Herbsttagung in Darmstadt

»Nicht mehr – noch nicht: Abschied und Erneuerung«


»Nicht mehr – noch nicht: Abschied und Erneuerung«, unter diesem Titel wird am Donnerstagabend, 2. November 2023, die Herbsttagung eröffnet. Sieben Mitglieder der Akademie widmen sich dem Thema Abschied und Erneuerung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven - vielleicht bestimmt von den großen Konflikten und Krisen, die uns umgeben, vielleicht auch getragen von ganz persönlichen Motiven. Wie können wir umgehen mit dem »Dazwischen« des Wandels, ihn womöglich auch gestalten?

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Kathrin Röggla
Hundert Jahre Radio, zwei Minuten später

Angst, Angst und wieder Angst, das ist ihre ganze Technik. Sie sagen, es wird uns bald nicht mehr geben, wir werden abgeschaltet, uns will niemand mehr, wenn wir so weitermachen in unserer Blase. Wir müssen aus der Blase raus, wir müssen was anderes werden. Wir sind zu alt. Wir sind abgehoben, elitär und arrogant. Wir müssen das werden, was wir nicht sind. Z.B. flexibel, fashionable. Wir müssen den Leuten zuhören, die nichts wissen. Die nichts wollen. Die nichts von uns wollen. Wir müssen Zuhörer werden, also die, die anderen das Ohr leihen, Zuhörer, deren Ohren nicht nach innen reichen, sondern entlangwandern an den Bedürfnissen anderer wie Tentakel. Und wir müssen die Privaten werden. Die Privaten und ihre Marktmacht. Wir müssen dabei allerdings unüberhörbar werden. Wir hätten es wohl noch nicht bemerkt, aber wir würden im Wettbewerb mit den Privaten stehen. Zudem gehen wir jetzt ins Digitale, und im Digitalen gibt es nur Plattformkapitalismus. Das Digitale ist anders, das Digitale erfordert eine Nähe zu den Kunden. Es braucht eine affektive Ansprache. Das reine Argument überzeugt nicht, auch nicht die komplexe Formulierung. Nach drei Minuten klicken die Leute heute weg, vor kurzem waren es noch fünfzehn Minuten, bald werden es dreißig Sekunden sein. Ja die Aufmerksamkeitsspannen, sie werden kürzer. Warum nicht Features machen nach den zehn häufigsten Googleanfragen, das hat doch die dänische Kommunikationsagentur geraten. Das sei ein falsches Verständnis von Aktualität? Nun, Radio ist aktuell. Es lebt davon. Sie werden es schon merken!

Bitte? Sie haben doch noch die Intendantin im Ohr: „Um das lange Wort zu retten, müssen wir es kürzen.“ Nochmal: „Um das lange Wort zu retten, müssen wir es kürzen.“ Diese absurde Logik entsteht in unzähligen internen Workshops, von denen mir Redakteurinnen und freie Mitarbeiter erzählen, Workshops, bei denen das Ergebnis schon am Anfang feststeht. Dauernd versuchen wir das zu erarbeiten, was Zukunft verspricht, und am Ende kommt immer das raus, was unsere Programmchefs und Intendantinnen bereits gedacht haben. „Und jetzt macht die Info auch die Kultur“, höre ich aus dem Innenleben der Sender weiter, die journalistische Lebensdauer von Büchern verkürze sich dann auf den Erscheinungstermin und kurz danach. Ein Buch, das vor einer Woche erschienen ist, sei nicht mehr aktuell. Es herrsche eine Stimmung des vorauseilenden Gehorsams unter dem Deckmantel der Zusammenarbeit.

Eine gewaltige Nichtnachfragezukunft zeichne sich ab. Es ist, als ob eine Landschaft aus Nichtzuhörern entstünde. Die gefühlte Quote regiert, oder das, was in Statistiken bestellt wird als eine Art Quote. Und Niedrigschwelligkeit ist das Zauberwort der Stunde.

Andere sagen, ich sei abgehoben und würde gar nicht verstehen, wie die jungen Leute tickten. Meine Kinder würden doch auch nicht mehr auf öffentlich-rechtlichen Seiten sein, die würden doch auch nicht mehr nach Infos suchen. Jahrelang habe sich eine elitäre Blase ihre eigene Spielwiese finanziert, aber das ginge nun nicht mehr, man müsse diese elitäre Blase jetzt verabschieden, sonst werden wir verabschiedet. Die Nachwachsenden würden keinen Nerv mehr für komplizierte Klangkunst haben, die wir in den 90ern andauernd gemacht hätten. Die Nachwachsenden würden sich für persönliche Geschichten interessieren. Narrative Kosmen. Podcasts. Die Nachwachsenden überwachsen uns langsam, das sollte auch mir schon aufgefallen sein. Also verabschieden wir. Nicht nur etablierte Sendeformate und Sendungen, sondern auch die Vorstellung einer an Reflexion interessierten jüngeren Gesellschaft. Menschen unter 50 werden zu rein affektgesteuerten Egomanen stilisiert. Und ich, ja, auch ich verabschiede mich vielleicht in der Art und Weise meines Vortrags hier von der Vorstellung, daran könnte ich etwas ändern. Viel ist dazu publiziert worden, viel habe auch ich selbst schon öffentlich gesagt und überlegt, von publizistischen, über demokratischen bis zu juristischen Maßnahmen erwogen, und jetzt stehe ich da, und werfe mir preaching to the own crowd vor. Aber manchmal ist selbst das notwendig, denn die crowd wird schnell zur Kröte, wenn sie sich nichts mehr erzählt aus Angst, nicht mehr dazuzugehören.

Auch anderswo wird verabschiedet. Es ist derzeit ein emergierendes Gewerbe, die Ressourcen reichen einfach nicht. Zum Beispiel müssen wir uns jetzt auch von zig Goetheinstituten verabschieden: Turin, Genua, Trieste, Bordeaux, Strassburg, Lille, Neapel verkleinert. Das Verabschieden der Goetheinstitute ist ebenfalls eine beschlossene Sache, da kann man nicht mehr ran, das Geld fehlt, und was soll man machen? Das sind interne programmatische Entscheidungen, dass damit jahrelange Kulturarbeit zunichte gemacht wird, ist eine andere Frage. Kulturarbeit benötigt Kontinuität, insofern eine Katastrophe, die als Gestaltung und Modernisierung erzählt wird. Aber wie soll man in einer Minderwirtschaft, dieser Minuswirtschaft, in der wir stecken noch gestaltend arbeiten? Nichts wie raus aus dem Countdown? Raus aus dem weniger, weniger – wie macht man das? Gute Frage. In die Privatwirtschaft gehen?

Die Selbstabschaffung der eigenen Position habe sie überrascht, erzählte mir kürzlich eine Justitiarin eines großen Privatsenders, die monatelang ihre ganze Abteilung – immerhin 100 Leute – abwickelte und dann erst ganz am Ende bemerkte, dass sie sich selbst damit mit abgeschafft hat. Sie verstehe es nicht, wie sie das nicht habe sehen können. Danach habe sie plötzlich Panik erfasst. Eine hochausgebildete Juristin mit Führungserfahrung, die ihre eigene Abteilung abwickeln musste und letztlich sich selbst, begegnete plötzlich der massiven Vorstellung, keine Arbeit mehr zu kriegen. Das habe sie eine ganze Weile besetzt gehalten. Sie sei dann aus den privaten Medien rausgegangen und in einem ganz anderen Bereich gelandet – Verkehr. Da sei die Stimmung erstaunlicherweise besser.

Was aber wickle ich ab und merke es nicht? Wache auch ich erst dann auf, wenn ich selbst betroffen bin? Sind es sprachliche Verluste? Oder gar die Erwartung einer friedlichen Gesellschaft und Gewöhnung an das Kriegsvokabular? Wo liegt meine Verantwortung und wie darüber schreiben?

Den Verlust in den Blick zu nehmen geübt ist die literarischen Beschäftigung mit der ökologischen Artenvernichtung. Hier findet man oft genug die Verlustliste der Arten als eher ruhige und melancholische literarische Geste – die Anrufung des bereits Verschwindenden. Die Schönheit, die in der Erscheinung im Moment des Verschwindens entsteht, macht mich allerdings misstrauisch. Sie suggeriert auch, dass wir mitbekommen, was verschwindet. Das tun wir aber nicht. In Erinnerung zu rufen, was wir nicht mehr wissen, und auszulassen, was wir nie gewusst haben, ist eine unheimliche Angelegenheit. 2/3 der Arten in seinem Bereich, so erzählte mir einmal ein Schneckologe, seien gar nicht bekannt. Wir wissen nicht, was da ist, geschweige denn, was wir retten wollen. Es gebe ja bereits Ret-tungslisten, hat mir die Erdsystemforscherin Antje Boetius erzählt, so von der EU, in der sie eintragen sollte, welche Tiere denn gerettet werden sollten. Ihr Lachen kennzeichnet das Gesagte als Überforderung. Wieviele Wissenschaftler haben mir schon erzählt, ihr Forschungsgegenstand sei am Verschwinden? Es fällt mir schwer, das noch als Verlust unter anderem einzuordnen, es ist systemisches Verschwinden, eine ganz andere Kategorie. Diese überschneidet sich mit dem Verschwinden des Öffentlichen im öffentlichen Rundfunk einzig in der Vorstellung, „Klima“ könnte wie die Kategorie „Verbraucher“ nur von einer zentralen Redaktion programmiert werden, es brauche nicht mehr die Vielzahl der Perspektiven.

Und der Neubeginn, werden Sie jetzt fragen, wo bleibt der? Den gibt es nicht, das wissen Sie doch. Prinzipiell nichts Neues auf der Erde, wir müssen mit dem arbeiten, was bereits da ist. Die Sache mit den Algorithmen, könnten Sie jetzt erwidern, ist doch neu, und die KI. Ich bin mir da nicht so sicher. Das gesellschaftlich Neue ist jedenfalls eine Frage der Herausforderung, die aus dem Alten erwachsen ist. Sie zu finden und sich ihr richtig zu stellen, wird nicht im zwei Minuten-Rhythmus möglich sein inmitten der Maschinen, die uns – wer uns? – suggerieren, dass die Welt einem permanent zur Verfügung steht, und wir nur den richtigen Befehl, den richtigen Prompt, die richtige Suchanfrage abschicken müssen. In so einer Vorstellung muss das Gefühl für Verlust künstlich hergestellt werden. Die Lücke, das, was plötzlich oder gar nicht so plötzlich fehlt, sichtbar gemacht. Für den öffentlichen Rundfunk wäre das eine hervorragende Aufgabe – nein, es ist die Herausforderung, die sich ihm stellt.