Mitte Europas

Wo liegt die Mitte Europas? Dieser Frage sind nachgegangen: Marcel Beyer, Durs Grünbein, Kerstin Preiwuß, Jurko Prochasko und Cécile Wajsbrot, moderiert von Arnold Bartetzky.

Dokumentiert finden Sie die Veranstaltung vom 29. April 2023 als Aufzeichnung (s.o.). Die Texte von Durs Grünbein, Kerstin Preiwuß, Jurko Prochasko und Cécile Wajsbrot können Sie über das Bibliothekszeichen aufrufen.

Eine Veranstaltung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Sächsischen Akademie der Künste in Kooperation mit dem Literaturhaus Leipzig.
Unterstützt von der Gottfried Michelmann Stiftung.

Podiumsrunde: Marcel Beyer, Durs Grünbein, Kerstin Preiwuß, Jurko Prochasko, Cécile Wajsbrot, Arnold Bartetzky (Moderation)
(c) Carmen Laux

Kerstin Preiwuß
Wo liegt die Mitte Europas?

Mitten gibt es viele, schon, wenn man nur ans Vermessen denkt, wird es schwierig, je nachdem, ob mit oder ohne Inseln. Stanisław Mucha hat alle ihm bekannten bereist, warum schauen wir uns nicht einfach seinen Film Die Mitte an? Wir könnten von hessischen Gartenzwergen in polnische Dörfer und weiter ins Litauische bis in die Ukraine reisen und überall Denkmäler fotografieren. Aber Vorsicht, selbst der Mittelpunkt der EU verschiebt sich gerade wieder, aus dem Landkreis Aschaffenburg um 70 Kilometer weiter auf einen Acker in Gadheim, die ersten Flaggenmasten stehen schon. »Das ist sie angeblich, aber in Wirklichkeit ist sie woanders«, wie bei Celans Geburtshaus, das liegt auch gegenüber dem restaurierten Gebäude, das die Gedenktafel trägt.

Also am besten erst gar nicht hinein ins geopolitische Gefüge, damit wir nicht gleich wieder bei der Curzon-Linie landen, oder, wenn es ein wenig mehr von oben kommen soll, beim Eisernen Vorhang. Die Spalte auf Island fällt einem da ja auch nicht als Erstes ein, als Ort des Thingvellir, des womöglich ältesten Parlaments der Welt.

Wenn es denn sein muss, kann man auch eine KI alle zwischen den europäischen Partnerstädten bestehenden Verbindungen als Linien berechnen lassen und dann auf den Moment ihrer größten Verdichtung setzen. Hier liegt dann die Goldene Mitte, von der ausgehend wir keine Legenden mehr hinzunehmen haben, selbst wenn sie auf Napoleon zurückzuführen sind, der ausgerechnet mal Braunau als Mittelpunkt Europas auserkoren haben soll. Lieber irgendeine Koordinate, wo sich vielleicht gerade der Hund kratzt, von Google Street View zufällig ins Bild gesetzt. Denn wenn ich mich durch YouTube klicke, erfahre ich, dass ich sowieso in der gemäßigten Zone lebe, in der man überall Getreidefelder sieht, und ein Blick auf die Karte genügt, um zu begreifen, dass wir alle Nachbarn sind und uns immer ähnlicher werden. Es ist gut zu erkennen, wie das Heilige Römische Reich zerfällt und sich dann erstmal nicht mehr so richtig viel in der Mitte tut, bevor sie nach dem Ersten Weltkrieg wieder in Bewegung gerät und erst nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ruhiger wird, bis das zerfallende sowjetische Großreich wieder Bewegung in die Karte bringt.

Das Eigentliche sind doch die Ideen. »Europa ist kein Ort, sondern eine Idee«, heißt es; versuchen wir es also damit, es gibt ja einige davon. Der Nabel der Welt. Die gemäßigte Zone. Hochkultur. Abendland. Arkadien. Und kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, die Kresy, die Steppe? Erst da, wo keine Aprikosenbäume mehr wachsen, fängt Russland an, schreibt die ukrainische Dichterin Ljuba Jakymtschuk in ihrem Gedicht Die Aprikosen des Donbas. So kommen wir nicht weiter. Schließlich wurde Europa auch überall hingetragen, war zumindest eine Zeitlang auch auf der Suche nach El Dorado und hat mit Millionen Viren im Gepäck den Ansässigen vor Ort einiges beigebracht. Abschied von El Dorado (Naipaul) ist ein schönes Beispiel europäischer Kultur, eine Insel zu unterwerfen, deren Bewohner zu vernichten und eine »auf Profit zielende Gesellschaft« zu gründen, in der die Menschen zur Ware werden.

Gehen wir es doch mal mythisch an und versuchen wir es mit dem »Nabel der Welt«, derwar schwierig für die Königstochter; zwar gebar sie noch, nachdem der Stier, dem sie Girlanden umgehängt, sie erst entführt und dann unter Platanen oder im Weidendickicht vergewaltigt hatte; aber vielleicht wäre es besser gewesen, wenn nicht. Auf der Suche nach Europa nahmen sich ihre Brüder Land und gründeten Städte, indem sie Kühen folgten und dort, wo diese sich niederließen, so lange aufeinander einschlugen, bis nur noch wenige übrig waren. Europa ist gut zu beweiden, voller Kuhaugen und Kriege, mit welchem fängt man nur an.

Your Values, jetzt wird es schwierig, die Balance zu halten, dass man mal Wind of Change in den Meghalaya Hills a capella vorgesungen bekam, unter dem Foto des Maharadschas, der erst Mussolini und dann Churchill traf, reicht bei Weitem nicht. Auch die Hymne auf den Minenhund und die spontanen Chöre in Metrostationen, die bloße Präsenz von als auch der Umgang mit Musik in Situationen der Not reicht nicht immer, um sich über Angst und Schrecken zu erheben. Gentle World, hier liegt dein blinder Fleck: die fehlende Erkenntnis, »dass die Wahrheit nicht immer unbedingt irgendwo in der Mitte zu suchen ist« (Jurko Prochasko / FAZ, 1.1.2023). Also besser keine Linien, Symbole, Werte mehr. Oder, noch besser, sich andere Symbole suchen, damit wir wieder auf Ideen kommen, ich fange gleich mal eine Liste an:

statt der Ilias als erstem Weltkrieg der Geschichte den Euromajdan,
statt des Völkerschlachtdenkmals Paper Trails und Stolpersteine, den Verein bloodland e.V. zur Aufarbeitung der kontaminierten Landschaft,
die Farbe Gelb im Ginster, in Sonnenblumen und in einer zerstörten Küche,
Tschernobyl als Stern aus der Offenbarung des Johannes,
Przewalski-Pferde in Askanija-Nowa und Unicorns in Uniforms und
ein Wisent aus dem Urwald von Białowieża anstelle eines Stiers aus Kreta,

der Valzhyna Mort in der Ewigen Stadt plötzlich im Weg stand, »this heaviest European mammal, this fantastic animal, its own angel of history, its own monster, its own pope, its own Zeus, beautiful beast at all«. Sein Schnauben mag sie kurz abgelenkt haben von den Listen der namenlosen Toten, die sie mithilfe der englischen Sprache der Welt wieder hinzufügte.

Unter den Platanen oder im Weidendickicht fehlt dem größten Landsäugetier Europas der Platz, ihm, der einst überall auf dem Kontinent bis auf die britischen Inseln verbreitet war und dann ausstarb. Seit 40 000 Jahren an Höhlenwänden zu sehen oder als Skulptur für die Hand gemacht, überlebte der Wisent nur im Wald von Białowieża, dem letzten Urwald mitten in Europa, seit Jahrtausenden sich selbst überlassen, einzig verbliebener Rest jener Flachlandwälder, die einst weite Teile des Kontinents bedeckten. Mittlerweile arbeitet man wieder an seiner Auswilderung und längst gelangten ein Muttertier und zwei jüngere Kühe in einen Wald nahe Canterbury. Allein die Freilassung eines Bullen aus Deutschland, der sich der Herde anschließen soll, verzögert sich aufgrund der Post-Brexit-Bürokratie. Bald gibt es ihn auch wieder in den Niederlanden, in Dänemark, in Frankreich, im Spreewald, Harz oder Pfälzerwald, wobei noch offen ist, ob man die Tiere dort freilässt oder darauf wartet, dass sie von Osten her selbst einwandern.

Vielleicht lässt man also das Messen einfach sein und sucht sein Gleichgewicht stattdessen in den Resten des zu Schützenden von etwas, das man zu schützen hat, und für das man, um es zu wahren, den eigenen blinden Flecken auf den Grund gehen muss. Sein Erhalt ist mit besonderen Herausforderungen verbunden, etwa einer Änderung der Blickrichtung oder einer Abkehr von der gewohnten Fokus-Hintergrund-Projektion. Um zu bestehen, eignet sich die Methode Staffelstab, und am besten übergibt man ihn jenen, die wissen, was es bedeutet, um das zu kämpfen, was man zu schützen hat. Nur bitte keine Denkmäler.

April 2023