Jurko Prochasko
Wir glaubten
Wir glaubten, der Westen sieht uns, sieht alles, er sieht alles besser. Wir glaubten, der Westen liebt uns, hat zumindest Mitleid mit uns und will uns ernsthaft befreien. Wir glaubten, der Westen tut das nicht nur uns zuliebe, sondern auch für sich selbst; er will uns zumindest dabei helfen, dass wir uns selbst von der Tyrannei befreien, dies wenigstens versuchen können; schließlich auch um seiner selbst willen.
Es kam anders.
Wir glaubten lange, der Westen liebt uns nicht und will uns auch nicht, weil wir ihm nicht genügen. Weil er in uns den Anderen sieht, den Fremden, der nicht dazugehört. Wir glaubten, wir müssen nur alles richtigmachen, um die Anerkennung und Liebe des Westens zu verdienen, wie schwierig das auch sein und wie lange es auch brauchen wird. Wir glaubten, der Westen durchschaut uns und sieht uns auch.
Denn wir glaubten: Wir teilen und wollen dasselbe, was der Westen ebenfalls will, was das Wesen des Westens, das Westenwesen ausmacht. Wir glaubten, wir sind nur deswegen ungeliebt, weil es uns nicht gelingt, dies überzeugend zu beweisen, nachzuweisen.
Dann kamen die schweren Prüfungen. Wir glaubten, wir würden der Begeisterung des Westens begegnen, nicht seinem Unwillen, Misstrauen und seiner Angst. Wir glaubten, wenn wir die Vorbehalte nur entkräften, dann gehören wir endlich dazu, dann gehören wir endlich zusammen. Was wir nicht sahen: Es war ausgerechnet die Freiheit, die wir so begehrten, an die wir so sehr glaubten, die aber dem Westen so viel Angst vor uns macht.
Weil der Westen fürchtet, dass unser Verständnis von Freiheit ihm Verderben bringt?
Wir glaubten lange, wir seien nur deshalb ungeliebt, weil wir unser Streben nach Freiheit dem Westen und der Welt gegenüber nicht deutlich genug zum Ausdruck bringen konnten. Außerdem glaubten wir, der Westen würde über alles geliebt, er sei beneidenswert, und alle Welt wolle so sein wie der Westen.
Als wir erwachten, sahen wir jedoch: Vielleicht beneidet die Welt noch den Westen, aber sie hasst ihn auch. Und dieser Hass ist nicht nur der des Ressentiments, sondern auch der Verachtung. Wir glaubten, auch die Welt des Südens will Freiheit. Dann sahen wir, sie will sich alles genauso zurechtlegen, wie es ihr gerade passt: ohne Zusammenhänge zu berücksichtigen oder Regeln zu befolgen, also unverbindlich und beliebig zu reagieren. Wir sahen also, die Welt liebt uns auch deshalb nicht, weil wir noch an die Regeln glauben und an die Freiheit. Und dass wir beides zusammen haben wollen.
Wir glaubten, der Westen liebt wenigstens noch sich selbst. Wir mussten aber einsehen, er verabscheut an uns nicht nur, womit wir ihm imponieren wollten, sondern auch an sich selbst, dass ihm der Sinn für Freiheit abhandengekommen ist. Stattdessen ist er befallen von Lust zur Selbstauflösung, die sich als vermeintliche Selbstrettung tarnt, und von der Lust am Verschwinden, Verlustlust sozusagen – oder Selbst-Schwindsucht.
Da wussten wir: Es gibt den Westen nicht mehr. Oder: Wir sind jetzt der Westen. Der Westen sind jetzt wir.
Mein Lektürefaden für das Kennenlernen unserer Literatur
Ein Wort vorab zu unserer Diskussion. Gott behüte uns davor, Utopien als Ziel und Aufgabe zu verstehen und den Versuch zu unternehmen, sie umsetzen zu wollen. Utopien sind dazu da, unverwirklicht zu bleiben. Sie sind Reste des Wunschs nach dem Paradies.
Natürlich empfehle ich: Lesen Sie die ukrainische Lyrik von heute! Da ist alles drin. Aber lesen Sie diese Gedichte nicht als Pornografie des Schreckens und auch nicht als Lizenz, dass Sie nach der Lektüre gefeit sind und Ihre Schuld abbezahlt ist. Lesen Sie die Lyrik auch nicht als Einschüchterung im Sinne der Warnung »Gott bewahre uns vor solchen Zuständen«, sondern lesen Sie, um mehr von unserer gemeinsamen Conditio humana zu verstehen.
Ich gehe einen Schritt zurück und sage: Lesen Sie die ukrainische Literatur der 20er und 30er Jahre! Da werden Sie alles finden, was eine große Literatur ausmacht, der es wirklich an nichts fehlt: nicht an Kraft und an Ausdruck und an Genie. Aber die ukrainischen und belarussischen Literaturen drohen vernichtet zu werden, sie drohen zu verschwinden für Jahrzehnte, Jahrhunderte, für immer, zusammen mit ihren Schöpfern.
Und dann gehe ich einen weiteren Schritt zurück und empfehle: Lesen Sie die klassische ukrainische und belarussische Literatur! Sie kommt in Mehrzahl in den Übersetzungen (noch) gar nicht vor. Denn es herrscht die Vorstellung, Ukraine und Belarus seien mit ihren Kulturen und Sprachen um 1991 wie aus dem Nichts aufgetaucht. Es lassen sich aber Perspektiven entdecken, wonach es sich um große europäische Kulturen handelt mit allem, was dazu gehört: Renaissance, Barock und Romantik bis hin zum Realismus in der Tradition des Liberalismus von 1848. Dann werden Sie (vielleicht) verstehen, dass diese Literaturen nicht nur eine große historische Tiefe haben, sondern dass wir auch nicht so anders sind und vielleicht gar nichts mehr machen müssen, um als Teil der Weltliteratur anerkannt und zu wahrgenommen zu werden.