The Georg Büchner Prize was first established during the Weimar Republic by the State of Hesse. Its purpose was to recognise writers, artists, actors and singers. It was first awarded in 1923 in the state capital, Darmstadt.
Since 1951 the new Büchner Prize has been awarded annually by the German Academy for Language and Literature. According to the charter of the Academy, it is given to authors »writing in the German language whose work is considered especially meritorious and who have made a significant contribution to contemporary German culture.«
The prize is awarded at a ceremony held during the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize currently comes with an award of €50,000.
Oswald Egger
Oswald Egger is awarded the »Georg-Büchner-Preis« 2024. The prize giving ceremony will take place in Darmstadt on November, 2.
Writer
Born 29/12/1940
Deceased 22/7/2019
Member since 1988
... Meisterin des Vexierspiels, der höheren Heiterkeit und des musikalischen Schreibens...
Jury members
Juryvorsitz: Klaus Reichert
Friedrich Christian Delius, Heinrich Detering, Peter Hamm, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, außerdem Peter Benz (Stadt Darmstadt), Konrad Schacht (Hessisches Ministerium für Wissenschaft und Kunst)
Dankrede
Warum bloß, frage ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, und nicht weniger mich, hat Georg Büchner die hier gleich folgenden Worte von jemandem sprechen lassen, aus dessen Mund sie dermaßen unnatürlich, ja unglaubwürdig klingen: »... so ein schöner, fester, grauer Himmel, man könnte Lust bekommen, einen Kloben hineinzuschlagen und sich dran zu hängen, nur wegen des Gedankenstrichels zwischen Ja und Nein und wieder Ja – und Nein. Ja und Nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld?«
Nicht der eloquent müde Revolutionär Danton sagt die verblüffenden Sätze, nicht der graziös ennuyierte Prinz Leonce, nicht der in den Wahnsinn kippende Schriftsteller Lenz. Ihnen allen wäre solch spitzfindig formulierter Tief- oder Unsinn ohne weiteres zuzutrauen. Aber Woyzeck? Ihm doch wohl eigentlich nicht, nicht Woyzeck, dem vierten Protagonisten von Büchners in fundamentaler Unterschiedlichkeit und notgedrungener Eile errichteten Universen. Trotzdem, er, das arme Stück Mensch, wahlweise tauglich für erniedrigend idiotische Experimente oder, in tödlicher Variante, als Kanonenfutter, er hat’s geäußert.
Jedoch: Darf er das?
Nicht seine Überlegung an sich ist das mögliche Ärgernis, nur der Umstand, daß er, Woyzeck, sie anstellt. Obwohl er uns allerdings vorwarnte mit der ebenfalls für einen wie ihn befremdlichen Bemerkung, manchmal habe man »so ‘nen Charakter, so ‘ne Struktur«. Ein hier von mir unterschlagenes, von Büchner zwischengeschobenes »Herr Hauptmann« und ein paar, je nach Ausgabe, volksnah stimmend und in dialektnaher Manier weggelassene n’s am Ende, ein »schlage« und »hänge« tun dabei kaum was zur Sache. Was Woyzeck da in großer Not entschlüpft, ist richtiggehend intellektuell, klingt keineswegs nach urtümlich schlichtem Gemüt, hört sich unpassend akrobatisch, ja, um Himmels willen, heraus mit dem bösen Wort, artifiziell an!
Liegt aber der literaturhistorische Ruhm Büchners nicht zu einem großen Teil darin begründet, daß er, ungeschönt und Mitgefühl weckend, einen jener Rechtlosen zum ersten Mal auf die Bühne brachte als das, was er war und ist: ein von der relevanten Gesellschaft allenfalls als Dreiviertelmensch angesehenes und benutztes Wesen, ohne Bildung und daher fast unzivilisiert, das sein vermutlich ungeschlachtes Innenleben lieber, wenn’s schon sein muß, leihweise in sogenannten Volksliedern oder Bibelversen artikulieren und eventuell goutierbar machen sollte?
Gilt Büchner nicht jedem Schulkind als Revolutionär auch deshalb, weil er, im Gegensatz zum ungeliebten Schiller, die Wirklichkeit nicht idealisiert, sondern endlich in ihrer realen Erscheinung darstellte?
Und dann ausgerechnet bei unserem Woyzeck, dem uns inzwischen so teuren Prachtexemplar des Geringen, des leidend Anspruchslosen derart komplizierte Gedanken und Gedankenstrichel!
Die Welt Büchners freilich ist, bei aller Differenz der vier Milieus, stets eine komplizierte. Die Annahme ihres grundsätzlichen Schon-Okayseins, jener robuste, uns neuerdings öfters zur Nachahmung empfohlene optimistische Glaube, sie bei Pannen und Ungereimtheiten wieder sauber zurechtklempnern zu können, taucht in Büchners Dramen und Prosa nicht mal am Horizont auf, was sie, die Welt, bis ins Mark unparadiesisch, dafür aber als zweifellos metaphysische erscheinen läßt.
Anders als im Hessischen Landboten weiß Büchner, wenn er nicht agitiert, also in der Literatur, daß die Welt nicht nur aus Hütten besteht, in denen verborgene Helden wohnen, und aus Palästen, in denen der Satan haust. Der bewundernswert entschlossene Sozialrevolutionär entwickelt parallel als Dichter eine Wirklichkeit, die so relativiert, unideologisch, extrem, flackernd, ambivalent ist, daß man ihn eher für einen an den Beleuchtungswundern der Sprache entzündeten genialen Ästheten halten könnte, als für einen im Gebrauchssinn politischen Kopf.
Geschätzt wird ein Beharren auf der winkel- und schluchtenreichen Natur der Welt dagegen nicht und wurde es vielleicht nie. Die Liebe zur Simplizität ist wahrscheinlich in uns eine gewaltige, eine, je chaotischer die Zustände, desto besessenere. Schwungvoll weg also mit den Einsprüchen der alten Aufklärung, weg mit den Heimatlosigkeiten der Dialektik? Notfalls legt man sich eine fixe Idee zu, und sei es eine wissenschaftliche, die allzu verwirrende Sachlagen vereinfachend auf die eigenen psychischen Fähigkeiten zurechtstutzt. Manien spielen nicht von ungefähr eine durchgehende Rolle in Büchners Werk.
Einer der Ticks, mit denen sich der ermattete Danton auf heikle Weise die restliche Lebenszeit vertreibt, besteht beispielsweise darin, alles vertausendfacht, alles in entindividualisierender Mechanik zu sehen. In einer Epoche der Statistiken und Umfragen hätte er noch zwingender Grund dazu als im Schatten der Guillotine.
Auch Woyzeck ist ungeheuer multiplizierbar. Er ist aus dem Schlamm des Volkes, nüchterner gesagt: der Bevölkerung und nach dem Maß heutiger Verhältnisse zunächst unspektakulärer Prototyp jener Millionen, die nicht in Armut existieren, aber in einer nicht aus der Luft gegriffenen Angst davor, der unentrinnbar klassifizierte »kleine Mann« des Bürgertums, zur Zeit immerhin notdürftig gebildet und in bescheidenem Wohlstand, der nicht nur zum Spaß halluzinierte »Mann von der Straße«, ein in den Begriff einbetonierter ominöser »Otto Normalverbraucher« und wie die Schmähungen des angeblichen unteren Mittelmaßbürgers alle heißen.
Eine Marktstudie hat in Erfahrung gebracht, was eine Hamburger Werbeagentur dann in die trostlose Tat umsetzte: eine Wohnung mit haargenau der Einrichtung – Glastisch mit Tuner, Teddybär auf orangenem Sofa: nichts Schlimmes jedes für sich, wenn man es nicht, wie hier, als Klischee-Ensemble vorführt – und korrekt den Mietern, die das Mittel der Umfragen ergab. Alles in schändlichster Erwart- und Wiederholbarkeit. Name der fiktiven Insassen, auch die idealtypisch: Thomas und Sabine Müller. Man weiß schneller als sie selbst, welche Meinungen zu Zukunft und Politik sie und mit ihnen die Durchschnittsmillionen als ihre höchst persönlichen von sich geben.
Ich vermute, Thomas Müller wünscht sich, im bitteren Zwang der Studie, seine Frau »natürlich« und »treu«. Sind seine Kinder in der Pubertät, werden sie von ihrem Vater in einer so großartig vergrübelten Sprache wie dem Deutschen den Satz hören: »Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht« – auch manchen Schriftstellern ist der Vorwurf nicht unbekannt – , für den sein Nachwuchs ihn dann kurzfristig ermorden könnte, sich aber seinerseits, um seiner quälenden Individualität zu entkommen, so gut er es schafft, hier folgsam bis zu Devotheit und Militanz, in die Maske von Jargon und Ausstattung seiner Altersklasse flüchtet und damit zu falschen Rückschlüssen über sein tatsächliches Innenleben provoziert.
Ein Stück auf der Bühne mit solchen Helden müßte noch grauenhafter sein als die besagte Wohnung, wäre bei den derart skizzierten Müllers selbst aber durchaus nicht unwillkommen. Sie sehen es ja in den deutschen Soaps, die hier durchaus nicht weiter attackiert werden sollen, freiwillig an, gehen mit sich selbst so um, wie mit ihnen umgesprungen wird, kanzeln ihre Einzigartigkeit ab, streiten sie ab in den aktuellen Schutzformeln und kommen nicht auf den Gedanken, gegen das präsentierte Spiegelbild als Ehrabschneidung zu protestieren.
Woyzeck dagegen konstatiert zu seiner Verzweiflung, jedoch ab sofort zu unserem Trost: »Jeder Mensch ist ein Abgrund«.
Wir atmen auf! Ist das nicht plötzlich in unseren Ohren Engelsmusik? Die auf ihr erbarmungslos ermitteltes Sofa Verdammten, wären – und zwar nicht nur dann, wenn sie Kinderschänder oder Amokläufer werden – mit dem vollen Pathos des Potentiellen: nach unten und oben, wie das Weltall, abgründige Wesen? Auch Hinz und Kunz, oder, wie der Dichter Ror Wolf sagen würde, Noll, Lemm, Sapp und Klomm, sind: vielfältig? Sind jeder für sich: unergründlich, gerade so wie Sie und ich?
Unser Trost ist bilateral, es ist ein menschlicher und ein ästhetischer. Denn erstens verkündet uns also Woyzeck, daß nicht nur die Welt eine komplizierte, ja verworrene ist, eine nicht auf das Idyll holzschnittartiger Gegensätze zu reduzierende. Er ruft zusätzlich die bodenlose Rätselhaftigkeit, unantastbar wie die Menschenwürde, eines jeden ihrer Bewohner aus.
Das ist die Revolution, eine Binsenweisheit, aber eine dauerhaft revolutionäre:
Nicht die Erkenntnis, daß, recht unverbindlich, alle Menschen Menschen und irgendwie auch Brüder sind. Vielmehr, daß kein Mensch, ob Überflieger oder nicht, flach ist, simpel ist! Keiner, was er an Floskeln auch daherredet, gedankenlos, hilflos, Einverständnis heischend, ist, egal was Augenschein und Verabredung behaupten mögen, nur mit dieser einen, von ihm verbalisierten Dimension ausgestattet.
Der zweite Trost, der nicht weniger wichtige ästhetische, besteht in der naturalistischen Unzulässigkeit des Niveaus dieser und der zwei schon genannten Aussagen Woyzecks. Er räumt nicht nur auf mit der Illusion von der Einfachheit des schlichten Menschen. Büchner legt durch Woyzeck hindurch mit einem deutlichen Überziehen von dessen wahrscheinlichen Äußerungsmöglichkeiten das Überspannte, Maßlose, Pretentiöse, Schreckliche und Schräge von dessen seelischer Konstitution frei. Kurz: Der Dichter muß seinem Helden dieser Offenbarung wegen sprachlich, nicht aber substantiell unter die Arme greifen.
Nein, dieser Woyzeck chargiert weder als Naturkind noch als Nachplapperer der aufgeschnappten Bildungsbrocken eines Herrn. Büchner schenkt ihm die wunderbare, keineswegs selbstverständliche Begabung und Gelegenheit, in sporadischen Signalen alarmierend auf das hinzuweisen, was er fühlend denkt. Das bedeutet durchaus nicht, daß sich ein Woyzeck aus Fleisch und Blut auf der Bühne sogleich wiedererkennen würde. Vermutlich pfiffe er drauf! Was tragikomisch, aber logisch ist.
Büchners Protagonist wird nicht zurückgescheucht in die Sprachhülsen, in die reale Sprachlosigkeit seiner Klasse. Geschähe ihm das, würde es seinen Vorgesetzten und einem arrogant geschwätzigen Publikum bequem gemacht, ihn selbst in Seele, Herz, Kern mit der Primitivität von Wortschablonen seiner Umgebung zu verwechseln. Büchner, wohlwissend, daß Literatur mit ihren Charakteren und Geschichten immer etwas Künstliches, Inszeniertes, vom Leben Inspiriertes und ihm Verpflichtetes, aber nie von ihm Abgeschriebenes ist, baut uns allerdings eine Brücke, nämlich das Psychopathische Woyzecks, das seine Extravaganzen rechtfertigen könnte. Ganz so wie bei den natur- und weltumgrabenden Visionen des in den Irrsinn rutschenden Lenz. Gewiß, wir dürfen uns, als Schutz vor Weiterungen, an diese medizinische Begründungsplanke klammern, wenn wir ängstlich darauf bestehen.
Sich selbst eröffnet der Autor durch die diagnostizierbaren Geistesverrückungen seiner Helden die Chance, nicht nur Danton und Leonce, sondern auch Woyzeck und erst recht Lenz, in dessen Person er unter dem Alibi des Wahnsinns die Facetten seiner eigenen Arbeiten noch einmal komprimiert, bis zum äußerst Denkbaren mit seinen, den Büchnerschen Sprach-Energien, anzufüllen. Durch das bis zur Verrücktheit Artistische, Artifizielle entsteht keine willkürliche Verrätselung und Verrammelung der Welt. Sie wird, im Gegenteil, unter dem groben Umriß der Schablonen, nur, samt einem jeden ihrer Bewohner, als nicht durchschaubare bloßgelegt.
Nichts jedoch gegen Einfachheit, solange sie sich nicht als das regierende Grundmuster der Weltordnung versteht. Anders nämlich ist es, wenn man Einfachheit lediglich als spartanische Variante, als eine von zahlreichen Spielarten der sehr vielfältigen Wirklichkeit begreift. Oder ihr, in ganz seltenen Glücksmomenten, in den unbeabsichtigten Enthüllungen einer unter Schutt und Schmier des Konventionellen plötzlich überraschend dünnhäutigen Person jenseits der Paßwörter ihres jeweiligen Milieus begegnet. Etwas, wonach Schriftsteller ständig auf der Jagd sind, oft vergeblich, selbst wenn sie geduldige Zuhörer sein sollten. Dieses nackt und unauslotbar und originär Wirkliche verrät sich am ehesten in Kombinationen, in einer winzigen Geste, einem Blick, einem Lächeln vielleicht in Verbindung mit einem eigentlich ja nichtssagenden, literarisch zunächst unergiebigen »Ach« oder gar nur atemlos geseufzten »Ach so!«.
Einer der Großen der amerikanischen Moderne, der Dichter und Arzt William Carlos Williams, hat von solchen Sekunden in seiner Praxis, die von armen Einwanderern frequentiert wurde, bewegend erzählt, und das in frappierender Metaphernähnlichkeit zum Büchnerschen Lenz. Der eine redet von Entbindungen, der andere von zu durchbrechenden Hüllen. Beide meinen jene herzzerreißenden Erkenntnisraritäten, die Ansporn sind für literarische Umwandlungen, wo sie sich dann ein bißchen anders anhören und, um den heftigen Eindruck der Realität in Buchstaben zu evozieren, auch müssen.
Für mich sind diese vollständig irdischen, nicht selten skurrilen Momente einer strahlend und fast geräuschlos aufreißenden Transzendenz dasjenige, was mich bei einem Menschen und in einem Roman unwiderstehlicher ergreift und sich mir schärfer eingraviert als das ganze notwendige Drumrum.
Hat das alles aber einen Kontakt und Kreuzungspunkt mit jenem allzu berühmten, zitierenden Büchnerzitat, an dem man, glaube ich, redlicherweise nicht vorbei kann: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!«?
Als hassenswert, als »schändlichste Verachtung des heiligen Geistes im Menschen« bezeichnet das junge Genie in einem Brief an die Eltern den Hochmut aristokratischer Besitzer von Bildung und Gelehrsamkeit gegenüber ihren für dumm verkauften Brüdern. Allerdings lebt es sich, anders als anderswo, etwa ein Stück südlich der spanischen Nordafrika-Enklaven Ceuta und Melilla, in den Hütten Europas gegenwärtig nicht so schlecht wie zu Büchners Zeiten, und die Paläste sind abstrakt, anonym, sind ambulant geworden, was sie nicht gerade harmloser macht.
Hier gilt es im Auge zu behalten, daß es sich bei einer, unsere bisherigen Weltbilder zugegebenermaßen katastrophal überfordernden, stetig wachsenden Erdbevölkerung nicht um eine Biomasse handelt, der dort, wo sie Rechte hat, das mühsam Errungene von einer kleinen Gruppe Mächtiger und Gerissener wieder abgegaunert werden darf mit dem Ziel einer Verfügbarkeit der Vielen. Büchner begriff schnell, noch bevor er selber zynisch werden konnte, wie leicht und über welche Hebel sich solche Entmündigungen arrangieren lassen.
Auch diese Mehrheit, von deren aktueller, verheerender Menge Danton vor über 200 Jahren wohl kaum eine Ahnung hatte, ist und bleibt eine Addition von Originalen, und wenn die Literatur auch oft Gegner der Gesellschaft und ihrer zeitgeistlichen Zumutungen sein muß, so stellt sie andererseits, halbparadox, den treuesten und streng fordernden Freund des Individuums dar.
Die Rede ist von den Zeitgenossen, die alle, ob proletarisch oder nicht, hungrig oder satt, seßhaft oder heimatlos und in schwankenden Prozentsätzen gutmütig und bösartig zugleich, jeder für sich Furcht vor dem Tod haben, aber auch vor dem schwierigen Leben, wenigstens nachts, wenn sie, kindlicher und schwächer als tagsüber, wach liegen, ob neben ihnen jemand schläft oder fehlt. Leute mit sehr großen Schmerzen und kleinen Hypochondrien, mit verborgenen Furunkeln, Komplexen, schweren Traumata, Frauen und Männer, mit und ohne Familie, die wünschen, es gäbe letztenendes so etwas wie Gott und schamhaft darüber verzweifeln, daß er sich nicht zeigt, die sich konkret ängstigen vor dem Vergehen von Zeit und Glück, diffus vor der Weltlage und berechtigt vor ihren Mitmenschen; die zum 1. Mal rasend verliebt sind, oder, mit lauernder Empfindlichkeit, zum letzten Mal.
Wir alle also, in flüchtigen, doch einmaligen Mischungen und Ausziselierungen, eben doch, wie in Wahrheit auch Woyzeck, nicht multiplizierbar, wenn auch entwertend hochgerechnet zu allen möglichen Uniformierungen: Unikat in Detail und Variation, was eine Gesellschaft natürlich bewußt fördern, bewußt unter dem Feuerschutz täuschender Parolen behindern kann, auch durch Vernachlässigungen in der Bildungspolitik.
Sollten die neuen Palastherren aber, wie gelegentlich vermutet wird, jene imperial, um nicht zu sagen imperialistisch zugreifenden, Lebewesen, Lebensüberzeugungen, Länder und Landschaften, d.h. überaus fragile Systeme von Flora und Fauna zerstörenden Wirtschafts- und Finanzvirtuosen samt einer sie stützenden Mentalität und ihren Institutionen sein, die ab und zu sogar ein paar soziale, ökologische, kulturelle Beschwichtigungsgroschen zur Imageaufbesserung entrichten?
Zählen zu ihnen, wie öfter zu hören, diejenigen, die mit unserer Anfälligkeit für die fatale Bezauberung durch Ideologien bis hin zur tödlichen Berauschung an ihnen spekulieren? Nicht zu vergessen, nein, keinesfalls zu vergessen die Folter-, Präventiv- und Präemptivkriegspropagandisten von Staats wegen, die gemeinsam mit einer sich blähenden Rüstungsindustrie die leibgewordene Negation dessen sind, was sie, fix bei der Hand, als Umstandmacherei, als Schwerfälligkeit von Schöngeistern und Schönfärbern einer abgelebten Epoche verunglimpfen, nämlich die bis auf weiteres phänomenale Nicht-Wiederholbarkeit jedes, unterschiedslos jedes Einzelnen, auch wenn sie Völkerrechtsbrüche samt Konsequenzen mit so betörend trompetenden, antidiktatorisch zweckheiligenden Titeln wie »Freiheit des Einzelnen« und »Kampf für die Freiheit« schmücken?
Die Literatur sagt gedämpfter, zugleich dem trügerischen, stark verführerischen Abkürzungsdenken und Pauschalisierungshandeln scharf widersprechend, durch den Schriftsteller Lenz des jungen Mannes Büchner, der vielleicht doch schon den Dantonschen Zynismus an sich selbst durchprobiert hatte und als einzige Rettung daraus das ganz andere erkannte: »Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein, erst dann kann man sie verstehen.«
Womit keinesfalls gesagt ist, die spröde Menschenliebe der Literatur beim beharrlichen Zurückzerlegen von Gesellschaft und Bevölkerung in Einzelne, in Einzel- und Eigenheiten sei aufgrund dieser Bescheidung ein Kinderspiel und würde dem, der sich darum bemüht, landläufiges Glück und zwangsläufig Frieden bringen.
Das nun gerade nicht.
Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sehr herzlich für diesen Preis, der den großen, verpflichtenden Namen Georg Büchner trägt und Ihnen, geehrte und liebe Anwesende, fürs Zuhören.