Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Emine Sevgi Özdamar

Writer
Born 10/8/1946
Member since 2007

Ihre Theaterstücke, Erzählungen und Romane verleihen der deutschen Literatur durch die Intensität ihres Erzählens und ihre herausragende Sprachkraft eine neue poetische Weite.

Jury members
Ernst Osterkamp, Ursula Bredel, Michael Hagner, Monika Rinck, Lukas Bärfuss, Elisabeth Edl, Maja Haderlap, Ilma Rakusa, Marisa Siguan und Stefan Weidner sowie je ein Vertreter der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, des Landes Hessen und der Stadt Darmstadt

Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich wuchs in Istanbul, ohne von Georg Büchner zu wissen, auf. Meine Großmutter sagte mir jeden Abend: »Wir gehen uns die Schiffe anschauen, schauen, wie viele heute ankommen, wie viele abfahren.« Wir liefen eine steile Straße hinunter zum Hafen. Am Hafen standen die Menschen, die auf das Schiff warteten. Wenn das Schiff kam, fielen die Schatten der Menschen auf den weißen Körper des Schiffes. Das Schiff schrie, die Schatten liefen, die Menschen liefen, das Schiff nahm all diese Schatten und Menschen in sich auf und fuhr ab. Dann fielen die Schatten der Möwen, die hinter dem Schiff herflogen, ins Meer und flogen über dem Meer weiter. Auf dem Rückweg vom Hafen nahm meine Großmutter mich auf ihren Rücken. Heimlich roch ich an Großmutters Kopf, ihre Haare dufteten nach der Nässe des Meeres. Das Meer wohnte in Istanbul nicht nur zwischen Asien und Europa, sondern auch in den Körpern und Haaren der Menschen und auch in den Istanbuler Betten. In jedem Bett gab es den nassen Duft des Meeres.
Die Alten sagten, das Meer wohne selbst in ihren Beinen.
Meine Eltern gingen jeden Montag in ein Kino, das Teyyare Sinemasi hieß. Das bedeutet auf Deutsch Flugzeugkino. Dieses Kino zeigte nur europäische Filme. Meine Mutter erzählte mir von dem Besitzer des Flugzeugkinos, der sich selbst wie ein Filmstar kleidete und die Besucher am Eingang seines Kinos empfing. Er wusste, dass die Zuschauer in manchen europäischen Filmen, die er zeigte, weinen würden. Für solche traurigen Filme ließ er aus feinen Stoffen Taschentücher herstellen, die er persönlich vor dem Kino verteilte. Meine Mutter gab mir eines von diesen Tüchern, mit dem sie im Kino ihre Tränen getrocknet hatte. Ich legte das Taschentuch mit den Tränen meiner Mutter in meinen Schulatlas, genau zwischen die Seiten, wo Europa abgebildet war.
Meine Großmutter war eine abergläubische Frau. Sie hatte Angst, dass die Schatten auf der Leinwand die Gesichter meiner Eltern wegnehmen würden. Am nächsten Morgen fragte ich meine Eltern, was sie im Kino gesehen hatten und wie der Film hieß. Mein Vater antwortete: »Ich hab vergessen, wie der Film heißt, aber schau, der Schauspieler Jean Gabin raucht so« – und er machte Jean Gabin nach, wie er rauchte.
Die Zigarette steckte in seinem Mundwinkel, bis die Asche herunterfiel. So rauchte mein Vater ein paar Wochen lang wie Jean Gabin, bis er an einem anderen Montag im Flugzeugkino einen Film mit Rossano Brazzi sah und am Dienstag zu Brazzi überwechselte. So waren unsere ersten europäischen Gäste in unserem Istanbuler Holzhaus Jean Gabin und Rossano Brazzi.
Als Kind hatte ich Schwierigkeiten, die Namen unserer europäischen Gäste richtig auszusprechen, und fand für Jean ein türkisches Wort, Can, was auf Türkisch »die Seele« heißt, also »Seele Gabin«, und für Brazzi das türkische Wort biraz iyi, das bedeutet auf Deutsch »ein bisschen besser«. Bevor ich ins Kino ging und »Seele Gabin« und »Rossano Ein bisschen besser« selbst auf der Leinwand sah, hatte ich sie schon im Gesicht und am Körper meines Vaters kennengelernt. Auch meine Mutter brachte in ihrem Gesicht und mit ihrem Körper zwei europäische Gäste nach Hause: Silvana Mangano und Anna Magnani.
Für ihre Namen gab es auf Türkisch auch ähnliche Wörter: Silbana, das heißt: wisch mich ab, Mangano, und Ana, das heißt Mutter, Magnani.
Die ersten Gesichter, die zwischen den Ländern ausgetauscht wurden, waren Filmgesichter. Magnani, Gabin, Mangano, Brazzi waren in unserem Leben, aber Büchner noch nicht.
In meiner Familie standen die Toten in der Hierarchie ganz oben.
Jedes Mal wenn meine Mutter oder meine Großmutter Wasser tranken, sagten sie: »Das Wasser soll in den Mund unserer Toten fließen.« Mein Vater hob jeden Abend sein Raki-Glas auf die Männer, die wegen des Kummers dieser Welt am Raki-Trinken gestorben waren. In unserem Istanbuler Haus, etwas krumm und aus Holz, machten die Spinnen überall ihre Betten, wir töteten sie nicht. Mein Vater nahm oft eine Spinne in die Hand, ließ sie über seinen Arm laufen und sagte zu uns, sie sei unser verstorbener Bruder. In Gestalt dieser Spinne erfuhr ich, dass mein erster Bruder im Alter von zwei Jahren gestorben war. Ich hatte noch einen Bruder, der war nur wenig älter als ich. Hätte mein erster Bruder, der als Spinne in unserem Haus lebte, gelebt, wäre er fünf oder sechs Jahre älter als ich. Wenn ich zwölf Jahre wäre, wäre er achtzehn und hätte mir meinen Weg beleuchtet. Hätte gesagt, lies das Buch, das kannst du schon verstehen. Weißt du, dass die Tiere weinen können? Weißt du, dass die Inquisition Galileo töten wollte, weil er gesagt hat, die Erde dreht sich um die Sonne?
Als ich diese Spinne, die mein verstorbener Bruder sein sollte, mir anschaute, wusste ich nicht, dass Georg Büchner mir einmal dieser Bruder, nach dem ich große Sehnsucht hatte, sein würde.
Aber es war noch nicht so weit.
Großmutter, wo ist der Tod?
Der Tod ist zwischen den Augen und Augenbrauen. Ist das weit weg?
Meine Großmutter ging in meiner Kindheit immer wieder mit mir auf den Friedhöfen spazieren, sie hatte sieben Kinder verloren, nur mein Vater überlebte. Großmutter blieb vor jedem Grabstein stehen und betete für die fremden Toten, sie konnte weder lesen noch schreiben, ich las ihr die Namen der Toten vor. Großmutter sagte, ich solle die Toten nicht vergessen, sonst werden ihre Seelen Schmerzen bekommen. In der Nacht betete ich und zählte die Namen der Toten auf und schenkte ihren Seelen die Gebete. Ich schaute jeden Tag in die Zeitung und sammelte die Namen der Toten, der Armen, Verrückten, Einsamen. Meine Totenliste wurde länger und länger. Erst hatte ich nur türkische Tote, dann kamen andere dazu. Mein Bruder und ich lasen der Großmutter und ihren Freundinnen Romane vor, z. B. Madame Bovary, um die die alten Frauen weinten, so kam Madame Bovary auf meine Liste der Toten, wenig später auch Robinson Crusoe. Während ich Robinson Crusoe vorlas, fragte meine Großmutter immer: »Wie haben seine Eltern das ausgehalten? Was hat seine Frau gemacht? Was haben seine Kinder gegessen?« Großmutter musste immer an die Familie von Robinson Crusoe denken. Weil sie besorgt war, las ich ihr als Antwort Lügen vor, was seine Kinder aßen, Reis mit Lamm und Mais und Kastanien.
Hätte ich damals von Georg Büchner gewusst und gewusst, dass er so jung gestorben ist, hätte ich Großmutter auch von ihm erzählt:
Großmutter, es war einmal ein Junge. Er war sehr klug. Er hatte die Gabe, in die Seele der Menschen hineinzuschauen. Er hatte die Gabe, mit den Tieren zu sprechen. Er war so klug, dass seine Klugheit nicht in seinen Kopf passte, deswegen vergrößerte sich sein Kopf, um diesem besonderen Gehirn mehr Platz zu machen. Er kämmte im Mondschein seine wunderschönen welligen Haare nach hinten und dachte über das Leben nach. In diesem Land lebten sehr arme Menschen, weil die bösen Riesen ihnen alles wegnahmen. Der kluge Junge wollte die armen Menschen vor den bösen Riesen retten. Die Riesen hörten es und wollten ihn sich schnappen und seinen klugen Kopf öffnen und seine Klugheit aus dem Kopf rausholen. Der kluge Junge rannte zu seiner Mutter, sagte: »Mutter, es ist Zeit, lass mich gehen.«
Seine Mutter liebte ihn. Sie gab ihm einen Spiegel und einen Kamm und sagte: »Wenn die Riesen in deine Nähe kommen, schmeiß diesen Spiegel nach hinten, da wird zwischen den Riesen und dir ein großer See entstehen. Sie bleiben auf der anderen Seite des Ufers. Wenn die Riesen dennoch den See überqueren, dann wirf diesen Kamm hinter dich, dann wird hinter dir ein Wald wachsen mit sehr dichten Bäumen, sie werden dich nicht mehr finden.«
Der kluge Junge machte all das, was seine Mutter gesagt hatte, rettete sich vor den bösen Riesen und kam in ein sehr schönes fremdes Land mit Bergen und Flüssen.
Auch dort, in diesem fremden Land, liebte er die Menschen und Tiere, er kümmerte sich um sie, sein Kopf wurde noch größer vom vielen Denken, von seinen Phantasien, von klugen Ideen und von der Neugier auf die Menschen und Tiere. Eines Tages bekam der kluge Junge plötzlich hohes Fieber und starb, Großmutter, sein Name war Georg.
Hätte ich das damals Großmutter erzählt, wäre sie vielleicht von ihrem Platz aufgestanden, hätte ihre Arme hochgehoben und geschrien: Aboo, aboo, o weh, o weh, wie diese jungen Menschen gestorben sind, getrieben von den Bösen, ohne Mutter, ohne Vater, in der Fremde. Nur ein verdunkelter Schatten bewacht seinen zu Trümmern geschlagenen Jünglingskörper.
Meine Großmutter kam aus Kappadokien, wo Anfang des 20. Jahrhunderts noch viele türkische Armenier lebten. In meiner Kindheit in Istanbul stand sie plötzlich von ihrem Platz auf, hob ihre Arme, streckte ihre Finger in die Luft und fing an zu schreien: »Aboo, aboo, wie die armenischen jungen Frauen sich von den Brücken hinuntergestürzt haben. Gesehen haben sie mit ihren jungen Augen, die blind sein wollten, die Hölle und das Feuer auf dieser Erde, die Schürze noch über ihren Kleidern, barfuß, die Augen groß, die Hände groß, die Füße groß vom Todesmarsch, ihre Kinder als Skelette vor ihren Füßen, das Feuer, in dem sie lange liefen, liefen und liefen, war sieben Mal heißer als das Höllenfeuer. Aber wohin gingen sie, die Schürze noch über ihren Kleidern? Aber wohin sollten sie gehen? Zu welcher Hoffnung? Getrieben von den Bösen, die auf den Pferden saßen.«
Den Namen Georg Büchner hörte ich zum ersten Mal in Berlin 1966.
Berlin hatte damals noch viele Lücken: Hier stand ein Haus, dann kam ein Loch, in dem nur die Nacht wohnte. Man konnte noch die Einschusslöcher an den Häusern mit den Händen tasten. In den kalten Nächten schob der Wind die einsamen Zeitungsblätter vor sich her zu diesen Löchern, und plötzlich flogen in diesen Ruinen die hellen Zeitungsblätter in die Luft, stießen zusammen, machten Geräusche, als ob sie die Geister dieser Stadt wären. In so einer kalten Nacht besuchte ich mit einem deutschen Freund, Bodo, dessen Großvater. Bodo sagte: »Mein Großvater ist ein alter Sozialdemokrat und halb blind.« Der Großvater hatte ein Zimmer und saß im Halbdunkeln auf seinem Bett. Bodo sagte zu ihm: »Großvater, hier ist eine türkische Sultanin.« Der Großvater zwirbelte an seinem Schnurrbart und sagte: »Ich bin ein armer Schuster, meine Lampe brennt so duster.« Bodo lachte und sagte: »Das ist nicht von ihm, aber ein großer deutscher Dichter, Georg Büchner, soll es als Sechsjähriger als Gedicht aufgesagt haben.« Irgendwann fragte mich Bodos Großvater: »Bist du wirklich eine türkische Sultanin?« – »Nein, nein, ich bin für Gleichheit.« Bodos Großvater sagte: »Ich hab damals meine Butterbrote in die Arbeiterzeitung gewickelt und in der Pause unter meinen Broten heimlich gelesen. Alle mussten damals den Hitlergruß machen, ich machte ihn mit der rechten Hand, aber die linke hielt ich in der Hosentasche und machte eine Faust.«
Ich kehrte 1968 mit der deutschen Sprache von Berlin nach Istanbul zurück und ging in die Schauspielschule. Unsere Lehrer waren sehr gute Künstler und große Idealisten. Einer unserer Lehrer gab uns jedes Wochenende Fragen mit nach Hause, die wir beantworten mussten, wie zum Beispiel: Was habe ich diese Woche getan, um mein Bewusstsein zu erweitern? Welche Bücher habe ich gelesen, um die Grenzen der Intelligenz zu erweitern?
Er fragte uns im Unterricht plötzlich: »Wer von euch kennt Sartre? Keiner? Schämt euch! Wer von euch kennt Büchner? Keiner? Schämt euch! Georg Büchner hat in eurem Alter geniale Theaterstücke geschrieben, er war ein großer Wissenschaftler und ein Revolutionär, der ins Exil gehen musste wie unser Nazım Hikmet. Das sind die großen Figuren, die über ihre Grenzen gegangen sind. Ihr müsst über eure Grenzen gehen.«
Unser Lehrer empfahl uns, die Stücke von Georg Büchner zu lesen.
Ich las Woyzeck. In dem Buch gab es ein Bild von Büchner. Auf der Zeichnung von August Hoffmann sieht er aus wie ein Schneidermeister, der seine Arbeit gerade unterbrochen hat und über etwas anderes nachdenkt. Die Nadel noch in seiner Hand.
Ich schämte mich vor Georg Büchner, weil er mit zwanzig Jahren ein Revolutionär und Wissenschaftler war und so geniale Stücke geschrieben hat und mit dreiundzwanzig so jung im Exil gestorben war und wir in seinem Alter so viel Zeit verloren, zu wenig lasen, uns zu wenig Gedanken machten über die Welt. Ich wollte nicht mehr schlafen, weil man beim Schlafen Zeit verlor. Jede Nacht las ich bis 4 Uhr oder 5 Uhr morgens Bücher und versuchte, kleine Theaterszenen zu schreiben.
Wenn ich mich, bevor die Schauspielschule anfing, ein paar Stunden zum Schlafen hinlegte, schaute ich mir das Bild von Büchner an, er schaute mir in die Augen, dann machte ich das Licht aus. Meine große Sehnsucht, mein Bewusstsein zu erweitern, zu lesen, zu lernen, hatte mit Büchner zu tun. Ich hatte meinen toten Bruder, der als Spinne in unserem Kindheitshaus lebte, jetzt gefunden. Georg Büchner war mein Bruder, der mir auf meinem Weg leuchtete.
In den sechziger Jahren, als Büchner wieder ins Bewusstsein trat, standen auf den steilen Istanbuler Straßen viele Bücherverkäufer. Sie legten ihre Bücher auf die Erde, und der Wind blätterte in ihnen, Bücher von der Französischen Revolution oder über Résistance-Kämpfer, Bücher von Nazım Hikmet, Bücher über den Spanischen Bürgerkrieg.
Alle getöteten, erwürgten, geköpften, gequälten Menschen, die nicht in ihren Betten gestorben waren, standen in diesen Jahren auf. Die Armut lief auf die Straße, und die Menschen, die in ihrem Leben etwas dagegen hatten tun wollen und deswegen getötet worden waren, lagen jetzt als Bücher auf den Straßen. Man musste sich nur zu ihnen bücken, sie kaufen, und so kamen viele Getötete in die Wohnungen, sammelten sich in den Regalen neben den Kopfkissen und wohnten in den Häusern. Die Menschen, die mit diesen Büchern die Augen zu- und aufmachten, gingen am Morgen als Lorca, Sacco und Vanzetti, Danton, Woyzeck, Nazım Hikmet, Rosa Luxemburg wieder auf die Straßen.
Es war kein Zufall, dass Georg Büchner nicht früher in mein Leben gekommen war, sondern erst jetzt, als die ganze Welt solidarisch war und in allen Städten der Welt die Menschen gegen den Vietnamkrieg, gegen Rassismus, für die Menschenrechte zusammenliefen und sich gemeinsam wehrten. Büchners Auftritt war in Istanbul in dieser großen Zeit, er brauchte eine Zeitbewegung. Eine Zeit, in der Büchners Intelligenz einen großen Platz hatte und wo das Bewusstsein seiner Sprache, sein genauer Blick bitter nötig war.
Jeder hat im Himmel einen persönlichen Himmel, in dem nicht nur die Sterne, sondern auch die Menschen, die uns sehr berührt haben, ständig leuchten, einer davon ist mein Bruder Georg Büchner.
Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für den Georg-Büchner-Preis.