The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.
Oswald Egger
Oswald Egger is awarded the »Georg-Büchner-Preis« 2024. The prize giving ceremony will take place in Darmstadt on November, 2.
Writer
Born 19/12/1925
Deceased 1/6/2017
Member since 1977
Dem Reichtum seiner Themen entspricht der Reichtum seiner Formen...
Jury members
Juryvorsitz: Herbert Heckmann
Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Günter de Bruyn, Walter Helmut Fritz, Hartmut von Hentig, Ivan Nagel, Oskar Pastior, Lea Ritter-Santini, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger
Phantasie über ein verlorengegangenes Theaterstück von Georg Büchner
Würde es uns im Herzen bewegen, wenn ein bislang verschollen geglaubtes Theaterstück von Georg Büchner unversehens wieder auftauchte? Wenn ein Rechtsanwalt aus der Schweiz in einem großen, zuständigen Verlag anriefe und im Auftrag eines Mandanten, den er nicht nennen will, das Manuskript, von dem uns nur der Titel Pietro Aretino überliefert ist, für eine wahrscheinlich erhebliche Summe anböte, damit der Verlag seine geplante kritische Werk-Ausgabe damit ergänzen könnte? Oder wenn er das Manuskript − der Verlag hätte ja nur die Druck- und Verbreitungsrechte − einem großen Londoner Versteigerungshaus anböte und Marbach es ersteigerte als unseren mit Kafkas Prozeß-Manuskript kostbarsten Literaturbesitz? Es wäre natürlich eine Sensation, aber wäre es mehr als eine feuilletonistische Sensation? Wäre es mehr als ein Lustgewinn für die Philologen, die sich damit beschäftigen würden, wie das Werk im Gesamtwerk Büchners einzuordnen, zuzuordnen sei, welche Quellen der Dichter benutzt, welche Zitate er eingefügt hat? Wäre es mehr als eine Theatersensation, die man bei Gelegenheit der verspäteten Uraufführung in einem nun gesamtdeutschen Festakt feiern würde?
Könnte so ein unverhoffter Fund wie das Manuskript von Büchner unser Leben verändern, bereichern, stärker, schöner machen?
Die Frage beschäftigt mich.
Und während ich darüber nachdenke, beginne ich über das verlorengegangene Theaterstück nachzudenken, über den jungen Dramatiker Büchner, der drei sehr verschiedenartige Stücke geschrieben und sich darin versteckt hat, − keins davon ist bekennerisch im Schillerschen Sinne − und über den Mann, dessen Name den Titel für das verschollene Stück hergab: Pietro Aretino. Soll ich es mir als eine Tragödie oder als Komödie denken? Als historisches Schauspiel? Als Künstlerdrama? »Der dramatische Dichter«, schreibt Büchner, »ist in meinen Augen nichts als ein Geschichtsschreiber, steht aber über letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweitenmal erschafft und uns... statt Charakteristiken Charaktere und statt Beschreibungen Gestalten gibt«. So mögen Sie mir bitte verzeihen, daß ich meine Gedanken über Büchner verkleide, verstecke oder auf meine Weise herausstelle bei dem Versuch, mich diesem Drama, das, wie eine gewiß frauenfeindliche Mit- und Nachwelt immer wieder behauptet hat, von Büchners Braut aus Prüderie vernichtet worden ist, zu nähern. Es könnte für mich den − später wieder zu streichenden − Untertitel haben:
... »oder die Fragwürdigkeit der Kunst«.
Aretino war ein Künstler.
Keiner von denen allerdings, deren Andenken in den Literaturgeschichten durch die Jahrhunderte ehrfürchtig bewahrt wird. Ein Verfasser von Schmähschriften, Pasquillen, pornographischen Sonetten und Hurengesprächen (die manchmal so realistisch klingen, als hätte er sie am Tatort in sein Notizbuch geschrieben), von religiösen Schriften, denen man nicht recht glauben mag, und von Komödien in der Volkssprache. Eine fiktive Grabschrift sagt von ihm: »Hier ruht der giftige Poet Aretino, der alle verleumdet hat außer Gott. Den, sagt er zu seiner Entschuldigung, kenne ich nicht.«
Welches von Aretinos Werken Büchner gekannt und also auch benutzt hat, kann ich nicht nachprüfen, würde es übrigens auch nicht tun, wenn ich es könnte. Vielleicht sind es die Ragionamenti, die Hurengespräche, sie sind in ihrem drastischen, zuweilen phantastischen Realismus shakespearescher und damit büchnerscher Diktion sehr nahe; vielleicht die Sonetti lussuriosi, formstrenge Gedichte über die erotischen Variationen des Beischlafs, − kaum seine politischen Pamphlete, seine unwürdige Korrespondenz, seine religiösen Schriften, sie sind bis heute nicht übersetzt. Die Ansicht von Gregorovius über Aretino könnte ihm eine wichtige Anregung gewesen sein, obwohl Sie mir entgegnen mögen, Gregorovius habe sie erst viele Jahre nach Büchners Tod geschrieben:
»Der von Geist phosphorizierende Sumpf der Verderbtheit Italiens stellt sich in diesem Menschen dar, dem Cesare Borgia des sechzehnten Jahrhunderts. Er ist ein Phänomen der Unsittlichkeit, wie es in keinem Volk zu irgendeiner Zeit gesehen wird. Man weiß kaum, was man hier mehr bestaunen muß, diese zynische Frechheit oder die Macht dieses Journalisten, und die Vergötterung, die er seinem Jahrhundert abzwang... Der Verfasser der gräßlichen Ragionamenti schrieb mit derselben Feder das Leben der Jungfrau Maria und andere Schriften religiösen Inhalts, und ein Papst, Julius III., umarmte und küßte ihn und machte ihn zum Ritter von S. Peter.«
Das Verruchte weckt und beschäftigt die Phantasie. Der Anstand glättet »Man könnte mir vorwerfen«, schreibt Büchner an die Eltern zu »Dantons Tod«, »daß ich einen solchen Stoff gewählt hätte. Wollte man ihn gelten lassen, so müßten die größten Meisterwerke der Poesie verworfen werden. Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindet und schafft Gestalten«.
Aretino, diesen Eindruck wecken alle Schmähungen, mit denen man ihn noch Jahrhunderte nach seinem Tod überhäuft, war immerhin ein furchtloser Mann, ein Kämpfer. Aber für wen hat er sich engagiert? Wollte er mit seinen unflätigen Gedichten über die Sittenlosigkeit des Klerus aufklären? Er selbst war ja der Sittenloseste, hatte wohl auch auf einen Kardinalshut gehofft. Machte er in seinen öffentlichen Briefen die Mächtigen lächerlich, damit das ausgebeutete Volk darüber befreit lachen konnte? Er selbst wollte ja ein Mächtiger sein und war es auch, er ritt neben dem Condottiere Giovanni Medici, dem Führer der schwarzen Banden, und war selbst ein Condottiere mit der Feder. Er ist kein Kämpfer für die Unterdrückten, kein idealistischer Utopist. Nein, er kämpft nur für sich. Er nennt sich »II Divino«, der Göttliche, er hat sich und seine Kraft, seine vielfältigen Schreibtalente, seine Begierden vergöttert. Eine andere Triebkraft, ein über das Eigene hinausweisende Motiv für seine Handlungen ist nicht zu entdecken. »Io sono in vero un terribile uomo«, − ich bin in Wahrheit ein furchtbarer Mensch −, sagt er von sich, − lachend.
Läßt sich ein solches Scheusal verteidigen? Der Dramatiker Büchner, der ihn lebendig auf die Bühne stellen und handeln lassen will, könnte wohl sagen: Er lebt und kämpft gegen den allgegenwärtigen Tod, er verteidigt das Leben, das er in seine Häßlichkeit, seiner hybriden Pracht, seiner ordinären Schönheit so liebt und von dem er nichts hergeben will, keine Stunde und keine Zeile aus einem Gedicht.
Nun ist er für Augenblicke einer anderen Figur aus Büchners Stücken nah: Danton, dem Gegner des moralisierenden Robespierre. Aretino aber ist noch allein: so wie er da allein auf der Bühne steht, im Nirgendwo, ohne Leben um sich herum, könnte er nur einen Monolog halten. Aufgabe und Absicht des Dramatikers ist es jedoch, Bewegung zu schaffen, wenigstens eine, vielleicht vier oder fünf oder viele Gestalten ausfindig zu machen und zu erfinden, die selber handelnd die Hauptperson, für die wir Interesse gewinnen sollen, zum Handeln bringen. Eine römische Episode aus der Biografie Aretinos wäre vielleicht für das Drama nützlich: Der Dichter hat ein Schmähgedicht verfaßt, das den päpstlichen Datarius Ciberti, späteren Kardinal von Verona, verunglimpft und ihn, wenn es veröffentlicht würde, in eine heikle, politisch verhängnisvolle Lage bringen würde. Ciberti schickt einen Herrn zu Aretino und bietet ihm Geld dafür, daß er das Manuskript vor seinen Augen vernichtet. Wieviel ist es denn wert? Nehmen wir einmal mit dem Verfasser an, es sei ein großes Kunstwerk, wie »Hamlet«, wie die »Göttliche Komödie«, in denen ja auch Zeitgenossen verunglimpft werden; wäre es dann nicht ein Verbrechen, wenn man es aus kleinlicher Politik der Menschheit vorenthielte? Aretino treibt den Preis hoch, schickt den Unterhändler zurück und wartet lachend auf ein besseres Angebot. Von einer bestimmten Summe an ist er natürlich bestechlich. Um dieses Motiv herum könnte sich eine Intrige entwickeln, auch ein Mordversuch an dem Verfasser des Manuskripts wäre denkbar und sogar historisch zu belegen. Ein Intrigenstück jedoch soll Pietro Aretino nicht werden, die Person, mit der Aretino sich in den Clinch begibt, muß gewichtiger, irritierender sein als der beleidigte Kleriker. Um zwei Sonnen muß diese Komödie kreisen, sonst bleibt ihre Bahn zu eng. Auch, das sehe ich jetzt, ist der Ort, an dem diese Szene, dann das ganze Stück spielt, nicht der richtige. Nicht das versteinerte Rom müßte Schauplatz sein, sondern die Wasserstadt Venedig, die Stadt der Ratten und der Commedia dellʼArte und der prunksüchtig verwesenden Palazzi.
Wer wohnt darin? Aretino bewohnte einen Palazzo am Canal Grande, tafelte dort mit Künstlern, mit Tizian und Sansovino, mit Kurtisanen und Fürsten.
Ja, Tizian ist sein Freund. Es gibt sicher eine Szene, wie der greise Tizian den Aretino beauftragt, eine Schmähschrift gegen jüngere Maler, Schüler und Konkurrenten zu verfassen. Nach Tizian, dem größten Maler der Welt, soll es keine Maler mehr geben. Die Kunst ist vollendet.
Anderer Schauplatz: Aretino besucht einen alten Marchese, der gelähmt von der Paralyse in einem Kabinett seines weiträumigen Palazzo liegt und der mit zwei Fingern das lahme Augenlid hochziehen muß, um den Dichter zu sehen. Der soll ihm − gegen hohe Bezahlung natürlich, nichts ist in dieser Geschäftswelt ohne bare Zahlung zu haben − seine Sonette über den Beischlaf zueignen und vorlesen, Gedichte, die in ihrer manieristischen Kunstfertigkeit die Natur übertreffen, oder, anders gesagt, eine Kunst-Natur kreieren. Die Schöpfung noch einmal. Was geschieht in den anderen Räumen und Kabinetten? Der Marchese läßt sich täglich von seinem Hausmeister durch alle Räume des Palazzo tragen, um zu kontrollieren, ob alle Gegenstände und Bilder noch an ihrem Platz, nicht vom diebischen Personal gestohlen und verkauft worden sind. Armer Verlorener, spottet Aretino, du stirbst an deinem Laster; meine Gedichte, die deine Laster lustvoll beschreiben, sterben nicht!
Diese Episode wirft ein Licht auf Aretino, das Stückganze erhellt sie nicht. Wenn ich auch kein fünfaktiges Drama nach klassischen Regeln, kein Ideendrama vor Augen habe, so muß es doch eine epische Folge haben und sich dabei auf büchnersche Weise erweitern und entfalten. Ich denke, der entscheidende Einfall, um die Handlung in Gang zu bringen, könnte von der Hauptfigur, dem Komödiendichter Aretino selbst kommen. Etwa so: Er ist zu einem Schuster gegangen, um für Nanna Schuhe machen zu lassen, elegante Schuhe. Was für herrliche Schuhe werden von diesem Schuster gemacht! Ich habe sie selbst in einem Lädchen in einer Gasse neben dem Campo San Stefano gesehen. Der Schuster nimmt den Auftrag an, − vielleicht ist das die erste Szene des Stückes, das Manuskript ist unordentlich, ohne Paginierung überliefert, man kann über die Szenenfolge streiten. Der Schuster arbeitet in seiner Werkstatt, aber während er das Schuhwunderwerk anmißt, bricht er in Tränen aus. Warum weinst du? fragt Aretino. Weil ich die Füßchen der Dame in diesen Schuhen nicht mehr gehen sehen werde, denn in kurzer Zeit geht Venedig unter. Er nennt auch das Datum. Dann werden zuvor die Preise hochgehen! sagt Aretino, denn die Damen wollen nicht barfuß zum Himmel fahren. Welcher apokalyptische Narr hat diese Nachricht in die Welt gesetzt?
Da ist er nun also: der Andere, die so überaus wichtige, irritierende zweite Person, die dem Drama seine metaphysische Dimension hinzugewinnt. Aretino will den Propheten sehen, aus Neugier zunächst, vielleicht auch, weil er ein Geschäft, vor allem aber für sich einen ungeheuren Spaß wittert, der seine Lust, im Leben zu sein, noch steigern könnte. Der Prophet hockt unter einem Brückchen am Campo S. Barnaba. Ein paar Zuschauer haben sich um ihn gescharrt, er redet, aber zu verstehen ist er nicht, oder fast nicht. Eine Unregelmäßigkeit der Gaumenbildung, vielleicht ein Wolfsrachen, hindert ihn daran, seine Visionen deutlich auszusprechen. Aretino sitzt auf dem Treppchen, horcht auf die Stimme, das Krächzen und Würgen und drohende Stoßen der Stimme, er versteht die Worte nicht, aber die Zuhörer, bestürzte Gläubige schon, erklären ihm, was der Prophet meint: Die Zeit ist zu Ende. So? Unsere Stadt Venedig wird untergehen? Nein, nicht nur die Stadt, nicht nur das Land ringsum, nicht nur Europa und Asien, die ganze Welt wird zu Ende gehen, der Tag ist schon genau festgelegt: in drei Wochen. Der Prophet, dem es in seinem Schrecken − das behaupten die Leichtgläubigen − schwer fällt, zu reden, hat die Nachricht von Gott empfangen und strengt sich nun verzweifelt an, sie weiterzugeben, damit wir uns danach verhalten und einrichten. In drei Wochen: der genaue Zeitpunkt ist wichtig, sonst bliebe das Prophetenwort schwach, wäre es nicht mehr als eine unverbindliche Warnung vor Laster und Luxus. Zukunft − das ist nicht nah genug für uns, um uns zu erschrecken; der nächste Mittwoch, in zwei Monaten, der Tag vor Ostern muß es sein, der feste Termin, der wird den Schrecken hervorrufen, den wir brauchen, um uns zu ändern. Aretino hört zu, hört und widersetzt sich, verhöhnt den gurgelnden, grunzenden, keuchenden Propheten, der da in der Gosse sitzt. Wie ist es dir bloß gelungen, Alter − oder bist du etwa ein Jüngling, nur deine dumpfe Sprache macht dich so alt, wie aus einer anderen Zeit redest du, aus einer Angstzeit, nicht aus unserer hellen Zeit, in der wir uns heiter, selbstbestimmt, emanzipiert bewegen − wie gelingt es dir, meinen Schuster und ein paar andere vernünftige Leute mit deiner Apokalypse zu überzeugen? Wo hast du die Weisheit her, daß Gott uns das Leben, das wir führen, und unseren schönen Frauen die Schuhe mißgönnt, die wir ihnen schenken wollen? Weil du aus der Kloake gekrochen bist, meinst du, die Welt sei eine Kloake und muß abgeschafft werden. − Aretino verhöhnt den Propheten, um ihn zu verwirren, dann auch, um ihn zu prüfen. Der aber bleibt fest, ja, er versteht so wenig die Sprache des zynischen Spötters wie dieser den von Visionen Überfallenen versteht, dem es die Sprache verschlagen hat. Die Propheten sind ja einfältig, ihren Visionen ausgeliefert. Sie können sich nicht dagegen wehren und sie müssen jeden, der sie in Frage stellt, für Abgesandte des Bösen halten. Die Einfalt ist ihre Kraft. Büchner zitiert aus apokryphen Schriften: »Feuerströme werden losbrechen. Die Wasser werden sich wandeln und zu feuerglühenden Kohlen werden und alles wird in dieser Glut verbrennen. Auch das Meer wird zu Feuer werden. Selbst die Sterne werden durch die Feuersglut schmelzen, als wären sie nicht geschaffen, und die Feste des Himmels wird aus Mangel an Wasser vergehen als wäre sie nie geschaffen.« Gott spricht in Bildern, nicht in Argumenten. Ja, die Bilder sind so stark, daß die Argumente der aufklärerischen Vernunft lächerlich wirken. Für einen Moment kommt dem Aretino sicher der Gedanke, daß der sture Bauernlümmel recht haben könnte. In gewissem Sinn, mögen wir Heutigen wohl denken, hat er ja auch recht. Nur ist der apokalyptische Augenblick noch so weit von uns entfernt, daß wir vorher unsere natürlichen Krankheits- und Alterstode sterben werden, die uns mehr ängstigen. Ließe sich aus der Apokalypse nicht ein Geschäft und ein Spaß zugunsten des Lebens machen? denkt Aretino. Der Bauernbursche müßte nur mehr Zulauf haben und auch denen, die erst überzeugt werden müssen, verständlich sein. So übernimmt er zynisch die Rolle des Propagandisten, läßt Flugschriften, Gedichte, Höllen- und Paradiesvisionen drucken und anschlagen und verteilen, um die Furcht vor dem Weitende und die Hoffnung auf ein jenseitiges neues Leben allgemein zu machen. Ist er auch glaubwürdig? Läßt er ausstreuen, er habe sein Silber verschenkt, seine Geliebten fortgeschickt? Sieht man ihn als Büßer auf der Piazza stehen die tränenfeuchten Augen zum Himmel gerichtet? − Man glaubt ihm. Er hat Erfolg: Mit der Furcht wächst die Gefolgschaft. Nun kann der Dramatiker zeigen, wie das Volk − besser sollten wir sagen, Bevölkerung, das Holperwort, um dem Haufen den mythischen Glanz zu nehmen − sich verhält. Zerrissen von Todesangst und der Euphorie plötzlicher Freiheit werden die Verführten gewalttätig. Wir erinnern uns jetzt an den Hausmeister, der den gelähmten Marchese täglich durch die Kabinette seines Palazzo schleppt. Der verweigert nun den Dienst, und das Personal beginnt − zuerst aus Furcht vor den geltenden Gesetzen noch vorsichtig, dann in der befreienden Erkenntnis, daß Anklage und Strafe nicht mehr treffen, immer dreister − Spiegel und Gemälde und Möbelstücke wegzuschleppen oder sie, die Apokalypse anarchisch vorwegnehmend, zu zerhacken, zu verbrennen, in den Kanal zu werfen. Der Gärtner will keine Zypresse mehr pflanzen, nur die schnell erblühende Rose wird er noch sehen können. Wieviele Geschäfte sind auf Zukunft berechnet: sie lohnen jetzt nicht mehr. Wieviele Bücher für die Messe geschrieben, wieviele Taten um des Nachruhms willen getan: den wird es nicht mehr geben. Das bevorstehende Ende macht einige fromm, andere skrupellos. Auf einen einzigen heftigen Augenblick schießt alles, was für eine längere Zeit geplant, gedacht, gehofft wurde, zusammen und der Augenblick scheint zu explodieren. Sieh alles jetzt: den zittrigen Lichtfleck an der Wand, die silbrige Baumrinde, die grünen Augen deiner Katze. Noch nie hast du die Dinge so deutlich, so schön gesehen! Was du jemals tun wolltest, tu es jetzt! Sokrates lernte ein paar Stunden vor seinem Tod Flöte spielen, und dem Schüler, der sich darüber wunderte, antwortete er: damit ich vor meinem Ende Flöte spielen kann. Der plötzlich so nahe Tod weckt die Phantasie: die vorher stumpf dahingelebt haben, werden von Visionen heimgesucht. Hoffe nicht mehr auf zukünftiges Glück, genieße jetzt! Lasse endlich Taten aus deinen Wörtern springen, halte sie nicht im Käfig deiner Gedanken zurück, denn du mußt die Konsequenz nicht mehr fürchten. Und wenn du dich rächen willst für angetanes Unrecht, räche dich jetzt, ehe die Rache Gottes über alle kommt und deine eigene, mutwillige, schöne Rache zunichte macht.
Das ist das Material, aus dem sich der von Aretino entfachte Aufruhr formt. Die Szene könnte der Palazzo sein, den Aretino dem jammerovllen Marchese inzwischen abgeschwindelt hat. Die verwüsteten Kabinette füllen sich mit dem Geschrei und dem Gelächter der Untergangsgesellschaft.
Eine Figur aber fehlt noch in dieser Komödie. In den Hurengesprächen Aretinos taucht sie auf. »Wie ich gelacht habe«, erzählt die Hure Nanna, »er stand an meinem Bett und betrachtete seine nackten Füße und brach darüber in Klagen aus, daß sie ihn noch immer tragen müssen. Über alles klagte er, auch über seinen Kopf, daß er noch immer Gedanken hervorbringt, anstatt ruhig bei den Würmern zu liegen und zu vermodern. Unter solchen Klagen brachte er es nicht fertig, mit mir das zu tun, weshalb er gekommen war.« Der Melancholiker, der seine Geburt als sein großes Unglück sieht und den Tod als das einzig Wünschenswerte, zu dem das Leben ihn hinführen wird, − auf ihn wird der Dramatiker in diesem Zusammenhang nicht verzichten. Büchner versteht ihn gut. »Manche Menschen sind unglücklich, unheilbar, bloß weil sie sind.« Büchner kennt ihre Melancholie, sie hat ihn selbst mitten im revolutionären Aufbruch befallen. Wie könnte die Figur heißen, der er den schwarzen Mantel der Melancholie umhängt, die er im Widerspruch zu dem lebenssüchtigen Aretino sieht: Leonce, Jaques, Orsino? Vielleicht benutzt er, um ihre Lebens Wahrheit zu sichern, Sätze und Texte von Menschen, die mit dieser Depression lange Jahre gelebt haben, vielleicht zitiert er seine beiden Zeitgenossen Leopardi und Cioran. »Sieht man nach Jahren eine Person wieder«, sagt Leopardi, »die man als Kind gekannt hat, so läßt der Anblick häufig vermuten, irgendein großes Unglück sei über sie hereingebrochen.« Und Cioran: »Um sich nicht weiter zu quälen, muß man sich in eine tiefe Interesselosigkeit gleiten lassen, muß aufhören, über Diesseits und Jenseits zu grübeln, die Wurstigkeit der Toten übernehmen. Wie kann ich einen Lebendigen an- sehen, ohne ihn als Kadaver zu denken, wie kann ich einen Leichnam betrachten, ohne mich an seine Stelle zu versetzen? Sein übersteigt die Einsicht. Sein macht Angst.«
Im Sinne der Komödie, darum handelt es sich ja, muß der Melancholiker in eine Verwirrung gebracht werden. Aretino fragt ihn: Bist du denn nicht zufrieden, daß das Ende der Menschheit endlich da ist? Es erspart dir doch die Mühe des Selbstmords. Und hast du nicht selbst in einem anderen Stück behauptet, die Menschheit breite sich über die schöne Haut des Erdballs aus wie eine Krätze und sie könnte nur gesunden, wenn dieser häßliche Schorf beseitigt wäre? − Nein, vor dem kollektiven Tod fürchtet sich der Sensible, denn er beschädigt seine Individualität. Aus diesem Grund möchte er ebenso wenig daran glauben wie sein Gegner Aretino. Der Tod soll ihn noch eine gute Weile begleiten als Liebhaber und Freund. »Die Selbstmörder«, sagt er mit Cioran, »sind die Vorform des fernen Geschicks der Menschheit. Sie sind die Boten und als solche soll man sie achten. Man wird sie feiern, man wird ihnen öffentliche Ehrungen darbieten, man wird sagen, daß in der Vergangenheit sie allein alles erkannt, alles erraten haben. Man wird auch sagen, daß sie vorangegangen sind, daß sie sich geopfert haben, um den Weg zu zeigen, daß sie auf ihre Weise Märtyrer waren.«
Wem gibt der Dramatiker nun recht: dem Melancholiker, dem gotterfüllten Propheten oder Aretino? So wird gefragt. Aber so einfältig ist der Autor nicht, daß er dem einen oder dem anderen seine Weltansicht einfach in den Mund legt. Er ist Realist. Er sucht Charaktere, diese Charaktere muß er schreibend finden. In allen zugleich und in allen gegeneinander spricht er sich aus, von allen ist er ein Teil. So soll es den Interpreten und Meinungsmachern überlassen bleiben, zu entscheiden, ob er ein optimistisches oder ein pessimistisches Werk geliefert hat. Sie mögen es, wie meistens, nach Stimmung und Weltansicht entscheiden, denen sie selbst unterworfen sind.
Der Tag X, der vom Propheten vorgesehene und von Aretino publik gemachte Tag, ist nun da. Welche Art von Untergang ist zu befürchten? Rast eine Flutwelle heran, zerbirst der gespannte Himmel in zwei Teile? Verklebt ein roter Staub Poren und Atemwege? Lösen sich die lebendigen Körper auf und fließen schleimig in die Gosse? Es fällt uns Heutigen nicht schwer, uns über die frühen Bilder der Bibel hinaus schreckliche, plausible Menschheitsvernichtungen vorzustellen. Aber hier in der Komödie geschieht dergleichen nicht. Der Untergang ist ja nur die Obsession eines Narren und die Behauptung eines Dichters. Ein schöner Sommertag. Der vermeintlich letzte Tag zeigt sich als ein schöner Tag mit einer schönen strahlenden Sonne.
Große Szene: Die vom Opium betäubten Leichtgläubigen, die die Räume des Palazzo okkupiert haben, wachen am Morgen einer nach dem anderen auf. Prüfen ihre Augen: sehen die noch, was sie vorher gesehen haben oder sind es die Formen und Farben des Jenseits? Sie berühren, betasten einander. Sie wachen auf wie am Anfang eines neuen, ganz anderen Lebens im verheißenen Paradies. Sie flüstern, sie nennen einander vorsichtig bei ihren Namen. Sie stehen auf und gehen mit unendlich vorsichtigen Schritten in der Furcht, wieder hinzufallen und dann endgültig liegenzubleiben. Die schöne Laura, die darauf gehofft hat, ihren toten Geliebten im Jenseits wiederzusehen, sucht ihn aufgeregt, findet ihn nicht, stürzt in plötzlicher Erkenntnis auf der Treppe hin. Man will ihr aufhelfen, man entdeckt, daß ihr nicht mehr zu helfen ist. Die Autorität des wirklichen Todes schreckt die Verwirrten auf. Sie wollen jetzt in ihrer Wut und Enttäuschung und Blamage den Lügner, der sie zum Tode verführt und zu Narren gemacht hat, bestrafen. Der angeklagte Aretino wehrt sich: BIN ICH ES DENN? Ich habe nur in schönen Formulierungen und raffinierten Versen, deren Wert ihr gar nicht ermessen könnt, verbreitet, was der Prophet, den der Walfisch ausgespuckt hat, weil er ihn nicht hat verdauen können, als Gottes Absicht erkannt hat. Und ist es denn so schlimm, liebe Zeitgenossen, daß ihr noch immer lebt? Freut ihr euch nicht, daß ihr wieder beginnen könnt mit euren Geschäften und Lügen und dem Feilschen und Großmütigsein und Krieg und Frieden machen untereinander? Lebt doch! Lebt!
So, stelle ich mir vor, endet das verlorengegangene Stück: Der widerlegte Prophet wird von der aufgebrachten Bevölkerung erschlagen und in die Kloake geworfen, − und Aretino lacht. Eine Überlieferung sagt, er habe so unmäßig gelacht, daß er dabei vom Stuhl gefallen und erstickt sei.
Nun habe ich mich, anstatt eine Rede zu halten, in Phantasien über ein verlorengegangenes Manuskript verstrickt. Es mag ja sein, daß es in unseren Tagen, wo so manches in der Tiefe der Zeit Verlorengeglaubte und schon Vergessene ans Licht kommt und selig und unselig ins Leben wirkt, wieder entdeckt wird, − vielleicht in Leipzig? Möglicherweise ist es ein ganz anderes Stück als das hier entworfene, − was mich nicht kümmern würde. Kunst bezieht ja seine ins Leben wirkende Kraft aus produktiven Irrtümern solange »bis der gefundne Tod uns frei vom Irren macht«.