The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Writer
Born 4/12/1947
Member since 2012
Ursula Krechel setzt den Verheerungen der deutschen Vergangenheit und den Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer vielgestaltigen Literatur entgegen. Sie seziert die Innenansichten der Klassenverhältnisse, sie zeigt, wie nach Flucht und Exil die Rückkehr nach Deutschland in Fremdheit und Nicht-Zugehörigkeit mündet.
Jury members
Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Daniel Göske, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter sowie je ein Vertreter/eine Vertreterin des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt
Zählen, erzählen und: Wer nicht zählt
Die Geschichte explodiert, begräbt namenlose Menschen unter sich. Namenlos für wen? Es ist der 17. Oktober 1813, ein dramatisches Datum. Ein Kind wird an diesem Tag geboren. Und bei Leipzig stehen Preußen, Österreicher, Russen, Schweden und Soldaten aus den deutschen Fürstentümern dem napoleonischen Heer gegenüber, zu dem auch die Regimenter der Rheinbund-Staaten gehören. Was heißt gegenüber? Sie fallen übereinander her. Es ist Sonntag. Am Dienstag werden 75.000 Soldaten der Alliierten getötet oder verwundet sein, auf der französischen Seite 45.000. Drei Tage dauert das Gemetzel. 23.000 Männer aus der französischen Armee bleiben in den Lazaretten zurück. Was heißt Lazarette? Zelte, in denen Wundärzte und Feldschere gegen Bajonettstiche, Schussverletzungen, das Verbluten, den Wundstarrkrampf kämpfen. Häufig bleibt nur die Amputation. Gestalten, die ihr Regiment und ihren Verstand verloren haben, irren umher, viele sterben an Flecktyphus. Jetzt hängt ein Spruchband über der Geschichte: Völkerschlacht bei Leipzig. Den Begriff hat Achim von Arnim geprägt. Es gibt Gründe, heute von solchen Zahlen zu sprechen. Alle Einzelnen zählen, und jeder und jede Einzelne ist nicht vereinzelt. Zahlen erzählen nicht. Was geschieht mit den Toten, den Erschossenen, Erstochenen, den von panisch gewordenen Pferden Niedergetrampelten auf den Feldern? Und die Sieger: Taumeln in der Befreiung, sind deutsch, deutscher in der beharrlichen Kleinstaaterei, und da bleiben sie, kujonieren, zensieren ihre aufsässigen, aufständischen Bürger, ansonsten Friedhofsruhe in vierunddreißig Ländern und Ländchen.
Für den Vater des Neugeborenen Ernst Karl Büchner, den Arzt mit einem Doktorgrad für Chirurgie und Gynäkologie, ist der Tag ein Schock. Zuhause ist der Gynäkologe gefragt, anderswo der Wundarzt. Es ist das erste Kind, das seine Frau gebiert. Obwohl Monarchist und loyal dem Großherzog gegenüber, ist er frankophil und ein Anhänger Napoleons, die Mutter sanftmütig und gebildet. Und da ist das Neugeborene, aus dem ein Dichter wird. Fünf Geschwister folgen ihm. Die Schwester Luise ist acht Jahre jünger als der Bruder Georg. Er erwähnt die Schwester nicht, doch sie hängt an ihm. Im Hause des Doktors wird gelesen und nach dem Zeugnis des Bruders Wilhelm häufig abends vorgelesen: Aus der Zeitschrift Unsere Zeit in dreißig Bänden, später für Dantons Tod eine unerlässliche Quelle. Vielleicht liest man auch Des Knaben Wunderhorn oder die Märchen der Brüder Grimm, eine aufsehenerregende Novität des Jahres 1812. Zitate daraus montiert der Dichter in seine Arbeiten. Auch Unsere Zeit ist Zeit: Schreiben begleitet die Zeit, stolpert, rennt atemlos vor ihr weg oder hinkt ihr nach. Schreiben heißt: Denken, Beobachten, auf Töne und Misstöne achten, Schlüsse ziehen mit weitreichenden Folgen. Schreiben heißt: Lesen und auch das Unscheinbare auflesen. Schreiben heißt: den Tod, den gewaltsamen Tod denken, an Lebensbedingungenerinnern, die töten. Mit salbungsvollen Worten streut die Politik Sägemehl über die Blutspuren, neue Opfer sind zu beklagen. Später, in anderen Gesellschaften spricht man von Säuberung. Kapitulation, Dekontamination, Dekapitation: ein versunkener Begriff aus dem Wörterbuch der Euphemismen. Verdrängen ist ein Begriff, der noch nicht erfunden war. Schreiben heißt: bedrängende Fragen stellen und sie nicht beantworten können.
Noch einmal muss von Zahlen gesprochen werden: 25.000 bis 40.000 Menschen wurden in der Terrorherrschaft zwischen Juni 1793 und Juli 1794 getötet. Danton duldete als Justizminister die Septembermassaker an 1.400 politischen Gefangenen, Royalisten, Geistlichen und Menschen, die aus gottweißwelchen Gründen im Gefängnis saßen. Vom Zählen zum Erzählen, das ist keine Grundrechenart, eher eine unerbittliche Reduktion. Die Praxis des Terrors schlägt der Theorie vom
revolutionären Umschwung ins Gesicht. Sie verliert ihr Gesicht. Im Schrecken der Tugend blitzt der Kern des radikal Bösen auf. Es ist eine Wendung, die Hannah Arendt bereits im Denktagebuch, Heft 1, September 1950 notiert und die mir näher ist als die später so exzessiv zitierte Banalität des Bösen. Vor dem Schafott sind alle gleich: da rollt Abends der Kopf. Woyzeck ist es, der so klagt. Da kippt etwas, strauchelt, ist schon am Boden. Der Schlag haut hin.
Bei seinem ersten Aufenthalt in Straßburg schreibt Georg Büchner der Familie von einem Überfall in Neustadt auf eine friedliche und unbewaffnete Versammlung, bei der willkürlich mehrere Personen niedergemacht worden seien. Und gleich danach schildert er einlässlich, staunend, kopfschüttelnd die Begegnung mit einem merkwürdigen Menschen, der ein rotes Barett trägt. Es folgt die Beschreibung seiner extravaganten Kleidung. Ihr denkt nun, ich hätte mit einem Narren gesprochen, und Ihr irrt. Er ist ein Kosmopolit — nein, er ist mehr, er ist St. Simonist! Danach ist ein Ausrufezeichen unerlässlich. Sie haben nun ihren père[…], aber billigerweise müßten sie auch eine mère haben.
Dieser Bericht muss auch Büchners Schwester, die noch ein junges Mädchen ist, tief beeindruckt haben. Für den Grafen Saint-Simon, den Sozialreformer, waren Kapital und Arbeit gleichrangig. Gleiche Rechte, gleiche Pflichten, kein Privateigentum, kein Erbrecht, Bildung für alle: eine revolutionäre Sicht und fast eine utopische Weltordnung, mit friedlichen Mitteln zu erreichen. Frühsozialismus nennt man dies. Die Anhänger des Grafen Saint-Simon sind schwärmerisch. Steine, die aus dem Weg geräumt, Felsbrocken, die weggesprengt werden müssen, übersehen sie. Was wäre das für eine Welt, die da entworfen wurde? Was aus der Welt vertrieben oder was geflohen ist, ist die Menschenfreundlichkeit. Es bleiben die Armen, denen keine Freundlichkeit hilft. Es bleibt der scharfe gesellschaftliche Schnitt, die Unversöhnlichkeit zwischen Armen und Reichen. In einem Brief beruft sich Büchner auf seine mitleidigen Blicke. Mitleid als eine der edelsten Leidenschaften: Ist dies Rechtfertigung, ist dies Bekenntnis? Von einer Utopie ist er weit entfernt, doch er muss Gründe haben, die Familie an dieser Begegnung teilhaben zu lassen. Zieht der Mann sein Barett über Grenzen, über eine Generation hinweg vor Schlegels Lucinde, dem utopischen Projekt der Liebe?
Hat Luise gemerkt, wie der Bruder in fieberhafter Hast im elterlichen Haus sein großes Drama schrieb — in der vulkanischen Eruption, in der Furcht vor Kerkerhaft, im Aufstand gegen die Vernichtungsmaschinerie, in der seine Mitverschwörer zermalmt werden? Hat Luise eine Liebe? Sie wird einen Beruf haben, den sie sich erarbeitet. Nur vom achten bis vierzehnten Lebensjahr hat sie Schulunterricht in einem Offenbacher Mädcheninternat. Vorher war ein unwissender, ungebildeter Theologe ihr Lehrer, so schreibt sie. Religion kommt in ihrem weiteren Leben nicht vor. Ein Paukenschlag ist 1855 ihr Manifest Die Frauen und ihr Beruf, das sie in verschiedenen Auflagen weiterentwickelt. “Freiheit, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit“ sind Luise Büchners Ziele. Wie sollte es anders sein: Sie kämpft für Frauen aus dem Bürgertum. Dienstmägde, Markthändlerinnen, Hutmacherinnen kommen ihr nicht in den Blick. Sie schreibt, organisiert mit anderen den Allgemeinen deutschen Frauenverein, genießt das Wohlwollen der so viel jüngeren Darmstädter Großherzogin Alice, einer Tochter von Queen Victoria.
Für die Emotionalität, das Fließende, die Liebe zuständig zu sein, ist im weiblichen Rollenfach verankert. Da passt es, dass mir im Regionalzug eine junge Frau gegenübersitzt, ein Tattoo mit einem Namen, den ich leider nicht lesen kann, in einer Schnörkel-Kalligraphie über der rechten Brust und dann eine Zeile aus einem vielleicht missverstandenen Song: Until I die by your side. Spricht hier Julie, Dantons Frau? Ein entferntes Echo? Aus Liebe dem Geliebten folgen, der mit Konsequenz in den Tod geht: Nein, Julie, ich liebe dich wie das Grab. Julie nimmt die Phiole, ergibt sich dem Liebestod. Lucile dagegen, die Frau von Camille Desmoulins, ist ein politscher Kopf: Im rückwärtsgewandten Ausruf Es lebe der König! blitzt ein Denken auf, dem einer Selbstmord-Attentäterin verwandt. Auch ihr Kopf fällt. Und ist Liebe nicht auch eine politische Kraft, jedenfalls keine Naturgewalt? In der Folge wartet die arbeitsame Guillotine auch auf Lucile: da rollt Abends der Kopf.
Und wo ist Marion? Sie spricht den überwältigenden Monolog der sexuellen Initiation, spricht von ihrer Lust und ihrer Entwürdigung. Ihr Part ist nur ein wenig kürzer als die Monologe von Robespierre und St. Just. Sie will Danton erzählen, aber sie zählt nicht. Als hätte sie nicht gesprochen oder ins Leere hinein: die Leute weisen mit Fingern auf mich. Auch die Büchner-Forschung übersieht sie. Marion, die ihren Körper verkauft wie andere ihre Seele, wird nicht geliebt, sondern benutzt, une fille perdue. Und Marions Mutter ist vor Gram gestorben. Doch sie steht still in ihrem Elend, in der Geschichte der Ausgegrenzten, statisch auf der Bühne, allein in einem Zimmer mit Danton. Ihr Kopf wird nicht rollen, er scheint zu unbedeutend für den resignierten Machtpolitiker. Ihr ganzer Körper wird gerollt, herumgeknufft und soll sich zum Gefallen des Mannes drehen. Todesangst, als sie gewürgt wird und beinahe erstickt. Panik, wenn ihr erster Liebhaber sich ertränkt und sein Leichnam an ihr vorbeigetragen wird. Das war der einzige Bruch in meinem Leben. Während sie davon spricht, wie sie die geworden ist, als die sie angesehen und verachtet wird, spricht Danton von Lippen, Schönheit, ihrem Leib, als hätte er sie nicht gehört. Der Mann, der Freier, hat das letzte Wort und wendet sich den schwatzhaften Grisetten zu. Er ist so frei. Die Sünderin ist Spielfigur im patriarchalischen Mythos. Erst im Expressionismus soll sie gerettet werden. Der junge Büchner, Gründer der Gesellschaft der Menschenrechte, meint auch sie. Schreiben heißt nicht nur: den Stummen, stumm Gemachten, unter Redeverbot Stehenden eine Stimme zu geben, sondern dieser Stimme eine Glaubwürdigkeit zu geben, dass sie stimmt. Dass sie gestimmt ist wie ein Instrument. Schreiben heißt in diesem Fall: Kunst. Und alle Höflichkeit, alle Demut den Gegenständen gegenüber nützt nicht. Auf Kunst muss beharrt werden.
Luise Büchner reist —zum Grab des Bruders und schreibt ein Gedicht darüber. Sie beginnt die Novelle Ein Dichter, in der sie den Motiven der Radikalisierung einer jungen Generation, der Gewalt der Staatsmacht, auch der Zensur nachgeht, und bricht ab. Die Geschwister sollen davon nichts wissen. Sie erfindet sich den Bruder als jungen Mann neu: kein Ort, keine Zeit für Revolutionäre. Sie drängt zu ihm hin, kann freilich nicht zur Radikalität und zum Rang seiner Ästhetik vordringen. Sie verbringt ein halbes Jahr in Paris und in der Normandie, über die Attentäterin Charlotte Corday forschend, und schreibt ein biographisches Portrait in Cottas Morgenblatt; es ist 1865 die letzte Nummer dieser Zeitschrift. Was treibt Luise Büchner an, was will sie mit Charlotte Corday? Die Lücke schließen, die der Bruder in seiner geschichtsphilosophischen Erkenntnisarbeit zu Dantons Tod gelassen hat? Die Frau und ihr Beruf, ihre Berufung als Mörderin? Charlotte Corday hat einen inneren Ruf gehört, Marat zu töten. Eine Attentäterin aus Gewissensgründen? Luise Büchner überlebt ihren Bruder um vierzig Jahre.
Und da steht wieder der Mann mit dem roten Barett, und drängt sich in meine Rede. Oh nein, ein Narr ist er nicht. Sein Cashmir-Shawl, den Büchner beschrieben hat, flattert im Wind, immer noch trägt er denselben Rock wie im Jahr 1833, enge Hosen, auf die Weste ist der Name Rousseau gestickt, und er hat ein Stöckchen in der Hand: Wen und was will er dirigieren? Jetzt steht er in Straßburg vor einem rasanten Gebäude aus zwei metallisch glänzenden Zylindern mit abgeschrägten Dächern, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, gegenüber dem Rundbau des Europäischen Parlaments, dem Wabenbau, dem Babelbau, dazwischen das Wasser der Ill und Rasen. Fraßen ab das grüne, grüne Gras, / Bis auf den Rasen. Der Mann mit dem roten Barrett winkt, rudert mit den Armen, rudert mit den Armen über den Rhein, schon ganz erschöpft vom Einklagen der Menschenrechte. Er setzt an zu einer Rede, sein Mund bewegt sich, er gestikuliert, doch der Ton ist abgedreht.
Ich danke der Akademie für den Preis, ich danke allen, die meinen Weg bis hierher begleitet haben, besonders danke ich meiner Laudatorin Sabine Küchler und mache ein Geständnis: Einmal — oder war‘s zweimal oder mehrmals (oder habe ich es verdrängt?) — bin ich mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Das war genau vor fünfzig Jahren, also verjährt. Einem bestimmten Gesetz: Ein Flugblatt war unter die Leute gebracht worden, vielleicht eine Landbotin, die gegen die Kriminalisierung von Frauen protestierte. Ein Frauenzentrum war durchsucht worden. Begründet wurde die polizeiliche Aktion mit dem Verdacht auf Beihilfe zur Abtreibung. Die Mordkommission und die Politische Polizei ermittelten. Jemand musste auf dem Flugblatt verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes zeichnen. Dazu hatte ich mich bereit erklärt, wählte aber den Namen von Luise Büchner und setzte korrekt meine Adresse hinzu, auch meine Telefonnummer fehlte nicht. Ein Name lässt sich leicht fingieren, ein Name kann eine Anspielung sein, eine Reverenz. Es war nicht schwer, die schlecht getarnte Verfasserin ausfindig zu machen. Vermutlich war ich leichtfertig, oder es mangelte an krimineller Energie. Ein Rechtsanwalt hat es geradegebogen, sodass mir kein Haar gekrümmt wurde. Verantwortlich im Sinne. Verantwortlich in jedem Sinne. Verantwortlich mit allen Sinnen.
© Ursula Krechel