Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

George Tabori

Writer, Translator and Stage Director
Born 24/5/1914
Deceased 23/7/2007

Wir bewundern darin seinen Mut, dem deutschen Publikum mit Witz Ironie und doch mit der Leidenschaft des Opfers und der Distanz des Weisen die unheilvolle gemeinsame Geschichte der Deutschen und Juden vor Augen zu führen.

Jury members
Juryvorsitz: Herbert Heckmann
Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Günter de Bruyn, Walter Helmut Fritz, Hartmut von Hentig, Ivan Nagel, Oskar Pastior, Lea Ritter-Santini, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger

Laudatory Address by Wolf Biermann
Balladeer and Poet, born 1936

Ein herzerfrischender Skandal

Mit Ihnen, ehrwürdige Damen und gesetzte Herren, genieße und feiere ich heute einen herzerfrischenden Skandal: Der Ausländer George Tabori kassiert den Georg-Büchner-Preis.
Das liegt, Sie wissen es, nicht grade im Trend. Die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. Nicht das Vaterland, unser Wohlstand ist in Gefahr. Die schöne Zeit des ewigen Friedens im kalten Krieg ist abgelaufen. Das goldene Zeitalter im Schutze des eisernen Vorhangs ist passé. Ein Gespenst kommt durch die nun geöffneten Grenzen nach Westeuropa: das mobile Gespenst der fordernden Armut.
Nacht für Nacht werden im wiedervereinigten Deutschland Wohnsilos der Asylanten angezündet, ausgeräuchert werden die Nester fremdländischer Vögel. Deutschland ist aus seinem zwiespältigen Schlaf erwacht. Eine national gesinnte Avantgarde des Wir-sind-ein-Volk-Volkes schmeißt Molotow-Coctails in die Fenster der unwillkommenen Hungerleider, eine wildgewordene Vorhut von Feiglingen klatscht schutzlose Flüchtlinge auf. Und das kommt hinzu: Viele diktaturverdorbene Väter und Mütter haben an den Kindern ihre Freude, denn sie machen den lästigen Gästen in unserem Wohlstandsparadies die Hölle heiß. Fernsehbilder vom applaudierenden Publikum bei den Pogromen in Rostock und Hoyerswerda gehen um die Welt. Mehr noch als von den jugendlichen Totschlägern sind viele Zuschauer an skandinavischen, holländischen und französischen Fernsehapparaten entsetzt von den johlenden Zuschauern auf deutschen Straßen. Der heiße Friede, der nach dem kalten Krieg nun über uns hereinbrach, ist der Beginn eines totalen Weltkrieges zwischen Arm und Reich.
Mit ihrer Asylantenhatz haben die Ausländer-Raus-Kriminellen einen Bombenerfolg bei Politikern, die nichts als wiedergewählt werden wollen. Viele Regierenden hören plötzlich sensibel auf die Stimme des Volkes, als wärs Gottes Stimme. Der Staat steckt nicht die Mörder und Brandstifter ins Gefängnis, sondern er schafft erstmal die Hungerleider dem ungnädigen Volk aus den Augen. In Hoyerswerda wurden die störenden Ausländer von der Obrigkeit unterthänigst weggekarrt, in Rostock wurden sie geflissentlich aus der Stadt geschafft. Der Souverän: das blöde Herrenvolk, die blonde Bestie, soll nicht länger gereizt werden durch den Anblick dunkelhäutiger Bedürftigkeit.
Die gewalttätigen Überfälle zahlen sich also aus in unserem judenreinen Land. Ein Ort nach dem anderen wird nun rumänenrein, zigeunerrein und negerrein und vietnamesenrein gemacht. Und weil in Deutschland kaum noch Juden leben, die man bequem töten oder verjagen kann, ging wenigstens symbolisch die jüdische Gedenkstätte im ehemaligen KZ Sachsenhausen in Flammen auf. Björn Engholm läßt sich Schulter an Schulter mit einer moralischen Instanz wie dem IM »Sekretär« filmen. In der Tagesschau sah ich das falsche Pärchen vor der abgebrannten Baracke. Und beiden quoll eine rechtsstaatliche Sprechblase aus dem Gebiß.
Ja, und in diesen schweren Zeiten für das wohlgenährte deutsche Volk, da der Staat jeden Steuergroschen braucht, um unsere ostdeutschen Brüderschwestern ruhig zu halten und in den westdeutschen Wohlstand zu hieven, da schmeißt die Jury der Darmstädter Akademie einem besonders frechen Ausländer sechzigtausend Mark Steuergelder steuerfrei in den Rachen. Und genau das freut mein Herz. Ich genieße es wie einen Kuß in die Seele. Die weltfremden Literaten und schrulligen Professores der Jury leben offenbar auf einem anderen, einem menschenfreundlichen Stern, sie haben eine gradezu subversive Entscheidung getroffen. Ja, es ist ein Skandal: Der angesehenste und zudem höchstdotierte Literaturpreis Deutschlands für deutsche Literatur geht an den englisch schreibenden Ungarn George Tabori. Dabei ist dieser Ausländer nicht nur ein Ungar, er ist nicht nur ein gewordener Brite und gemachter Amerikaner. George Tabori, Sie wissen es, ist Jude.
Ich wünschte mir eine Welt, in der diese entscheidende Nichtigkeit gar nicht erwähnt werden müßte. Wir könnten einfach über den Stückeschreiber reden, über den bezaubernden Entzauberer und schnoddrigen Wortakrobaten. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Die Zeiten, in denen Juden noch glauben konnten, sie seien einfach so Mensch unter Menschen, Dichter oder Denker im Land der Dichter und Denker, Spießer im Lande der Spießer, also einfach Deutsche unter Deutschen – diese idyllischen Zeiten sind vorbei.
Als die Entscheidung der Jury öffentlich wurde, kam prompt ein Brief an die Darmstädter Akademie, in dem stand: »Tabori ist Jude. Wir empfinden es als eine Schande, daß nun schon wieder ein Jude den deutschen Büchnerpreis kriegt.«
Jude Jude. Wer will schon wissen, was das eigentlich ist: ein Jude. In einer der Erzählungen des Preisträgers fand ich mal sowas wie: Jude ist ein Jude eigentlich nur, weil er von den anderen schmerzhaft daran erinnert wird. Diese Definition leuchtet mir ein. So erging es auch unseren beiden Vätern, die beide durch denselben Schornstein in Polen auferstanden.
Adolf Hitler und sein Volk haben die akkulturierten Juden in Europa vom holden Wahn der Assimilation ein für allemal erlöst. Es gab jüdische Selbsthasser wie Karl Kraus, die sich einbildeten, die besseren, die deutscheren Deutschen zu sein, und den Ehrgeiz hatten, den schlechten Deutschen gutes Deutsch beizubringen.
Ja, es gab sogar deutschnationale Juden, die glaubten, sie könnten mit den Orden aus dem Ersten am Zweiten Weltkrieg auf seiten Hitlers teilnehmen. Inzwischen hat es sich rumgesprochen: Die meisten Juden wurden in der Gaskammer und im Kugelhagel an den offenen Massengräbern und in den Ghettos von solchen Illusionen gründlich geheilt.
George Tabori gehört zu den wenigen, die diese mörderische Heilung überlebt haben. Und so schreibt er immer und immer wieder über die Lernerfolge der europäischen Juden in diesem furchtbar lehrreichen Jahrhundert.
In seinem Theaterstück Kannibalen zeigt George Tabori uns, einem wohlgenährten Publikum, verhungerte Juden im KZ, die dieses Mal kein Christenkind schlachten, aber doch ihren Mithäftling. Die Menschenfresserei stand am Anfang und steht am Ende der Humangeschichte.
In seinem Stück Die Goldberg-Variationen mißbraucht er Bach und die Bibel, um einen jüdischen Regieassistenten beim Theater im Theater jüdisches Theater spielen zu lassen. Aus dem Walfischbauch wird da ein Jonas an die Rampe gespuckt.
Die alten Kontrahenten Brecht und Stanislawski liefern ihre halben Wahrheiten für Taboris ganzen Schlamassel aus Gott und Putzfrau, ein verrückter Realismus über die reale Verrücktheit von erhabenen Vergangenheiten in der endgelösten Zukunft, die Auschwitz heißt. Tabori predigt den lebenslustigen Leuten in der Stadt Ninive eine Gaskammer und einen Schornstein und Berge von Menschenhaar.
In seinem Stück Jubiläum zwingt Tabori die ermordeten Juden und Zigeuner und Homosexuellen und Geisteskranken, ihren Tod noch einmal zu erleben. Und der Autor läuft dabei selber auf der Bühne rum als Clown und Totengräber, auf einem jüdischen Friedhof wäscht er die beschmierten Grabsteine. Er verfremdet Brechts Verfremdungseffekte mit dem Effekt des banalen Lebens. Was der Ideologe des epischen Theaters säuberlich getrennt hatte: falsches Leben und echte Kunst, schmeißt Tabori wieder heillos durcheinander.
Tabori erzählt einmal als Novelle und dann als Stück die unglaubliche Geschichte seiner Mutter, die es schaffte, ihre Reise im Viehwaggon von Budapest nach Auschwitz unterwegs abzubrechen. Er überschreibt die Geschichte von der märchenhaften Rettung seiner Mutter: Mutters Courage. Und wenn George Tabori den berühmten Titel des Bertolt Brecht verballhornt, dann sehen wir beides: wie nah und wie fremd ihm der große Stückeschreiber vom Theater am Schiffbauerdamm ist.
Auch George Tabori kommt von diesem Lehrer und Meister her. Aber Tabori ist zugleich weit weggegangen vom monumentalen Vorbild, und so wurde er nicht erschlagen, als das Denkmal stürzte. Tabori ging in Richtung Beckett und Kafka. Andere schlugen sich in anderer Richtung durch. Im Moment ist es Mode, Brecht für einen toten Hund zu halten. Aber einen wie George Tabori muß keiner darüber belehren, daß nur die toten Hunde so abfällig über Brecht reden.
Auch Taboris Farce Mein Kampf ist ein Judenstück. Sie beginnt wie ein schwarzhumoriger Witz. Tabori zeigt uns den Völkermörder Adolf Hitler als kränklichen jungen Mann, wie er – ein verkannter Künstler und Penner – in einem Wiener Nachtasyl haust. Tabori zeigt uns Hitler, wie der ausgerechnet mit einem Juden, dem Bauchladen-Buchhändler Schlomo Herzl, auf der Bettkante hustet, hermetische Wahnideen spuckt und die letzten Probleme der Menschheit hemmungslos unter sich wegmacht. Und diesen Schlomo Herzl läßt Tabori den mitteilenswerten Satz sagen: »Denn das ist schließlich der Sinn der Dichtung, ungeliebten Kindern Geschichten zu erzählen.« Wir sind diese ungeliebten Kinder, und alle Geschichten, die Tabori uns erzählt, sind ungehörig, verrückt und von einer oft unerträglichen Wahrhaftigkeit.
Allerhand ehrgeizige Dichter ohne Talent erkennt man unter anderem daran, daß sie immer und krampfhaft auf der Suche nach Tabus sind, die man noch brechen könnte, um dem Elitepack zu imponieren. Aber umgekehrt ist nicht jeder Dichter, der Tabus bricht, ein schwaches Talent. Und George Tabori ist ein gradezu notorischer Tabubrecher. Er vermeidet keine Peinlichkeit, wenn es nur in der eulenspiegeligen Logik seines peinlichen Stoffes liegt. »Die Kunst«, sagt Tabori, »darf natürlich nicht alles, und doch tut sie es. Künstler sind von Beruf Hexen. Ihr Auftrag war schon immer, das Verdrängte herauszukitzeln, das Verschwiegene anzusprechen, das Verlogene in Frage zu stellen.«
Dieser Gedanke ist uns geläufig. »Die Kunst an und für sich« sagt Goethe, »ist edel; deshalb fürchtet sich der Künstler nicht vor dem Gemeinen. Ja, indem er es aufnimmt, ist es schon geadelt.« Und der gemeine Stoff, aus dem George Tabori dermaßen beunruhigende Dichtung macht, ist sein eigenes kleines Menschenleben und ist das große Sterben seiner ermordeten Leute. So wuchert er mit den jüdischen Pfunden, die er hat. Er macht es nicht wie Großmeister Brecht, der die ganze Welt wuchtete. Brecht hantierte mit gewaltigen historischen Gewichten, schweren Hanteln, die uns heute, da wir die billige Klugheit der Nachgeborenen haben, freilich oft wie ideologische Attrappen aus Pappmache Vorkommen.
Gewiß ist auch George Tabori ein altmodisches Kind der Aufklärung, aber er will uns Menschenkinder – zum Glück! – nicht moralinsauer belehren über unser Glück. Und er will auch nicht doktrinär recht behalten wie der große Lehrer am Berliner Ensemble. Tabori erzählt Geschichten, die die ängstlichen Kinder lieber gar nicht hören wollen und von denen sie doch den Hals nicht vollkriegen. Erzähl uns mehr! Erzähl mehr vom Schlimmen, vom Blutigen, von all dem Bösen und Verrückten! Erzähl uns das Häßliche, denn Du erzählst so schön!
Und weil der Erzähler todmüde ist von einer unheilbaren Trauer, und weil auch er betrübt ist über die Grenzen der Aufklärung, scherzt und spielt er und erzählt seine Geschichten so, als wären sie lauter jüdische Witze. Leicht zu durchschauen: Tabori will nicht ins offene Messer laufen. Er will nicht, daß zum jüdischen Schaden der gojische Spott kommt. Ein uralter Trick: Die Komik bewahrt das Tragische vorm Triefen.
Tabori hat den Bogen raus mit seiner angelsächsischen Selbstironie und einem bösen Sarkasmus, der aber niemals die tödliche Grenze zum Zynismus überschreitet. Wir lachen prophylaktisch über uns selber, damit niemand und schon gar kein Menschenfeind sich lustig machen kann über unseren Schmerz. Ja unseren, denn auch ich gehörte immer zu den verzweifelten Clowns, die sich den Rippenkäfig aufreißen und zugleich ihr Herz panzern mit Gelächter. Die Haltung des jüdischen Witzeerzählers bewahrt nicht nur vor pathetischer Wehleidigkeit – sie bringt, wie Hölderlin formulierte, sogar Heiterkeit ins Leiden.
Eine freundschaftliche Nörgelei und behutsame Korrektur sei dem Lobredner gestattet: Der Büchnerpreisträger Tabori hat einen unsinnigen Horror vor der Melancholie. Da kann ich mitreden, lieber George. Solange ich noch eingesponnen war in das ideologische Spinnennetz eines krankhaften Geschichtsoptimismus, der uns ja die Verzweiflung nicht erlaubte und die Traurigkeiten nicht gönnte, da hätte ich diese miese Definition der Melancholie – sie stammt vom Preisträger - unterschrieben. George Tabori sagt: »Der prägnanteste Ausdruck für Melancholie sind deutsche Worte: Weltschmerz, Liebestod, Bierernst – die Welt als Schmerz, die Liebe Erfüllung im Tod und Leiden im Rausch. Pessimismus scheint ein deutsches Privileg zu sein...«
Tabori begreift die Melancholie als eine typisch deutsche Alles-oder-Nichts-Krankheit, als das Katastrophendenken des fatalen Entweder-Oder, als die »lutherische Verstopfung« des deutschen Zwangscharakters. Mein lieber, mein sehr verehrter junger Mann, laß es Dir von einem Freund sagen: Melancholie, wie der Wolf sie heult, ist eben nicht eine faule Resignation und ist schon gar nicht die typisch deutsche, die brutale Sentimentalität des aggressiven Selbstmitleids. Melancholisch heißt nämlich tief verzweifelt sein, aber immer auch und zugleich voll tatkräftiger, ja sogar militanter Hoffnung. Und solange ich mich nicht fallen lasse – weder in die eindimensionale Verzweiflung noch in den eindimensionalen Optimismus der Berufsidioten –, solange ich also den Widerspruch in meiner Menschenbrust einigermaßen aushalte, kann ich durchkommen. Melancholie ist in meinen Augen eine universale Tugend, die nichts besonders Jüdisches oder Deutsches hat. Das Wort von der schwarzen Galle bezeichnet eine Haltung, die alle Menschen anstreben, die verlangen, daß es ein Leben vor dem Tode gibt.
Lieber und bewunderter George Tabori, das wissen wir beide: Gemessen an Büchner hat keiner von uns den Büchnerpreis verdient. Aber gemessen an den Deutschen, die sich in all den Jahren hier in Darmstadt von der Akademie feiern ließen, gehörst du Englischer zu den Erfreulichsten. Ich weiß, Georg Büchner da oben auf seiner verstrahlten Wolke ist begeistert über den Preisträger des Jahres 1992. Und ich kenne keinen, den ich lieber loben würde.
Der so hoch Gelobte arbeitet am Burgtheater in Wien. Aus dieser Stadt des gehobenen Antisemitismus stammt ein Schmäh, eine delikate Definition des Wortes Literatur: Literatur, dös is wenn a Jud lobt, wos an andrer Jud geschrieben hat. – Lieber George Tabori, ich bin hier nur als Laudator akkreditiert. Es kommt mir nicht zu, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Vorschläge zu machen. Und schon gar nicht will ich so keck sein wie gelegentlich mein Großvater, der seine liebe Frau, wenn sie der Familie grad das Mittagessen auf den Tisch stellte, so frozzelte: Na Luise, was gibts denn morgen zu essen? Wäre ich keck wie meines Vaters Vater, dann würde ich diese Lobrede auf George Tabori folgendermaßen beenden: Was kommt denn nun morgen auf den Tisch in Darmstadt? Wer kriegt nach Tabori den begehrten Georg-Büchner-Preis?
Peinliche Frage, peinliche Antwort. Mein Kandidat für 1993 ist ein genialisches Scheusal, das manchem womöglich nicht schmecken wird. Ich meine einen Menschen, der mehr von Literatur versteht als die allermeisten Professores in diesem Saal. Und das kommt strafverschärfend hinzu: Er tut mehr für eine lebendige Literatur in Deutschland, als mancher linksgetünchte Literaturverweser wahrhaben will. Ein Kritiker, der – das gebe ich selbstkritisch zu – einige meiner Gedichte schätzt.
Außerdem hat er sich dadurch um die deutsche Literatur verdient gemacht, daß er die Menschheit nie mit einem eigenen Roman behelligte. Ein Literaturkritiker, der bei aller komplizierten Kompliziertheit klar Ja und Nein sagt. Es handelt sich um eine unfehlbare Koryphäe, die sich gelegentlich schwer irrte und dann den Mut hatte, sich zu korrigieren.
Es ist ein Mann, der in der deutschen Literaturlandschaft deshalb so viel zu sagen hat, weil er eben viel zu sagen hat. Sein erdrückend großer Einfluß kommt nicht von irgendwelchen Ämtern, sondern aus seiner großen Überlegenheit. Und sowas macht einsam.
Nicht einmal ich könnte es mir leisten, ihn öffentlich zu loben. Neid und Mißgunst der schreibenden Kanaillen würden mich mit dem Vorwurf verfolgen, ich schmisse mit der Wurst nach dem Schinken. Mein Kandidat für den Büchnerpreis ’93 ist ein Homme de Lettres, zu alt und zu stolz, zu ausgefuchst und zu scheu, als daß er für sich selber sprechen dürfte. Zudem ist er so deutsch, wie es nur ein polnischer Jude sein kann. Und obendrein ist der Mann ein furchteinflößendes Medienmonster, zu dem die Darmstädter Akademie, so kommt es mir vor, ein gereiztes – oder sagen wir: gestörtes Verhältnis hat.
Aber zurück zu George Tabori. Lieber George, ich habe heute, aus guten Gründen, ein wenig über das Jüdische in deinem Werk und in Deiner Lebenssituation geredet. Dabei bist Du nun grade nicht einer, der den Weltjuden penetrant raushängen läßt. Kein ungnädiger Deutscher könnte Dir vorwerfen, Du würdest mit Deinem Judentum kokettieren oder es als eine mahnende Fahne zur Wiedergutmachung schwenken oder als Bitte um mildernde Umstände bei der Beurteilung Deiner poetischen Produktion.
Aber Du bist nun mal eins der allerletzten Exemplare von jener Menschenart, die vor dem Holocaust das Bild der europäischen Kultur vorzüglich mitprägte. Diese Art jüdischer Intellektueller, die sich als Deutsche oder Österreicher, Ungarn oder Franzosen fühlten, die sich von der Religion ihrer Väter gelöst hatten, aber dennoch tief verwurzelt waren in der geistigen Tradition ihres Volkes – diese Art Menschen sind ausgestorben, sind ausgestorben worden. Und ich glaube nicht an eine Renaissance der jüdischen Kultur in Europa.
Der Rabbiner Leo Baeck, auch ein sehr deutscher Jude, entkam der Shoa im KZ Theresienstadt und formulierte seine Einsicht:
»Für uns Juden aus Deutschland ist eine Geschichtsepoche zu Ende gegangen. Eine solche geht zu Ende, wenn immer eine Hoffnung, ein Glaube, eine Zuversicht endgültig zu Grabe getragen werden muß. Unser Glaube war es, daß deutscher und jüdischer Geist auf deutschem Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen werden können. Dies war eine Illusion.«
Du kennst, lieber Georg, vielleicht nicht einmal den Namen Deines gräßlichen Kollegen Hanns Johst. Dieser vergessene Dramatiker und Präsident der Reichsschriftumskammer verzierte sein Theaterstück Schlageter 1933 mit einer Widmung für den Führer. Er feierte den Helden Deines Stücks Mein Kampf so: »Für Adolf Hitler in liebender Verehrung und immer dankbarer Treue.« Es wird Dich als Theatermenschen bewegen, daß der große Schauspieler George in diesem Stück mitspielte. Heinrich George galt den Nazis als Kommunist und wurde deshalb von Goebbels persönlich gedemütigt und begnadigt zugleich: Er mußte, er durfte in der pompösen Galapremiere des Johst-Schinkens auftreten, aber nur als Komparse. Und so hatte dieser geniale Schauspieler auf der Bühne nur ein einziges Wort zu sagen: »Deutschland«.
Ja, und in diesem Theaterstück kommt ein Satz vor, der oft zitiert wurde, Du wirst ihn kennen: »Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Browning.« Auf den Kacheln eines Londoner Pissoirs las ich eine geistreiche Antwort: »When I hear the word revolver, I reach for my culture«. So, geliebter und verehrter George, verstehe ich auch Deine Haltung. Wenn einer wie Du das Wort Revolver hört, dann greift er im Reflex nach seiner Kultur. Und ich verstehe: Nicht wir sollen die Kultur, sondern die Kultur soll uns verteidigen. Ein symphatischer Gedanke.
Stocknüchtern wie ich bin, sehe ich Dich in diesem feierlichen Moment doppelt: Als den Preisträger des Georg-Büchner-Preises, wie er hier als alter Bühnenarbeiter mit seinen 78 Jahren zwischen ehrwürdigen Damen und gesetzten Herrn unten im Parkett sitzt. Aber gleichzeitig seh ich Dich in London stehn, grad wie Du Deine Notdurft verrichtetst, die des Körpers und die der Seele. »When I hear the word revolver, I reach for my culture« – Kein Zweifel, so etwas schreibt nur ein junger frecher Kerl. Ja, Du warst es, George Tabori, der diese Replik da an die Kacheln gekrakelt hat.