Mitte Europas

WAS WIR (NICHT) SEHEN
Wahrnehmungsschranken zwischen Ost und West

Die 2023 mit der Sächsischen Akademie der Künste begonnene Reihe zur »Mitte Europas« wird fortgesetzt. In diesem Jahr kommen Autorinnen und Autoren aus Belarus, der Ukraine, Deutschland und Frankreich zusammen und diskutieren über das, was wir (nicht) sehen - in der Wahrnehmung zwischen West und Ost. Vor zehn Jahren stießen die Maidanproteste das Tor der Ukraine nach Westen auf, und seit zehn Jahren herrscht Krieg. Hat man im Westen die Augen davor verschlossen? Gibt es blinde Flecken zwischen West und Ost? Wie blicken die Gäste aus Belarus und der Ukraine auf den Westen, mit welchen Erwartungen, Hoffnungen, Enttäuschungen? Und hat sich seit Ausbruch des Krieges der Blick des Westens verändert?

Die Beiträge der Autorinnen und Autoren, die am Samstag, den 23. März 2024 im Literaturhaus Leipzig diskutierten, werden hier erstmals vollständig veröffentlicht. Sie können die Statements über das Bücher-Icon abrufen. Mit dabei sind: Marcel Beyer (Dresden), Iryna Herasimovich (Zürich), Steffen Mensching (Rudolstadt), Alexander Kratochvil (München), Kerstin Preiwuß (Leipzig), Jurko Prochasko (L’viv), Olga Shparaga (Minsk/Berlin) und Cécile Wajsbrot (Paris/Berlin).

Die Veranstaltungsreihe ist eine Kooperation der Sächsischen Akademie der Künste und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Literaturhaus Leipzig.

Gefördert von: Der Beauftragten für Kultur und Medien, Goethe-Institut, Börsenverein des Deutschen Buchhandels und Ukrainischem Buchinstitut im Rahmen des Projekts »Austausch zwischen der deutschen und ukrainischen Buch- und Literaturbranche«, sowie von der Stiftung Gottfried Michelmann

Cécile Wajsbrot
Literatur im Exil

Ich war einmal in Belarus – 1995 auf der Durchreise von Berlin nach Vilnius. Bahnhof Grodno … Frauen, die Brot und Wurst zum Verkaufen unter dem Mantel verstecken; ein Mann am Boden – vermutlich besoffen – und jemand, der ihn mit Wasser aus einem Eimer begießt. Szenen wie aus einem Bilderbuch – aber kein Märchenland ...

Ich kenne Belarus nur aus der Literatur. Tschernobyl von Swetlana Alexijewitsch – ein Wort, ein Ort, die Belarus und Ukraine verbinden … in einer gemeinsamen furchtbaren Katastrophe. Die Gedichte von Ales Rasanau – Das dritte Auge. Punktierungen. Die Gedichte von Valzhyna Mort – Musik für die Toten und Auferstandenen. Swetlana Alexijewitsch lebt heute in Berlin. Ales Rasanau lebte in seinen letzten Jahren zumeist als Writer in Residence in Deutschland. Und Valzhyna Mort lebt in Amerika. Eine Literatur im Exil, die von einem verlassenen Land erzählt. Ein Land, von dem wir fast nichts wissen.

Belarus liegt von Frankreich weiter entfernt als von Deutschland. Ein Land, für das die Académie française empfiehlt, den alten Namen Weißrussland zu verwenden. Unter dem Vorwand, den Namen zu »französieren« (eine französische Obsession), ist es nicht auch eine Art Ablehnung des Wunsches, sich aus der russischen Umklammerung zu befreien? »Die weißrussische Sprache ist eine arme Sprache«, sagte schon Lukaschenko im Jahr 1995.

Der Roman Les enfants d’Alendrier von Alhierd Bacharevič war 2018 das erste aus dem Belarussischen ins Französische übersetzte Buch, erschienen im Verlag Le ver à soie in Lausanne – also in der Schweiz, nicht in Frankreich. Ich habe versucht, einen französischen Verlag für Valzhyna Mort zu finden, hatte An Attempt at Genealogy aus dem Englischen ins Französische übersetzt. Wir möchten mehr über sie wissen, so klangen die Antworten – nur ein höfliches, oberflächliches Interesse, aber kein ernsthafter Versuch, tatsächlich mehr über die Dichterin zu erfahren. Ein unbekannter Name aus einem unbekannten Land.

Seltene Bilder sehen wir, geprägt von einer eintönigen Architektur; selten unvertraute Namen hören wir – Lukaschenko, Minsk – zusammen mit Wörtern wie Diktatur, Wälder oder Grenze – so wenig anlockend ... als sei Belarus der einzige Überrest des Sowjetimperiums, als sei die Zeit dort gefroren geblieben.

Ich würde gern mit der Hoffnung auf ein positives Ereignis wie dem Ende der Lukaschenko-Zeit für diese »terra« schließen, nicht mit der Furcht vor »cognita« durch ein negatives Ereignis wie ein Krieg oder einen Anschluss ...

Und endlich mit ein paar Zeilen von Valzhyna Mort:

Have you heard of my motherland?
My motherland is a raw yolk inside a Fabergé egg.
This yolk is what gives gold its color.
Kennen Sie mein Mutterland?
Mein Mutterland ist roher Dotter in einem Fabergé-Ei.
Vom Dotter hat Gold seine Farbe.
Übersetzt von Uljana Wolf

Meine Lektüreempfehlung
Neben den Gedichten von Valzhyna Mort empfehle ich von Swetlana Alexijewitsch Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft (Berlin Verlag 1997). In dem Buch geht es um etwas Unerhörtes, einen Unfall der Zeit, um die unsichtbare Gefahr. Sie müssen Tschernobyl unbedingt lesen, wenn Sie es noch nicht getan haben. Und Sie müssen auch die Dokumentation Das Gebet (arte 2016) anschauen.