Herbsttagung in Darmstadt

»Nicht mehr – noch nicht: Abschied und Erneuerung«


»Nicht mehr – noch nicht: Abschied und Erneuerung«, unter diesem Titel wird am Donnerstagabend, 2. November 2023, die Herbsttagung eröffnet. Sieben Mitglieder der Akademie widmen sich dem Thema Abschied und Erneuerung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven - vielleicht bestimmt von den großen Konflikten und Krisen, die uns umgeben, vielleicht auch getragen von ganz persönlichen Motiven. Wie können wir umgehen mit dem »Dazwischen« des Wandels, ihn womöglich auch gestalten?

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Nachschauen:

Ulrike Draesner
Der Frosch im Erdbeerklee

Der science-Mythos, dass ein Frosch, in kaltes Wasser gesetzt, sich bei langsamer Erhitzung des Wassers nicht zu retten versuche, weil er die Veränderung der Temperatur nicht bemerke, ist nicht nur Ausdruck eines mehr als zweifelhaften Verhältnisses zu Tieren, ihrem Schmerzempfinden und der Foltermacht des Menschen, sondern auch schlichtweg falsch. Selbstverständlich wird das amphibe Wesen versuchen, sein Leben zu retten.

Fehler sind interessant. Fehler sind Bruchstellen. Etwa wenn in den Matrix-Filmen der Wachowski-Geschwister eine Katze zwei Mal durchs Bild streift. Der Fehler ist ein Glitch zwischen Erwartung und Wirklichkeit. Wenn Fehler-Geschichten aus der Welt der Messbarkeit (Frosch Wasser Temperatur) sich trotz offensichtlicher Widerlegbarkeit erhalten, muss es einen guten Grund dafür geben.

Er heißt: erzählen. Die Geschichte vom tumben Frosch illustriert etwas, was so versteckt ist, dass wir es anders als in Fabeln nicht zu greifen bekommen. Das bloße „Veränderung ist schwer zu bemerken“ hilft eben nicht. Es bleibt ein dürres Gestänge, ein Skelettchen von Satz.

Veränderung geschieht ständig. Als Grundzustand wird sie rasch paradox: Das nicht Veränderbare an Veränderung ist, dass alles sich ständig verändert. Dass wir dies nicht ständig bemerken, muss als Schutzmechanismus gelten, wäre sie sonst doch sofort dahin, unsere stabile Wirklichkeit. An der unser Gehirn massives Interesse hat. Gewiss, dahin ist sie „eh“, kaum beginnt man nachzudenken, doch meist dürfen wir der fiktive Frosch sein im Wasser der langsamen Erwärmung.

Nun denken Sie, „ah, darauf will sie hinaus“: Erwärmung, Klima etc. Damit haben Sie fast recht, und auch das erst später. Ich möchte über das Konzept des „Kippens“ sprechen. Über die Verschränkung von Biodiversität und Sprache.

Die Langsamkeit von Veränderung ist vertrauenssichernd und gefährlich. Da wir dies wissen, drehen wir gern selbst an jener Schraube, die wahlkampfmächtig „change“ heißt. Dann wirkt es, als säßen wir am Steuer.

Doch unsere herbeigeführten Veränderungen sind Experimente. Selbst im Kleinen. Ich verändere die Ordnung meiner Vorratskammer. Ob das Neue sich bewährt? Anfangs bewährt es sich keinesfalls: für eine Weile finde ich nichts mehr. Oder: Komm, wir verändern unser Privatleben: Wir trennen uns. Niemand weiß, was das bedeuten wird. Nur eines steht immer schon fest: Es wird anders als gedacht.

Der Mensch, das „zukunftsoffene“ Wesen, so die Philosophie. Der Mensch, der Unterfrosch, so ich. Demokratien treffen gewaltige Veränderungsentscheidungen, man nennt sie Wahlen. Niemand weiß, wie der Körper des neuen Parlamentes funktionieren wird. Und wie seine Entscheidungen sich tatsächlich auswirken werden auf so vielfach verflochtene Systeme wie „Kinder“; „Familie“; „Ökonomie“. Gewaltige Veränderungssysteme nennen wir „Krieg“. Traditionell bestanden sie aus „Schlachten“. Zeitgenössische Forschung zu diesen irren Systemen zeigt, wie ihre Glieder ohne Kenntnis der anderen agierten, aus dem Augenblick heraus – zeigt, wie zufällig war, wie das Geschehen endete.

Armer heißer Frosch. Wir wissen, dass die Systeme, in die wir uns eingewoben haben: Staaten, verbundene Staaten, Sprachen, nationale Ökonomien, globale Güterströme, viel zu verschichtet sind, als dass wir sie durchschauten. Geschwind haben wir unsere Berechnungen verändert. In komplexen nichtlinearen Systemen treten Phänomene auf, mit denen niemand rechnete. Die Verknüpfungen, ich sage es laienhaft, nein, sage es aus meiner Erfahrung als Romanschriftstellerin, denn auch ein Roman ist ein komplexes, nicht vollständig zu kontrollierendes System, beginnen ein Leben mit- und gegeneinander. Unvorhergesehene Verhaltensweisen emergieren. In der Konsequenz werden nur mehr Wahrscheinlichkeiten berechnet, Entscheidungen auf den „best guess“ gegründet.

Um dieses halb-vernünftige Steuern in der Watte der Systeme – also in Strukturen, die Möglichkeitsräume sind, ungreifbar, undinglich, aus Wolken zusammengesetzt –, um uns dies in Alltagssprache und -Bildlichkeit zu übersetzen, greifen wir nach dem Wort „kippen“. Systeme kippen; vom Spielplatz und seiner Schaukel wanderte das Wort in den 80er Jahren zum nächsten Teich. Sein Ökosystem sei gekippt, sagte man. Tot lag er da.

Tot roch er auch.

„Kippen“: doppeltes p, das den Kipppunkt zu verbergen scheint, helles, kurzes i, Abklatsch. Semantisch führt „kippen“ in die Irre. Es suggeriert, es gebe eine andere Seite. Man verliert den Schwerpunkt, aber landet – eben doch. Es zeigt zahlreiche Nebenformen: küppen, küpfen, köppen, keppen, auch kappen, käupeln, gimpfen, gempfen, gampen oder gigampfen. Zusammenfluss, so das Grimm’sche Wörterbuch, verschiedener Wortstämme, einschließlich „gabeln“ und „gaukeln“.

Der Kipppunkt ist eine Gaukelei. Wir kippen immer erst dann, wenn wir bereits gekippt sind. Die Rede von ihm ist tröstliche Metapher und Verschleierung zugleich, die Inszenierung einer Diskontinuität der Veränderung, die uns erlaubt, sie als Geschichte in mindestens drei dramatischen Akten zu erzählen: Anlauf, Krise, Absturz.

Ich komme zu meinem Frosch zurück.

Gern würde ich ihn aus dem Topf nehmen und den Herd herunterdrehen. Das Aussterben der Arten, das wir global beobachten, geht Hand in Hand mit einem Rückgang der Sprachen dieser Welt. Unsere Realwelt wird flacher, einfarbiger – unsere Beschreibungsräume ebenso. Sprachen sind Denk- und Wahrnehmungssysteme. Ihre Vielfalt, so die Ergebnisse neuer Untersuchungen, nimmt in Relation mit der beobachtbaren Biodiversität ab.[1] Ich zitiere aus einem Artikel aus Science Daily vom 17. Mai 2021 (Larry Gorenflo, Pennstate, und Suszanne Romaine, Merton College Oxford): „If you plot language numbers against species range numbers, you find that there is a positive relationship … It may be because more natural complexity generates more cultural complexity.”[2]

So stellte ich mir die Frage: Kann ich das Kippen eines äußeren Lebenssystems in einem Beschreibungssystem auf so langsam und deutlich stellen, dass wir es fühlen können? Am eigenen Sprachleib erfahren?

Anders gesagt: Wie wird die Bedeutung von „Verschwinden“ anschaulich? Wie die Bedeutung von „Kippen“?

Für uns, die wir all dies zugleich sind: Veränderungsfanatiker:innen, Veränderungsphantasten, Veränderungsphobiker:innen?

Wie lässt sich unsere Sprache selbst auf ihre Veränderungs-Empfindlichkeit hin untersuchen? Haben wir sie nicht, um eben nicht der fiktive, im heißen Wasser ertrinkende Frosch sein zu müssen?

Ich möchte Ihnen ein Poesievideo zeigen. Es trägt den Frosch in den Auwald bei Leipzig, setzt ihn zwischen die letzten Stängel des einst kräftig wachsenden Erdbeerklees. Köpfchenförmige Blütenstände, hellrosa bis himbeerfarben. Ausdauernd, krautig. „Unverwüstbar“, hätte man gedacht.

Wann kippt, was Sie sehen und hören werden, für Sie? Kippt es von hinten oder vorn? Wohin kippen Sie? Wie beginnt Ihr Gehirn die Ausfälle, die Sie erleben werden, zu ersetzen?

Ich danke Stefan Harder für die Programmierung des Bildteiles und wünsche Ihnen viel Spaß bei der Selbstbeobachtung im Angesicht einer Veränderung:

https://www.youtube.com/watch?v=8zdovV_cko4


[1] “The correlation between linguistic diversity and biodiversity is in direct proportion with each other”. Marc Pagel: ‘‘languages, like all biological species, get thicker on the ground as you approach the equator’’ (1995:6, reported by Nicholas Ostler in Iatiku: Newsletter of the Foundation for Endangered Languages, 1). Megadiversity, according to Skutnabb-Kangas, seems to be more prevalent in countries on the other side of the ocean as well, for instance Nigeria. […] Tropical climatic condition also explains richness of linguistic diversity in countries like Papua New Guinea and Indonesia.” Zitiert nach: “Linguistic diversity and biodiversity”, Ramanjaney Kumar Upadhyay, S. Imtiaz Hasnain, in: Lingua 195 (2017) 110—123, veröffentlicht am 20.Mai 2017.

[2] Science Daily, 17. Mai 2021. https://www.sciencedaily.com/releases/2021/05/210517194739.htm