Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Helmut Heißenbüttel

Writer
Born 21/6/1921
Deceased 19/9/1996
Member since 1972

Er hat bisher ungenutztes Vermögen der Sprache aufgespürt und mit poetischer Folgerichtigkeit in seinem Werk festgehalten...

Jury members
Juryvorsitz: Gerhard Storz
Siegfried Dörffeldt (Hessisches Kultusministerium), Richard Gerlach, Ernst Kreuder, Karl Krolow, Fritz Martini, Otto Rombach, Horst Rüdiger, Heinz Winfried Sabais (Stadt Darmstadt), Hans Scholz, Dolf Sternberger, Wolfgang Weyrauch

Laudatory Address by Karl Krolow
Writer, born 1915

Meine Damen und Herren, seit ein paar Wochen besitzen wir endlich die Sammelausgabe von Texten eines Autors, dessen Name heute an den Anfang eines Versuchs gestellt zu werden verdient, der Helmut Heißenbüttel gilt. Ich meine den Schweizer Eugen Gomringer. Heißenbüttel hat dieses für die Entwicklung des deutschsprachigen Gedichts der letzten zwanzig Jahre unschätzbare Buch – »worte sind schatten. Die konstellationen 1951-1968« – herausgegeben und eingeleitet. Gewiß alles andere als eine übliche Einführung in das weiterhin wenig bekannte Werk eines Lyrikers unserer Zeit, der so vieles bewirkte. Eine Auseinandersetzung vielmehr, eine Analyse der eigenen Entwicklung. Helmut Heißenbüttel kommt, indem er von Eugen Gomringer spricht, notwendigerweise auf sich zurück, auf die Situation, in der er sich zu Anfang der fünfziger Jahre als junger Schreibender befand, genauer gesagt, bis zum Frühjahr 1953.
Ich möchte einen Augenblick Heißenbüttel selber seine damalige Lage erläutern lassen. Er sagt: »Bis etwa zum Frühjahr 1953 hatte ich mich an traditionelle Muster gehalten, auch immer mehr Schwierigkeiten damit gehabt. Was ich an Auflösungen kennenlernte in dieser Zeit, etwa bei Eliot oder Pound, war historisch und änderte nicht wirklich etwas. Was ich bis dahin vom Dadaismus (das erste Bändchen mit Gedichten von Arp erschien 1953, ich kaufte es sofort) und Surrealismus kannte, faszinierte mich zwar, aber es war nicht nur historisch, mir fehlte jede Brücke, es für das, was ich selber zu praktizieren versuchte, benutzbar zu machen.« Dies änderte sich im Augenblick der Bekanntschaft mit dem ersten Heft der Gomringerschen »Konstellationen«, einem Heft mit sechzehn Gedichten, erschienen an entlegener Stelle, Copyright 1953 by spiral press, Bern.
Das Heft wurde ihm ein Jahr später zugänglich und Heißenbüttel spricht heute noch – fünfzehn Jahre danach – vom unmittelbaren Reiz, der von diesen Texten ausging, ein verbaler Reiz, der nicht – wie vorher bei George oder bei Georg Trakl – von Bildern, von Assoziationen ausging, vielmehr von etwas Unmittelbarerem: von der Sprache selbst, so wie sie hier in den sechzehn Texten von Gomringer vorgeführt worden war.
»Die Reizfunktion ging aus gleichsam von Sprache selbst, von Wörtern, die aus der Fähigkeit, Metaphern zu bilden (symbolisch für etwas einzutreten, das sie nicht wortwörtlich sagten), herausgenommen waren. Statt der Metapher wurde etwas sichtbar, was man den Bedeutungshof, den jede Vokabel besitzt, nennen könnte.« Das stellt Helmut Heißenbüttel rückblickend fest, und er erinnert sich des damaligen Lese-Erlebnisses: »Was ich las, waren einfach Gedichte, neue Gedichte, Gedichte, die nicht nur zu lesen, sondern auch zu machen einen Reiz hatte. Was mich beeindruckte, war auch eine Methode, die mir bis dahin unbekannt war, nicht nur unbekannt, deren Möglichkeit ich nicht gesehen hatte.«
Heißenbüttel sah dieses Neue, und er sah doch bald – sich mit Gomringer auseinandersetzend – das Andere, die eigene Artikulierungsmöglichkeit, den eigenen Weg, die eigene Folgerichtigkeit. Aber mir scheint es doch wichtig, festzuhalten, daß ein so methodischer Schriftsteller wie Helmut Heißenbüttel die ihm möglich, realisierbar erscheinende poetische Methode zum erstenmal bei Eugen Gomringer erkannte, so wichtig ihm übrigens schon früher die Methode, die verbale Methodologie Gertrude Steins geworden war. Jedenfalls war bei ihm etwas in Bewegung geraten, eine Sperre durchbrochen. Gomringer zeigte in seinen Texten zum erstenmal den Prozeß der poetischen Reduktion, der Reduktion des Wortmaterials, bis zu seiner Skelettierung. Freilich verband er mit solchem Reduktionsvorgang etwas, das auch Dada, Arp, der damals wieder gelesen wurde, praktiziert hatten: die verbale Kombinatorik, die freilich – im Gegensatz zu den märchenhaft uferlosen, witzigen und spielerischen Arpschen Konfigurationen – mit einem begrenzten, einem übersichtlichen, einem »organisierten« Wortmaterial zu tun hatte.
Gomringers Weg der Vokabularen Kombinatorik entsprach seinem spielerischen Vermögen, seiner mobilen Heiterkeit, wenn ich so sagen darf. Solche Entwicklung gibt es bei Helmut Heißenbüttel nicht. Sie entspricht wohl dem Naturell, denn Individualität, Temperament sind auch noch offenbar unter literarischen Umständen zugelassen und erkennbar, die Individualität zu eskamotieren scheinen. Die ernste Konsequenz, die man im Werke Helmut Heißenbüttels – seit seinen »Kombinationen« des Jahres 1954, mit denen er bekannt wurde, – verfolgen kann, hat sich später in den »Textbüchern« (von denen bis jetzt sechs vorliegen) allenfalls momentane, ironisch witzige Ausflüge in den Bereich des literarischen Spiels gestattet, das übrigens von den österreichischen Verfechtern der neuen, der »konkret« verbalen Dichtung eher genutzt wurde, bis zum überbeweglichen Sprachwitz Ernst Jandls heute. Derartige Überbeweglichkeit ist bei Helmut Heißenbüttel nirgends zustande gekommen. Sie ist von ihm nicht beabsichtigt worden, muß ich gleich hinzufügen, nicht beabsichtigt vom Norddeutschen und seiner strengen und folgerichtig angewendeten Vorstellung von Literatur, von Sprache, wie er sie in seinen Frankfurter Universitätsvorträgen während seines Poetik-Lektorats und überhaupt in Auslassungen dargelegt hat, die man im Bande »Über Literatur« gesammelt findet.
Es ist für Heißenbüttel gewiß – und er hat es in seinem Aufsatz »So etwas wie eine Selbstinterpretation« ausgesprochen – daß Literatur (oder – wie er sagt – »jedenfalls in jener Zeit, die diesseits der letzten Ausläufer der romantischen, symbolischen Redeweise liegt«) »eher im Exerzitium als im Genuß, in der Erhebung, in der Gemütserregung, der Wollust, der Illusion, der Bildung, der Rührung, der Belehrung durch Anschauung oder wie immer« zu verwenden sei. Und er hat seit dem Erscheinen der schon erwähnten »kombinationen« immer deutlicher erkennen lassen, wie sehr es ihm um sprachliche, aus der immanenten Logik der – literarischen – Sprache resultierende Exerzitien zu tun ist. Er hat sie spätestens seit dem Erscheinen seines »Textbuchs I« vor acht Jahren geübt.
Diese so folgerichtig verbal fixierte Dichtung hat ihre Herkünfte in der Philosophie Ludwig Wittgensteins (soweit sie über die und mit der – wortwörtlich genommenen – Sprache und der Logik solchen Sprachgebrauchs philosophiert) ebenso wie in der literarischen Benennungs-Sucht, der ständigen Benennungs-Euphorie, die man bei Gertrude Stein findet. Aber Helmut Heißenbüttel ließ es bei allen diesen Influenzen nicht bewenden. Er einverleibte sie sich, um sie in den eigenen poetischen Texten zu verarbeiten. Heißenbüttel erreichte in seinen literarischen Texten – Max Bense hat in seinen Ästhetik-Beiträgen den Begriff »Text« definiert: »Der Begriff Text reicht auch ästhetisch weiter als der Begriff Literatur. Natürlich ist Literatur immer Text und Text nicht immer Literatur, aber Text liegt tiefer im Horizont des Machens als Literatur, er verwischt nicht so leicht die Spuren der Herstellung, er beweist die vielfältigen Stufen der Übergänge, und genau auf diesem Umstand beruht seine Funktion der Erweiterung des Begriffs Literatur« – Heißenbüttel, sage ich, erreichte in seinen literarischen Texten, daß in ihnen Sprache aus Sprache entwickelt wird, daß sie »beim Wort genommen« wird, daß Sprachvorgang und Denkvorgang identisch sind, und Wort und dargestellte »Wirklichkeit« in der Wirklichkeit, der Autonomie des einzelnen Wortes zusammenfallen.
Man hat mit dieser ständigen Übereinstimmung zu rechnen. Allerdings gibt es in Helmut Heißenbüttels nun seit eineinhalb Jahrzehnten zu verfolgender Entwicklung Verhaltens- beziehungsweise Praktizierungs-Schwankungen. Veränderungen haben sich eingestellt. Die Veränderung sieht seit dem »Textbuch 4« so aus, daß in den reduzierten Gedicht-Corpus »Stoff«, »Bedeutung« oder wie immer man einen derartigen Auffüllungsprozeß nennen mag, in den Text-Ablauf zurückkehrten. Eine derartige Rückgewinnung vollzog sich Schritt um Schritt. Die typographischen Merkmale, die bei manchen Texten stark im Vordergrund gestanden hatten, traten zurück. Der einzelne verbale Text näherte sich allmählich einer prosaähnlichen Form und wurde gleichzeitig geräumiger. Wenn solche Kategorien überhaupt zu den Gedicht-Texten Heißenbüttels passen sollten, könnte man davon sprechen, daß es sich hier um »lange Gedichte« handele. Aber ich muß gleich hinzufügen, daß die üblichen klassischen Vorstellungen und Unterscheidungen zwischen lyrischem, essayistischem und Prosatext fortfallen, wenn auch Heißenbüttel in diesem Punkte meiner Meinung nach nicht so weit gegangen ist wie etwa Franz Mon, bei dem es zur völligen Aufhebung der üblichen Kategorien kam.
Jedenfalls wurde mit diesem Umfang aber doch »Inhalt« zurückgewonnen, deutlich erkennbarer Stoff. Dies gilt für jeden der insgesamt sieben umfangreichen Texte des letzten »Textbuches 6«, am wenigstens vom letzten Text, der »abc-Ballade«, in der Heißenbüttels noch nicht lange erreichte Fähigkeit zum Witz, zur Ironie, zur verbalen Skurrilität und damit zu einer Distanz zum eigenen Tun, zur eigenen, so außerordentlich scharf und kühl kalkulierten literarischen Praxis, aufkommt. Der sonst eher nüchtern zu nennende Logizist, der sich – wie Beda Allemann das genannt hat – auf das »Gesetz der sprach-immanenten Steigerung« verstand, führt hier so etwas wie eine sprachliche Lockerungsübung vor. Interessant sind in den neuen Arbeiten Helmut Heißenbüttels übrigens auch die – wie schon in seinen Anfängen – deutlichen autobiographischen Elemente. Immer sind es ja nur collageähnliche Einsprengsel, momentane Zitate, momentane Erinnerungsspuren. Um es mit einer Stelle aus dem Text »Quasiautobiographisch« zu belegen:
»Etwas das sich lockert loslöst ablöst abspringt auf leuchtet vergessen an der Grenze des Kalkulierbaren geräuscharm wenig drüber hörts auf.«
Eine Sprechlage »am Rand des Repetierbaren Überleitung zum nicht rationalisierbaren Rest«. Ein Erinnern, das sich ebenfalls von der Sprachbewegung herausfordern läßt, von der verbalen Reizung und der immanenten Steigerungspraxis, auf die Allemann hingewiesen hat, Erinnern, das einbezogen ist in den Sprachfilm, der abläuft, dieser unablässige Sprachfluß, der die Worte nach sich zieht, der Sprache nach sich zieht, Sprache, die von Gegenständen der Erinnerung zwar gefüttert wird, aber die Gegenstände aufbraucht, verzehrt, in einem sehr raschen Stoffwechsel sozusagen, einem schnellen Verbrennungsprozeß, der die reine Sprach-Gestalt, die Wort-Gestalt übrig läßt, was schließlich mehr ist als bloßes Wort-Material, etwas, das von sich selber in Gang gehalten bleibt, in der durchgehenden Bewegung, die über den Textabschluß, der manchmal wie ein Textabbruch wirkt, hinausläuft. Diese perennierende Sprachbewegung der Heißenbüttelschen Texte hat dennoch nichts mit der poésie ininterrompue des französischen Surrealismus zu tun, dessen Ununterbrechbarkeit durch unablässig laufende Bild-Produktion erregt ist. Dieses Nichts-anderes-als-Sprache-Liefern der literarischen Texte Helmut Heißenbüttels ist in einer Textstelle von »über einen Satz von Sigmund Freud« im »Textbuch 6« in einem Satz – zugleich mit der Verdeutlichung der Grenze eines solchen verbalen Lieferungs-Prozesses – angezeigt. Es heißt dort: »die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.« Gewissermaßen ein Kernsatz der Heißenbüttelschen Poetologie, in dem sich theoretische Äußerung und praktische Verwirklichung decken, und man hat in ihm das eigentlich unablässige Thema des Heißenbüttel-Gedichts: das In- Bewegung-Geraten von Sprache, das Durchhalten und Verschwinden von Sprache, das Wiederaufnehmen von Sprache, das Kommen und Gehen von literarischer Sprach-Figur, was als Formulierung schon wieder an das Dekorative heranreicht, das hier nicht gemeint ist, nicht einmal Sprach-Duktus, Sprach-Gestus, vielmehr das Für-sich-Sein der Worte, des einzelnen Wortes neben und nach und um das einzelne Wort, mit seiner verbalen Herkunft, seinen möglichen verbalen Folgen, die ihm innewohnen. Es ist von ihm sozusagen mit seiner ganzen Geschichte, Wortgeschichte ausgestattet worden, einer Geschichte, die sich auf keine Vergleiche, keine Symbole, keine Bilder mehr einlassen braucht.
Und um nochmals auf das Sich-Erinnern zu kommen, das vom Text- und Wortverlauf des einzelnen Gedichts evoziert ist: ein weiteres Stichwort wird in einer der sieben »Abhandlungen über den menschlichen Verstand« geliefert, als welche der Autor seine sieben Texte des letzten Textbuches verstanden wissen will, im Text »eine fünfundvierzig Jahre alte Engländerin aus Birmingham«: – »da sein bedeutet nur daß man sich dran erinnern kann daß man sich dran erinnern kann bedeutet da sein« heißt es dort. Und das im Sich-Erinnern Benennen zeichnet schließlich das am meisten mit Stoff auf geladene Textstück »Deutschland 1944« aus, das Helmut Heißenbüttel 1966 im »Forum Frankfurt« las. Dieser geräumige Text ist zugleich ein Segment Zeit- und Sprach-Phänomenologie, nach einer literarischen Kleb- und Schneidetechnik ineinandergefügt, die man nicht gleich als Collage bezeichnen muß, die vielmehr einen Sprachfilm hervorruft. Und was da entstanden ist – dieser Film, wie ich es nannte – ist nun tatsächlich etwas, das alte literarische Vorstellungen eskamotiert: Genuß, Erhebung, Illusion, Emotion. Was gezeigt wird, ist vielmehr unbestechlich vorgeführte und durchgeführte literarische Übung an einem bestimmten – hier zeit- und sprachgeschichtlichen – Gegenstand.
Im Jahr der Tagung der »Gruppe 47« in Schweden hat Heißenbüttel für »Stockholms Tidningen« im Herbst 1964 einen Aufsatz »So etwas wie eine Selbstinterpretation« verfaßt, der sich mit dem Problem der literarischen Sprachgrenze als einer persönlichen Weltgrenze befaßt. Es heißt dort: »In der Begrenzung, die ein Komplex von Benennungen erfährt, erfahre ich eine Welt. Ich erfahre diese Welt, indem ich die Sprache, durch deren Begrenzung ich sie erfahre, nachspreche. Ich bin, wenn ich das tue, jemand, der dies für sich tut, und zugleich einer von beliebig vielen. Denn wenn ich dies Nachsprechen übe, so kann es auch jemand anders, und wenn es jemand anders kann, so kann es auch ein weiteres und so fort. Die ›Übung‹ besteht darin, daß der Leser in den Grenzen der Sprache, die er nachübt, die Grenzen einer Welt erfährt.« Die Texte Helmut Heißenbüttels lesend, habe ich die Erfahrung gemacht, daß die sich bei ihm markierenden literarischen Sprachgrenzen widerrufbare, provisorische Grenzen in einem Gelände sind, das von ihm in folgerichtiger Kühnheit, in kühner Konsequenz wieder und wieder neu abgesteckt und verändert wird, wie es zu der unruhigen und konsequenten Sache gehört, die Helmut Heißenbüttel betreibt.