»Nicht mehr – noch nicht: Abschied und Erneuerung«, unter diesem Titel wird am Donnerstagabend, 2. November 2023, die Herbsttagung eröffnet. Sieben Mitglieder der Akademie widmen sich dem Thema Abschied und Erneuerung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven - vielleicht bestimmt von den großen Konflikten und Krisen, die uns umgeben, vielleicht auch getragen von ganz persönlichen Motiven. Wie können wir umgehen mit dem »Dazwischen« des Wandels, ihn womöglich auch gestalten?
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Uljana Wolf
Die Abläufe behelligen
Ein Brief wird kommen von dort, wohin du nicht zurückschreiben kannst
Dass du schon lange dort bist
Dass du dich schon verlassen hast
Ein heller Brief wird kommen aus einem Loch, das alles über dich weiß
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Décalage, französisch: räumliche oder zeitliche Verschiebung. Auch Jetlag. Beim Simultandolmetschen der Abstand zwischen der Rede, die gesprochen wird und der Rede der Dolmetscherin, die spricht, was gesprochen wird, in einer anderen Sprache. Zeitverzögerung, Phasenverschiebung, Dehnung. Fünf Sekunden. Hier, schon weg. Kann man das auf Lyrik anwenden? Im April unternahm ich einen Versuch, nämlich im Rahmen der unter anderem vom Institut für Sprachkunst und Monika Rinck organisierten rough translation conference in Wien. Bei einer Werkstatt zum „Lyrikdolmetschen“ weihten uns Irina Bondas und Theresia Prammer in Phasenverschiebung und technische Finessen des Dolmetschens ein. Einige versuchten wir probehalber anzuwenden: ungeschult, ungeschützt, mit Kopfhörern und Gedichten. Eine Übung nannte sich Shadowing, Nachsprechen: nicht übersetzend, sondern zeitversetzt nachsprechen. Ich schrieb erst fehlerhaft: zweitversetzt. Wer redet denn da mit mir? Unsere Versuche in der Werkstatt, mit untrainiertem Hirn, gleichzeitig zuzuhören und zu sprechen, fühlten sich kläglich an, aber unterhaltsam. Ich kann nicht sagen, dass wir versagten, da wir versetzt sagten, was gesagt werden musste. Das starke Gefühl blieb: Wie seltsam verrückend es ist, in der Spur von Worten zu stehen, sie zu sagen, ohne sich zu verdenken, was gesagt wird. Was für eine Fähigkeit. Die Dehnbarkeit, die Demut, manchmal: die Gewalt, die man dabei erfährt. Aber auch unbedingtes, kunstfertiges Zuhören. Nicht mehr das Andere, da du es jetzt selber sagst, noch nicht fertig, da du noch sprichst und kaum im herkömmlichen Sinn verstehst. Spreche ich noch? Höre ich noch zu? Ich verstehe im ankömmlichen Sinne: In einer 3000 Jahre entfernten friedlichen Galaxie, die von Weitem einem hellen Loch ähnelt, von nahem einer Pumphose aus Licht, gilt Shadowing vielleicht als demokratie-stabilisierende Praxis. Positionen nachsprechen, die einem konträr sind, wie Fremdsprachen lernen. Aber rückwärts abgespielt, weil das ist uns ein Leichtes dann. Decal-Age. Not a cage deal.
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Auf einer Lesung an der Columbia University Anfang Oktober – einem sehr fernen Anfang, der vor dem 7. Oktober lag – gab die koreanische Lyrikerin Kim Hyesoon eine zeitverrückte Antwort auf die Frage, für wen sie ihre Gedichte schreibe, ob sie einen Leser oder eine Leserin im Kopf hätte. Sie sagte: Ich schreibe für ein Kind, das erst in 3000 Jahren geboren wird. Als ich einer befreundeten Autorin später davon erzählte, übersetzte diese: Aha, sie schreibt für die Ewigkeit. Nein, erwiderte ich ohne nachzudenken, sie schreibt für Tote. Ich war überrascht von dem Wort, das meinem Mund entschlüpfte. Ich wollte eigentlich nur sagen: Ewigkeit halte ich für das falsche Wort. Nach dem buddhistischen Glauben der Wiedergeburt wäre das in 3000 Jahren geborene Kind bereits jetzt in der Welt, in anderer Form. Und bis es den Zustand erreicht hätte, in dem es als Kim Hyesoons Leserin auftauchen würde, wäre es viele Male gestorben und danach als Geist viele Male 49 Tage lang über die Erde mäandert. Oder anders: Da das Kind erst in 3000 Jahren seinen Zustand als lebende Leserin erreichen wird, schreibt die Dichterin, die jetzt schreibt, eine sehr Zeit für – nein, Tote ist auch nicht das richtige Wort. Für Geister. Oder sie schreibt jetzt gar nicht, aber das Gedicht ist schon da, als Geisterrede, die sich verwandelt und unaufhörlich als geheime Décalage ins Schädelrindeninnere aller Lebenden flicht. A glace ed. Lace Aged.
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Gemeinsam mit Sool Park arbeite ich zurzeit an der deutschen Übersetzung von Kim Hyesoons Gedichtband Autobiografie des Todes, aus dem die zitierten Zeilen vom Anfang stammen.Gewissermaßen zweitversetzt. Er schickt mir die erste Fassung, aus dem Koreanischen ins Deutsche, mit Fußnoten, Erläuterungen. Ich überarbeite sie, mit Don Mee Chois englischer Übersetzung und dem Koreanischen, das ich nicht lesen, nur ansehen kann, daneben. Der Gedichtband verarbeitet, in eben 49 verstörenden und zugleich seltsam betörenden Texten, Todeserfahrungen, Ohnmacht und Gewalt, unter anderem das traumatische Sewol-Fährenunglück im Jahre 2014, bei dem mehr als 300 Menschen ertranken, 250 von ihnen Schüler und Schülerinnen eines High School Ausflugs – ein Stimmenchor aus Geistern, ein „ghost of collectivity“, wie Kim Hyesoon es nennt. Die Sprache des Gedichts ist ihr, wie sie in der Berliner „Rede zur Poesie“ ausführte, nicht Besitz, possession, sondern die Dichterin ist von der Sprache besessen, possessed. In manchen Zeiten gibt es wenig anderes, als sich in diese Besessenheit durch Übersetzen zu retten, das Gegenteil von Sprachbesitz. Das Verb décaler (versetzen, verschieben) ist selbst eine Verschiebung, nämlich des Wortes declare: ich erkläre, er/sie erklärt. Ich aber habe Fragen. Wie muss ich mir das vorstellen, wenn Mädchen in Hosen aus Licht kichernd an eine Welt ohne Nacht klopfen? Hier ist das Gedicht noch einmal in Gänze, in unserer jetzigen Fassung:
Weiße Nacht
Tag Fünf
Ein Brief wird kommen von dort, wohin du nicht zurückschreiben kannst
Dass du schon lange dort bist
Dass du dich schon verlassen hast
Ein heller Brief wird kommen aus einem Loch, das alles über dich weiß
Ein Brief wird kommen, glänzend wie das Gehirn eines Toten, das jetzt alles weiß
Ein weiter, breiter Brief, ohne Gestern und Morgen, wie die Zeit vor deiner Geburt
Wo Pferdewagen aus Licht leise mit Schellen klingen
Wo Mädchen in Hosen aus Licht kichernd an eine Welt ohne Nacht klopfen
Wo die letzte Bahn hoch an die Oberfläche fährt
Wo alle Züge gleichzeitig aufleuchten, dich im Schweigen vergessen
Wo du nicht hinkommst, weil dir dafür die Beine fehlen
Wo die Kinder deiner Kindheit schon angekommen sind
Wohin du nie zurückschreiben kannst mit deiner schwarzen Schrift
Ein Brief wird kommen von dort, diesem hellen Loch
Wo deine Kinder schon vor dir alt geworden
Eingewandert in den Kreis der Wiedergeburten
Ein Brief wird kommen von dort, in heller, heller Tinte geschrieben
Wo keine Finsternis seit der Geburt
Wo ein Neugeborenes jetzt das gleißende erste Licht schaut
Ein Brief wird kommen von dort, ein großer, großer Brief
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Ich muss bei dem „hellen Loch“ an Ilse Aichingers Prosagedicht „Surrender“ aus Schlechte Wörter denken, vielleicht auch, weil sie gestern, am 1. November, ihren 102. Geburtstag gefeiert hätte. „Surrender“, dessen Titel man, wenn man ihn Englisch liest, als Aufgabe, Kapitulation, oder, liest man ihn Deutsch, als Lautgeste, Lautgeben, Sprachschnurre verstehen könnte: Ein Surrender. Eben hier, schon fort. Dort liest man die Worte: „Ich höre, daß mit Tricks und Kniffen gearbeitet wird, Membranen, durchlässiges Zeug, hell, hell. Hell ist aber viel. Da kommt man schwer durch.“ Weil der Titel möglicherweise ein englisches Wort ist, wird man – pun intended – hellhörig, liest mehrsprachig. Ist die Hölle gemeint, die Unterwelt, die Untergründe, die Erinnerungen und Ahnungen an die Ermordeten in sich tragen? Sind „hell“ die Untergänge in Aichingers Werk, über die ich mit Marie Luise Knott 2021 eine Ausstellung kuratierte, und die paradoxerweise durch das Erscheinen in der Sprache durchlässig, dem Versinken entzogen werden? „Da kommt man schwer durch.“ In Kim Hyesoons Gedicht wiederum wird die Unterwelt so hell, als würden die Zeilen eine uns bekannte Welt nachsprechen, als hörten wir eine zeitlich verschobene und darum verdoppelte Phase, beschattete Rede, die einer großen Klarheit stattgibt: Nur so kommt man durch. Der Brief, scheint es, ist schon geschrieben, aber noch nicht aufgegeben. Und dieser nicht aufgegebene Brief gibt uns nicht auf. Er sagt: Das, was möglich ist, auch in dunkelster Zeit, sei an einem Ort in der Zukunft zu schreiben, der vielleicht in der Vergangenheit, vielleicht im Jetzt liegt. Nicht linear gedacht, eher spiralig. Nicht surrendering, sondern Surren oder Kichern in Lichthosen. Die poetische Sprache kommt für Kim Hyesoon aus diesem Ort, dieser weißen Leere, aus dem Tod, oder einem Raum der Möglichkeit, der Gleichzeitigkeit. Ich verstehe, dass das in 3000 Jahren geborene Kind auch jetzt schon in der Welt, genau hier sein könnte, als Zuhörerin von Kim Hyesoons Gedicht. Oder sogar als Kim Hyesoon selbst. Ich verstehe, dass sie ein Kind ist, und die Kinder ihrer Kindheit. Dass dies der Geist der Kollektivität ist, von dem sie sprach. Ich verstehe, dass ein Gedicht im Modus zeitversetzten oder zeitverflochtenen Sprechens gegen die Ohnmacht und die Traurigkeit rebellieren kann. Gegen die „Behelligungen der Abläufe“, wie es bei Ilse Aichinger an anderer Stelle heißt. Aufbegehren gegen Namenslisten, die Toten, die getöteten Kinder. Auf beiden Seiten von Grenzen. Ich verstehe, man im Gedicht die Welt nachsprechen muss, bis sie so derangiert ist, so décalagiert, so gleißendes Loch, dass die Abläufe behelligt werden.