Georg-Büchner-Preis

The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.

Durs Grünbein

Writer and Translator
Born 9/10/1962
Member since 1995

Mit behutsamer Genauigkeit hebt er das Wort aus den Schatten überladener Bedeutung in die Helle des Gedichts, das sich so unserer Wirklichkeit öffnet.

Jury members
Juryvorsitz: Herbert Heckmann
Peter Benz (Stadt Darmstadt), Herman Dieter Betz (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst), Elisabeth Borchers, Günter de Bruyn, Iso Camartin, Eckhard Heftrich, Norbert Miller, Ivan Nagel, Hans Wollschläger

Laudatory Address by Heiner Müller
Dramatist and Stage Director, born 1929

Portrait des Künstlers als junger Grenzhund

Die Texte von Durs Grünbein liegen nicht, nach Goethes Definition von Kunstwerk, wie Kühe auf der Weide. Eher gleichen sie den Tieren, vielleicht sind es Maschinen, die Kafka gegen die Schöpfung gestellt hat. Odradek zum Beispiel:

»Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen: allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht nur eine Spule, sondern aus der Mitte des Sternes kommt ein kleines Querstäbchen hervor und an dieses Stäbchen fügt sich dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren Stäbchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei Beinen aufrecht stehen. Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher irgendeine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein...«

Sie funktionieren nach Gesetzen, die für Individuen nicht mehr, sondern nur noch für Kollektive gelten, oder für Maschinen, die das Kollektiv ablösen, das ihre Voraussetzung war. In Grünbeins Gedicht ist eine Generationserfahrung Form geworden, die sich bislang eher als Verweigerung von Form artikuliert hat. Es ist die Generation der Untoten des kalten Kriegs, die Geschichte nicht mehr als Sinngebung des Sinnlosen durch Ideologie, sondern nur noch als sinnlos begreifen kann. (Disko und sinnlos sind, in sächsischer Aussprache, die zwei Hauptworte in Erich Loests Romanreportage Es geht seinen Gang über die Befindlichkeit der Jugend im Leipzig der DDR-Endzeit.) Eine Form, die das landläufig Poetische ausschließt. Grünbeins Portrait des Künstlers als junger Grenzhund denunziert Goethes Parzenlied. Eine Erfahrung, die im Blitzlicht von Kafkas Prozeß ebenso zu Hause ist wie im Schatten Edgar Allan Poes. Poes Erzählung Schatten schließt mit der Beschreibung der Stimme des Protagonisten:

»... denn die Töne der Stimme des Schattens waren nicht die Töne der Stimme eines einzelnen Wesens; sondern von einer Vielheit von Wesen: und ihre Kadenzen, verschieden von Silbe zu Silbe, schallten uns unklar im Ohr, gleich den gewohnten und wohlvertrauten Akzenten von so vielen Tausenden abgeschiedener Freunde.«

Das Motto der Erzählung ist ein Psalm Davids: »Ob ich schon wandere im Tal der Schatten«, und der erste Satz lautet: »Ihr, die ihr lest, weilt noch unter den Lebenden...«. Insofern hat Durs Grünbein recht, wenn er im Spiegel-Verhör auch noch den Schatten einer Prägung durch das glücklose Experiment DDR bestreitet. In den Höhlen der Vampire ist Leugnen ohnehin ein Menschenrecht, schon der Heilige Petrus hat davon Gebrauch gemacht, und Grünbeins Erfahrung ist an Geographie nicht festzumachen. Die Bilder wechseln und die Fremdheit bleibt. Diese Generation hat kein Vaterland und keine Muttersprache. Für sie gilt der Brechtsatz: Die Situationen sind die Mütter der Menschen. Sie schreibt eine Literatur, die sich selbst übersetzt, ihre Muse der Computer, die Aura der Preis der Erfahrung. Vergleiche mit Vorläufern in scheinbar ähnlicher Schreiblage führen ins Gestrüpp, wo die Mörder ihre Opfer ablegen, oder auf den Friedhof, wo in Reih und Glied die Toten ruhn. Die Grüße von Lord Chandos registriert kein Faxgerät, Briefe werden nicht mehr geschrieben, und es ist keine Koketterie, wenn Grünbein behauptet, daß Juvenal ihm näher steht, der Autor einer ändern Endzeit mit dem kalten Blick auf einen barbarischen Neubeginn, auf die teuren Toten und die billigen Tode. Nach dem Verschwinden der Mütter das Trauma der zweiten Geburt. Der Ichverlust im Spiegel, genauer der Zerfall des Ich in Spiegelscherben, die es als Mauerkrone verwenden kann oder zur Öffnung von Adern. Die Verszeile »Und was ich sah war mehr als ich ertrug« formuliert das Trauma. Die Zeile ist kursiv gesetzt, vielleicht ein Zitat, den Rang eines Autors bestimmt auch die Qualität der Zitate, die sein Text integrieren kann. Der Blick ist lidlos. Es ist nicht nur ein Glück, niemandes Schlaf zu sein, unter wieviel Lidern immer. »Die Steine dürfen sich ändern, aber du darfst dich nicht ändern« lautet das Codewort, das die Pforten der Hölle aufschließt.
Russische Geologen haben bei Bohrungen in Sibirien in 8000 Metern Tiefe das Geschrei der Verdammten gehört. Der Teufel sprach Russisch, nicht, wie Bulgakow noch geglaubt hat, Italienisch mit russischem Akzent, aber wir sind nicht aus dem Auge des Todes, wenn wir die osteuropäische Erfahrung zu den Akten legen, und der Teufel ist sprachbegabt.
Was ist das Ungemütliche an den Texten von Durs Grünbein, das seine Lobredner blendet und seine Kritiker verstört? Seine Bilder sind Röntgenbilder, seine Gedichte Schatten von Gedichten, aufs Papier geworfen wie vom Atomblitz. Das Geheimnis seiner Produktivität ist die Unersättlichkeit seiner Neugier auf die Katastrophen, die das Jahrhundert im Angebot hat, unter den Sternen wie unter dem Mikroskop. Eine Frau sagte mir, nach der Lektüre
eines Gedichts von Durs Grünbein: Das muß ich in fünfzig Jahren noch einmal lesen. Ich wollte, ich könnte das. Daß schon wieder der Zufall einer Hochbegabung den Traum der Avantgarden vom Verschwinden der Künstler in ihre Produkte stört, der Maler, der in sein Bild geht, der Schreiber im Delirium der Schrift, sollte uns nicht in Trauer stürzen.
Ich gratuliere der Darmstädter Akademie zu ihrer Wahl des Büchnerpreisträgers 1995 und wünsche Durs Grünbein ein Jahr ohne Kritiker, Lobredner und Leser.