fahre am besten, wenn ich mich auf mich selber verlasse. Ich wette, Doktor, Ihnen ist es nicht viel anders gegangen. Oder haben Sie etwa, als Sie den Woyzeck schrieben, als Lenz Sie bedrängte, ein Vorbild nötig gehabt? Lenz war nötig, Woyzeck war nötig; sonst doch wohl nichts. Und nicht wahr, man kann ja »Die Leiden des jungen Werthers« und den Verfasser dieser übersensibilisierten Geschichte trotzdem ganz akzeptabel finden. Aber ihm nacheifern wollen? Den Lenz gar am Werther ausrichten? Gott stehe uns bei!

Doktor, worauf ich hinaus will: Der Schriftsteller und seine vita werden mir zu sehr überschätzt. Und ich könnte mir vorstellen, Sie finden diesen betrüblichen Umstand an sich selber in einem Maße bestätigt, daß Sie vielleicht doch eine gewisse Erleichterung überkommt, die Reihe der Anlehner, der Verehrer, Adepten in mir auch einmal unterbrochen zu sehen. Daß wir uns richtig verstehen: Ich mag Ihre Schreibe. Ich mag Ihren Ton. Ich mag Ihre Stücke. Ich mag – logischerweise – den Lenz. Nur: Wer mag den eigentlich nicht? Und jetzt auch noch Sie: Es gehört zum guten literarischen Ton, Doktor, nämlich nun nicht nur Ihre Werke, sondern auch gleich noch Sie selber mögen zu müssen. Und sehen Sie, diesen Ton, den meine ich nicht.

Sie sind mir sympathisch, gar keine Frage. Doch mögen? Warum muß ich Sie mögen? Ich weiß, es gibt da jetzt eine ganze Liste von Zwängen, angefangen von Ihrer revolutionären Gesinnung bis hin zu Ihrem zu frühen Tod. Wie aber, wenn ich es mit Leuten, die eine zwar unterdrückte, aber dafür völlig unvorbereitete Minderheit zu einem politisch total ungeeigneten Zeitpunkt auf eine Revolution festlegen wollen, ein wenig schwerhabe, Doktor? Ich bin antifaschistisch erzogen worden und in einem Berliner Arbeiterviertel aufgewachsen. Ich habe ernstzunehmende Diskussionen im Ohr, in denen es darum ging, wie man Hitler, Himmler, Göring und Bormann beseitigen könne. Und ich könnte Ihnen noch heute die eingängigsten Attentatstheorien erläutern, unter denen die praktizierte von Stauffenberg noch immer die unergiebigste wäre. Da hat man denn doch eine etwas andere Vorstellung von Revolution.

Ihr zu früher Tod, Doktor Büchner ja, der war hart. Doppelt, wenn man Ihr schmales Werk nun als uneingelöstes Versprechen begreift. Aber deshalb Mitleid, deshalb Bewunderung gar? Warum muß ich Sie mehr schätzen jetzt, wo Sie mit vierundzwanzig starben, als wenn Sie die Sechzig erreicht hätten, Doktor? Weil man die Kürze Ihres Lebens in Relation zur Intensität Ihres Werkes setzt; gut, warum nicht. Aber eben dieses unvollendete Werk ist es doch nun auch, das Ihr Gestorbensein so fragwürdig, ja, wenn nicht ungültig macht. Sie sind doch in Sicherheit, Doktor. Was kann Ihnen denn jetzt noch geschehen? Nicht wahr, da darf ich doch, was jene zu kurz bemessene Lebensspanne betrifft, von einer Sympathiesteigerung absehen? Sie wissen es schließlich selber am besten, wie untrennbar sich Werk und Biographie bei Ihnen vermischen. Georg Büchner – das ist Leben und Dichtung, das ist Aufsässigkeit und Pathos, das ist Hektik und Realismus, das ist Flamme und Kühle zugleich.

Und doch ist es natürlich in erster Linie Ihr Werk, was Sie auch heute noch so scheinbar mühelos trägt. Nur: Wäre nichts als dieses auf uns gekommen; kein fact, kein Datum, Doktor, von Ihnen; nur Danton, Lenz, Woyzeck, Leonce –: Ob es dann auch einen Büchner-Preis gäbe; ob man sich dann auch so zu Ihrer Schreibart, Ihren Menschen, Ihrer Anteilnahme, Ihrer Sprache bekennte? Ich fürchte, daß Sie diese Frage für unschicklich halten. Erlauben Sie mir aber bitte trotzdem, sie stehenzulassen.

Denn Sie verkörpern auch etwas Unseliges, Doktor. Nämlich den verzeihlichen, wenn auch absolut unliterarischen Wunsch, Werk und Autor möchten wie zwei Sandwichhälften konturgleich aufeinanderpassen. Woraus sich unschwer die so gern kolportierte Forderung ableiten läßt, eine moralische Geschichte müsse einen praktizierenden Moralisten zum Urheber haben. Auf eine Formel gebracht: Wie geschrieben, so gelebt. Was selbstredend nur Ethisches meint.

Ach, Doktor, wäre das schön. Schön für den Autor vor allem, der ja nun einen Ausbund an Tugenden darstellte. Aber schön auch für seine Geschichte? Wie ein Verbrechen schildern, wenn ich es auf dem Papier jetzt nicht bis in die diffizilste Gemeinheit hinein aushecken kann? Wie einen Zuhälter glaubwürdig machen, wenn ich nicht selber von den Mädels die Penunse verlange? Wie den Scharfrichter frühstücken lassen, wenn ich nicht seine Sorge um den zu kurzen Hals des Verurteilten kenne?

Doktor, Sie wissen, was ich meine. Denn Sie haben noch Mitleid mit Woyzeck. Und Ihre geleugnete Anteilnahme an Lenz, sie spiegelt sich in den verräterisch schönen Naturbildern wieder. Sie schlucken noch, wenn Sie schreiben. Sie bringen es noch fertig, mit sich und Ihrer Literatur in Einklang zu leben. Sie haben sie noch nicht als gesellschaftsfeindlich empfunden, wenn Sie sie schreiben. Sie sind noch nicht vereinsamt am Schreibtisch. Sie können noch unvereist aufstehen. Sie denken sogar noch an anderes, an Ihre Braut, an Ihre Familie, an die politische Lage, die Umwelt, über eine größere literarische Arbeit gebeugt. Sie sind noch in der Lage, zu kommunizieren; obwohl doch Ihre Stoffe Sie eigentlich überwältigt haben müßten.

Doktor, hier beneide ich Sie. Denn mich hat die Literatur zum Außenseiter, zum Einzelgänger gemacht. Ich bin ihr hörig geworden und weiß auch inzwischen, was diese Hörigkeit kostet.

Nur, was treibt einen dann hin zur Literatur? Nein, ich glaube nicht an die große, die einmalige Offenbarung, es gibt sie; aber sie ist nicht die Regel. Die Regel heißt: Man ist Schriftsteller; man kann nicht Schriftsteller werden. Ich habe als Kind Beschwörungsgedichte gemacht, Zungenbrecher mit Gebetsmühleneffekt. Je unbarmherziger sie klapperten, desto wirksamer waren sie. Sie mußten gemurmelt werden, um meinen Vater zu beschützen.

Ich glaube, daß ich noch heute im Wesentlichen nichts anderes mache. Ich beschwöre, Doktor. Ich beschwöre die Zeit, so lange stehenzubleiben, bis ich ihr meine Geschichte abgetrotzt habe. Ich beschwöre die heruntergetretenen Pantoffeln aus dem Konzentrationslager-Schuhberg so lange, bis ein jüdischer Mann in ihnen steht. Ich beschwöre die Vergänglichkeit, bis sie mir ihre, nun auf sie selber anwendbare musikalische Monotonie offenbart –: Das Schlangenlied, nach dem die Staub-Otter tanzt. Aber das Klappern besorgt meine Schreibmaschine, nicht mehr die Schlange.

Mein Schamanentum, das aus Kinderängsten und Menschheitsträumen erwuchs, ermöglicht es mir, selbst den Tod noch zu bannen. Nicht meinen, der läßt sich nichts abhandeln; den meiner Figuren. Ich denke nicht daran, sie ewig leben zu lassen. Ich lasse sie sterben; aber ihre Tode sind menschliche Tode. Ich reiche Vorschläge ein in meinen Büchern, Doktor. Diese Vorschläge haben mit Individualismus, Entscheidungsfreiheit und Würde zu tun.

Man kann auch eine Wagner-Biographie verfassen, natürlich. Selbst ein Hitler-Buch ist ja denkbar. Aber wozu über Leute schreiben, die wir schon kennen? Ich ziehe es vor, meine Leute kennenzulernen, während ich über sie schreibe. Ich bin zu neugierig, um mich mit schon vorhandenen Lebensläufen zufriedenzugeben. Ich muß neue probieren. Selbst Lenz, Doktor, ist mir da nicht neu genug; Oberlin hat ihn ja auch schon beschrieben. Und auch ohne Oberlin kennten wir ihn ja bereits. Kennen Sie Karl Goschnik, Doktor? Sie finden ihn in meinem letzten Buch; und nirgendwo sonst.