Alexander Kratochvil
Was wir (nicht) sehen
Die fehlenden Kenntnisse über die Ukraine hängen mit einer Wahrnehmungslücke zusammen, die aufgrund verschiedener politischer Konstellationen nach dem Ersten Weltkrieg entstand, und nach 1945 die Ukraine zu einem »grauen Fleck« auf der Mental Map Ost- und Westdeutschlands werden ließ, wiederum aus unterschiedlichen politischen Gründen. Die Osteuropawissenschaften trugen zwar seit den 90er Jahren dazu bei, die Lücke zu füllen, doch blieb die Wahrnehmung der Ukraine als eigenständiges Subjekt der europäischen Geschichte lange Zeit eine akademische Nische. Der noch jüngst vorherrschende Blick durch die sogenannte russische Brille in Politik und Medien bewirkte auch in der Slawistik krass gestörte Wahrnehmungen. Dies sagt einiges über das Selbstverständnis eines Fachs, das nach dem Zerfall der Sowjetunion die Chance für eine Neufokussierung kaum nutzte und vor allem in der Literaturwissenschaft seit Jahrzehnten zunehmend Russlandstudien betreibt. Erst seit wenigen Jahren lässt sich im Zuge verschiedener kulturwissenschaftlicher Turns eine kritische Reflexion der russistischen Traditionen in der Slawistik beobachten, zum Beispiel im Blick auf den russisch-nationalistischen oder imperialen Diskurs.
Während die Osteuropageschichte seit vielen Jahren mit einer historisch basierten Ukrainekompetenz über die Fachgrenzen hinaus auch in der interessierten Öffentlichkeit und Politik eine gewisse Resonanz erzielen kann, steht vor allem die slawistische Literaturwissenschaft vor großen Herausforderungen, um sich von ihrem Russland-fokussierten Narrativ zu lösen und der Vielfalt der slawischen Sprachen und Kulturen gerecht zu werden – was auch die institutionelle Ebene mit dem Lehr- und Forschungspersonal betrifft. Hier lässt sich seit dem Beginn des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine ein gewisser Wandel beobachten, kurzfristig mit Vorlesungsreihen oder Seminaren, mit denen auf die aktuelle Situation reagiert wurde, aber langfristiger Wandel wird in der Ostslawistik nur auf der Grundlage einer verstetigten Struktur erfolgen können.
Ähnlich wie in der Slawistik wollte man auch in der deutschsprachigen Verlagslandschaft – mit einigen wenigen Ausnahmen – lange Zeit nichts von ukrainischer Literatur wissen. Dies hängt zum Teil mit fehlender Kompetenz und damit verknüpft mit Desinteresse und mangelnder Empathie oder Mut der Verantwortlichen in den Verlagen zusammen, und natürlich mit »kaufmännischen« Erwägungen und Marketing-Strategien. Und so wundert es nicht, dass außer Suhrkamp kein großer Player ukrainische Literatur im Programm hat. Und das liegt nicht an der ukrainischen Literatur, sondern an deutschen Wahrnehmungsdefiziten und an der langwährenden Ignoranz gegenüber dem eigenen Unwissen. Es sind die kleinen und mittleren Verlage, die seit etwa 15 Jahren wissen wollen, wie die ukrainische Perspektive auf die Ukraine und deren Blick auf ost- und mitteleuropäische Nachbarn aussehen. Dank dieser mutigen Verlagsinitiativen gab es in letzter Zeit einige ukrainische Belletristik – und tatsächlich verursachen die Geschichten, die in diesen Büchern erzählt werden, häufig einen erhellenden »Aha-Effekt« in den Medien und bei den Lesern. Das verdeutlicht, dass Literatur sehr wohl etwas mit Gesellschaft und Politik gemein hat, und macht außerdem das Potenzial der Literatur sichtbar, mit ihrem Geschichten-Erzählen auch Wissen zu tradieren. Es ist höchste Zeit, die vielen aufgeregten und nachdenklichen Geschichten der Ukraine zu Gehör zu bringen. Auch Politik, Politikberatung und sogenannte Think Tanks können durch sie ihr Hintergrundwissen erweitern, Verständnis entwickeln und somit bei Entscheidungen kompetent agieren.
Das ist kein naives Gerede: Literatur entwirft und reflektiert im Modus der Fiktion gesellschaftliche, politische und kulturelle Szenarien. Nicht umsonst lassen sich Technik und Computerwissenschaften seit langem von Science-Fiction-Literatur inspirieren. Für Politik und ihre Beratungsinstanzen sowie Medienvertreter wäre hier ein Blick in russische, ukrainische und belarussische Literatur und Kulturpolitik der letzten Jahrzehnte sehr erhellend. Man würde Konstellationen sehen, die man nicht sehen wollte, und es wäre leichter, sich von gestrigen Verhaltensmustern und Denkblockaden zu befreien.
Meine Lektüreempfehlung
Sofia Andruchowytsch Die Geschichte von Romana (Teil I der Amadoka Trilogie), Die Geschichte von Uljana (Teil II) und Die Geschichte von Sofia (Teil III, alle im Residenz Verlag 2023/24). Besonders zu empfehlen Teil II und III. Außerdem wirklich lesenswert, inspirierend und eigene Denkmuster störend: Oksana Sabuschko Planet Wermut (Literaturverlag Droschl 2012). Darüber hinaus empfehle ich Walerijan Pidmohylnyj Die Stadt (Guggolz Verlag 2022), einen Klassiker der 20er Jahre.