Olga Shparaga
Europa der Fürsorge und der Achtsamkeit
Ich habe früher die Idee vertreten und vertrete sie weiterhin, dass »Europa« im normativen Sinne heute, in einer Situation der Globalisierung und der modernen digitalen Technologien, über nationale Grenzen hinweg existiert. Das bedeutet, dass das, was »Europa« heute ausmacht, gerade die Vermittlung europäischer Werte ist. Und diese Werte drücken sich nicht nur im Bekenntnis zu den Grundfreiheiten aus, sondern auch im Kampf gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit, was die Verteilung von wirtschaftlichen Ressourcen, Rechten und Anerkennung betrifft.
Das heißt, »Europa« in einem positiven Sinne ist für mich mit der Möglichkeit verbunden, Werte und Praktiken zu vermitteln, die die Gesellschaften rund um den Globus gewaltfrei, vielfältig, inklusiv und solidarisch machen. Ein solches Europa ist nicht möglich ohne Selbstkritik: an Praktiken der Ausgrenzung; an Hierarchien, einschließlich derjenigen zwischen West- und Osteuropa, die Timothy Garton Ash beschreibt; und nicht ohne eine Kritik an der kolonialen Vergangenheit, an Neoliberalismus und Rassismus.
Meine verschärfte Perspektive nach dem Jahr 2020, nach den größten Protesten in der jüngeren Geschichte meines Landes Belarus (und jetzt unter den 15 größten Protesten der letzten 50 Jahre auf der ganzen Welt) ist die feministische, und sie ist mit einer anderen entscheidenden Hierarchie verbunden, die in demokratischen Ländern nicht ausgerottet wurde: dem Patriarchat. Die Aktivierung und der Aufstieg der Rechtspopulisten in den EU-Ländern sind auch mit dem Vorhandensein dieser Hierarchie verbunden: Sie verteidigen die Rückkehr zu traditionellen Rollen von Männern und Frauen, die Ablehnung sowohl der Rechte von LGBTQ-Personen (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und Queers) wie auch der Gleichstellung der Geschlechter als wichtigster Maßstab für Demokratien. In Belarus des Jahres 2020 war der Kampf gegen den patriarchalen Autoritarismus durch zahlreiche Strategien der Frauensolidarität Ausdruck des Widerstands. Meine Teilnahme daran brachte auch mich im Oktober 2020 ins Gefängnis.
Daraus folgt, dass der Kampf gegen das Patriarchat heute der wichtigste Wegweiser für den Kampf um Demokratie ist, sowohl in demokratischen als auch in autoritären Ländern. Genauer gesagt, sehe ich diesen Kampf als einen Kampf für eine »fürsorgliche Demokratie«(Caring Democracy)in Europa. Dies ist eine Form der Demokratie, die sich nicht auf Marktwerte und nicht nur auf formale Rechte orientiert. Sie ist mit der Forderung verbunden, dass ein Ethos der Gerechtigkeit, das sich auf Fragen der Fairness, der Gleichheit, der Einklagbarkeit individueller Rechte sowie der Durchsetzung und konsequenten abstrakter Prinzipien konzentriert, um ein Ethos der Fürsorge ergänzt werden soll, das sich auf Achtsamkeit, Vertrauen, das individuelle Eingehen auf Bedürfnisse, das Entwickeln differenzierter Erzählweisen und die Entfaltung ganz unterschiedlicher Fürsorgebeziehungen konzentriert. Virginia Held fasst zusammen: »Während die Gerechtigkeit Gleichheit und Freiheit schützt, fördert die Fürsorge soziale Bindungen und Zusammenarbeit.«
Diese Form der Demokratie ist ohne ein Überdenken der Bedeutung und des Stellenwertes von entlohnter und nicht entlohnter Sorgearbeit in Gesellschaften, insbesondere in demokratischen Gesellschaften, nicht möglich. Dies bedeutet eine Umverteilung der Verantwortungen für diese Arbeit und für die fürsorglichen Praktiken innerhalb der Gesellschaften, was dazu führen wird, dass Frauen und Vertreter*innen einer Vielzahl von diskriminierten Gruppen auf der politischen Ebene sichtbar sein und das Verständnis von Politik selbst verändern werden.
Und da, wie ich begonnen habe, Europa heute über Grenzen hinweg existiert, sind diese fürsorglichen Praktiken und die fürsorgliche Demokratie auch in Bezug auf Belarus und die Ukraine notwendig. Sie erfordern Aufmerksamkeit und Achtsamkeit für das, was in unseren Ländern vor sich geht und entsprechendes Wissen; und auch nicht-paternalistische Solidarität (im Falle von Belarus meine ich in diesem Fall seinen pro-demokratischen Teil), das heißt das Ernstnehmen jener Stimmen, Vorschläge, Ideen, mit denen sich Belarus*innen und Ukrainer*innen an Bürger*innen anderer demokratischer Länder wenden. Dann werden die belarussischen politischen Gefangenen – heute sind es 1599, und ihre Zahl hat sich in den vergangenen Jahren nicht verringert, weil einige politische Gefangene freigelassen wurden, aber andere sofort ihren Platz einnahmen, worüber auch im neuen Buch ›Wenn du durch die Hölle gehst, dann geh' weiter!‹ Briefe, Träume, Tagebuchaufzeichnungen und Letzte Worte vor Gericht von Frauen aus belarussischer Haft (Hrsg. von Cordelia Dvorák) – wahrscheinlich an Sichtbarkeit gewinnen. Und die Ukraine wird mit angemessener Hilfe versorgt werden.
Meine Lektüreempfehlung
Dass der Frauenliteratur in der pro-demokratischen Revolution des Jahres 2020 in Belarus eine entscheidende Rolle zukommt, bestätigt das belarussische Verlagsprojekt Pflaŭmbaŭm (Пфляўмбаўм), gegründet von der Literaturnobelpreisträgerin , auf das Eindrucksvollste. Das Projekt agiert im litauischen Exil und hat seinen Sitz in Vilnius. Die Bücher werden auf Belarussisch und Russisch veröffentlicht, also in jenen Sprachen, in denen die Autorinnen schreiben, um dann in Zusammenarbeit mit Verlagen aus aller Welt in andere Sprachen übersetzt zu werden. So ist aus der Anthologie der Dichterinnen (2022, Belarussisch/Russisch) auch eine Broschüre in deutscher Sprache entstanden, in der sieben von 63 Dichterinnen des Bandes vorgestellt werden. Eva Vieznaviec‘ Roman Pa što idzeš, voŭča?,2020 auf Belarussisch publiziert und mit dem Jerzy Giedroyc Literary Award ausgezeichnet, erschien 2023 unter dem Titel Was suchst du, Wolf? (Paul Zsolnay 2023). Neben dem wichtigen Buch Ich tanze von Vika Biran (Pflaŭmbaŭm 2023), von dem zu hoffen ist, dass es eines Tages ins Deutsche übersetzt sein wird, sind die Gedichtbände Tränenfabrik (2009), Kreuzwort (2013) und, wie schon genannt, Musik für die Toten und Auferstandenen (2021, alle edition suhrkamp) höchst empfehlungswert.