Herbsttagung in Darmstadt

»Nicht mehr – noch nicht: Abschied und Erneuerung«


»Nicht mehr – noch nicht: Abschied und Erneuerung«, unter diesem Titel wird am Donnerstagabend, 2. November 2023, die Herbsttagung eröffnet. Sieben Mitglieder der Akademie widmen sich dem Thema Abschied und Erneuerung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven - vielleicht bestimmt von den großen Konflikten und Krisen, die uns umgeben, vielleicht auch getragen von ganz persönlichen Motiven. Wie können wir umgehen mit dem »Dazwischen« des Wandels, ihn womöglich auch gestalten?

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Iryna Herasimovich
[ohne Titel]

Im August 2020 ging ich in meinem Heimatland Belarus zur Wahl, in der Hoffnung auf einen Abschied von der alten Ordnung und einen Neuanfang. Nichts davon ist eingetreten.

Im Mai 2021 verließ ich mein Heimatland für einen kurzen Arbeitsaufenthalt in der Schweiz, ohne zu ahnen, dass dies der Abschied von meinem früheren Leben in Belarus und der Neuanfang als Exilantin in der Schweiz sein würde.

Im August 2022 begleitete ich meine Eltern nach ihrem Besuch bei mir zum Flughafen Zürich, ohne zu wissen, dass ich meinen Vater zum letzten Mal sehe. Im Januar 2023 ist er mit 68 Jahren gestorben. Bis heute konnte ich das Grab meines Vaters in Belarus nicht besuchen, weil das Risiko, dort verhaftet zu werden, zu groß ist.

Diese Erfahrungen von Abschied und Neuanfang sind, was mich heute wohl am meisten prägt, wenn nicht gänzlich ausmacht. Dabei sind es in meinem Fall Abschiede, die keine Abschlüsse, sondern Abbrüche sind. Und Neuanfänge, die nicht wirklich ein Ankommen, sondern eher Transitzonen sind. Ein geplanter Abschied scheint mir inzwischen ein Privileg zu sein, Kennzeichen eines geordneten friedlichen Lebens. Aber ist denn nicht in jedem Abschied ein Bruch enthalten, nur vielleicht in einer geringeren Konzentration? Ist nicht jeder Neuanfang eine Transitzone, nur von unterschiedlicher Dauer?

Vielleicht sind gebrochene Biografien, wie die meine, und eher intakte, in denen alles mehr oder weniger nach Plan verläuft, viel enger miteinander verknüpft, als es auf den ersten Blick den Anschein hat?

Die Verben der Bewegung und Zustandsveränderung bilden im Deutschen ihre Perfektform mit dem Hilfsverb sein: ich bin gegangen. Während bei Konstruktionen mit dem Hilfsverb haben das Greifbare, der Besitz zum Vorschein kommt, wird bei den Verben der Bewegung und Zustandsveränderung dagegen das Sein spürbar. Das scheint mir sehr zutreffend: Bewegungen und Zustandsveränderungen werfen uns in der Tat auf unser nacktes Sein zurück, zeigen uns unsere eigentliche Dimension und Beschaffenheit. Ohne ein stützendes System, ohne den Deckmantel eines geregelten Alltags schrumpfen wir Menschen so oft, werden alle ein bisschen Teenager, uns im eigenen Körper unwohl fühlend, alle Bewegungen neu lernend. Da will man mit Büchners Marktschreier aus Woyzeck schmunzeln: Du bist geschaffen aus Staub, Sand, Dreck. Willst du mehr sein als Staub, Sand, Dreck?

Haben wir in den Momenten, in denen wir nicht mehr die alten und noch nicht die neuen sind, nicht alle tatsächlich etwas von dem formlosen Klumpen Staub, Sand, Dreck, aus dem erst eine Gestalt gewonnen werden muss? Dabei ist man sich selbst sowohl Material als auch Handwerker. Aber würde ein Handwerker sich an die Arbeit machen, ohne zu wissen, was er eigentlich schaffen will? Ist dies nicht eher die Haltung eines Künstlers, der in das Material hineinhorcht und versucht, die zukünftige Form zu erraten, ohne jegliche Garantie, dass ihm das gelingen wird, aber bereits ergriffen von der Unausweichlichkeit des Schaffens?

In einem seiner Interviews bezeichnet der Musiker und Dirigent Daniel Barenboim die Unausweichlichkeit als eine der wichtigsten Dimensionen eines Konzerts: Dann setze ich mich ans Klavier oder trete ans Pult. Und wenn ich zu spielen beginne, genau in diesem Augenblick, beginnt ein unausweichlicher Prozess, der bei einer Bruckner-Sinfonie fünf Viertelstunden dauert, eine Stunde und zwanzig Minuten bei einem Tristan-Akt und eine Minute fünfzig Sekunden bei einem Walzer von Chopin.

Und erst nach dem unausweichlichen Moment müsse man die Möglichkeit und die Fähigkeit haben, sich bewusst zu erinnern, was man gemacht hat und warum man es gemacht hat.

Sowohl die Unausweichlichkeit als auch die Selbstbefragungen sind wichtige Dimensionen eines Wandels. Welche von meinen Entscheidungen haben mich etwa in die Situation gebracht, nicht zur Beerdigung meines Vaters fahren zu können? Wieso stehe ich überhaupt vor dieser verrückten Wahl: angemessener Abschied von einem Verstorbenen oder das Leben in Freiheit? War es das erste Interview über die Proteste in meiner Heimat, das ich gegeben habe, ohne zu wissen, in welche Gefahr ich mich begebe? War es die Unfähigkeit, die eigene Wahrnehmung dahingehend zu manipulieren, sich der Protestbewegung nicht anzuschließen? Sind es nur meine Entscheidungen, die mich dahin gebracht haben? Hätte ich früher aktiver in die politische Situation eingreifen sollen, um das zu verhindern? Hätte ich das überhaupt gekonnt? Liegt nicht ein Teil der Verantwortung auch bei der internationalen Politik, die angesichts der Situation in Belarus (und auch in Russland) so oft ein Auge zugedrückt und sich manchmal gar blind gestellt hat?

Durch solche und ähnliche Fragen lernt man die Realität und sich selbst besser kennen.

Unter den Erkenntnissen sind viele, die man vielleicht auch lieber nicht gewinnen wollte. Denn sie sind schmerzhaft. Zum Beispiel, wie unentbehrlich die Verantwortung einer Einzelnen für den Zustand der Welt ist und wie begrenzt zugleich die Einflussmöglichkeiten? Wie sehr das eigene Leben von den Prozessen bestimmt wird, auf die man keinen oder sehr wenig Einfluss hat. Man erkennt die eigenen Grenzen und Schwächen. Auch die eigenen Illusionen. Das alles ist schmerzhaft und trotzdem will ich diese Erkenntnisse nicht missen. Denn das hieße, sich von der Realität abzuwenden. Das machen ohnehin sehr viele.

Ich war etwa fünf, als ich von der Situation im Nahen Osten erfuhr. Meine Großmutter hatte immer gesagt, wenn die Menschen den vorherigen Krieg vergessen, dann beginnt ein neuer. So hatte ich mir vorgenommen, jeden Tag vor dem Einschlafen ganz fest an den Krieg zu denken. Wenn ich das tue, kann man nicht sagen, alle Menschen hätten den Krieg vergessen und so würde kein neuer beginnen: das war meine Logik als Fünfjährige. Ich versuchte, den Krieg zu verhindern, indem ich ganz fest daran dachte. Manchmal fühle ich mich heute wie das fünfjährige Mädchen von damals.

Aber heute will ich Verbündete suchen.

Die tastende Suche nach Verbündeten, nach der Sinnhaftigkeit, die auch angesichts der Brüche ihre Gültigkeit bewahrt, ist das, was uns inmitten eines Wandels bleibt, wenn wir nicht in Bewusstlosigkeit verfallen und kollabieren wollen.

Ein Wandel ist beängstigend. Ein Wandel ist kräftezehrend. Beängstigender und kräftezehrender ist nur ein ausbleibender Wandel, das Festhalten an den alten Ordnungen, die fehlenden Entscheidungen. Das haben wir in Belarus, in einem Land, das seit 29 Jahren von ein und demselben Menschen regiert wird, gut gelernt. Wird ein Wandel nicht aktiv vollzogen, bricht er wie von selbst ein und erzeugt noch mehr Chaos und noch mehr Unsicherheiten. Versucht man einen Wandel aufzuhalten, kommt es zu gravierenden Deformationen, die jeglichen Ausweg versperren.

Die letzte Inszenierung, an der ich in Belarus mitarbeitete, war Ein Landarzt von Franz Kafka in der Regie von Jura Dziwakou. Niemals komme ich so nach Hause, sagt der Landarzt am Ende. Die infernalen Pferde haben auch uns alle in Europa aus unserem Alltag herausgerissen. Wo auch immer wir sind, niemals kommen wir in die frühere Realität zurück. Was tun? Jura Dziwakou definierte die Gattung seiner Aufführung als andante – gemessenen Schritts weiter. Es geht darum, die Bewegung und den Wandel zu ermöglichen, für sich und für die anderen, über die Grenzen hinweg, sich der Unausweichlichkeit zu stellen und die Befragungen nicht aufzugeben. Nein, ich bin nicht in der Illusion gefangen, dass wir so Kriege verhindern und Diktatoren stürzen können, aber so dienen wir dem Leben. Wo der Tod droht, ist das vielleicht auch nicht wenig.