Mitte Europas

Wo liegt die Mitte Europas? Dieser Frage sind nachgegangen: Marcel Beyer, Durs Grünbein, Kerstin Preiwuß, Jurko Prochasko und Cécile Wajsbrot, moderiert von Arnold Bartetzky.

Dokumentiert finden Sie die Veranstaltung vom 29. April 2023 als Aufzeichnung (s.o.). Die Texte von Durs Grünbein, Kerstin Preiwuß, Jurko Prochasko und Cécile Wajsbrot können Sie über das Bibliothekszeichen aufrufen.

Eine Veranstaltung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Sächsischen Akademie der Künste in Kooperation mit dem Literaturhaus Leipzig.
Unterstützt von der Gottfried Michelmann Stiftung.

Podiumsrunde: Marcel Beyer, Durs Grünbein, Kerstin Preiwuß, Jurko Prochasko, Cécile Wajsbrot, Arnold Bartetzky (Moderation)
(c) Carmen Laux

Durs Grünbein
Die neue Mitte Europas

Mit der Idee von einer geographischen Mitte ist es so eine Sache. Zum ersten Mal begegnete sie mir in einem phantastischen Roman, den ich als Kind las und der mir damals schon recht unwahrscheinlich erschien und mich doch fesselte, Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde. Merkwürdig wie vieles an diesem Bericht war schon die Route: daß man in einem Geysir auf Island in die Erde einfach so einsteigen konnte und in Italien durch einen Vulkankrater auf der Insel Stromboli wieder herauskam. Ähnlich irreal und nicht ganz ernst zu nehmen kamen mir später auch die Berichte von einem angeblichen Mittelpunkt Europas vor, wie sie immer mal wieder, aber wohl eher als Kuriosum durch die Presse geisterten. Mal wurde dieser im Nordosten Polens vermutet, dann fand man ihn in einem Dorf in Transkarpatien, auf ukrainischer Seite; auch in Tschechien, Bayern oder Belarus wurde er schon verortet. Einmal wurde er gar, und das ließ mich aufhorchen, in der Dresdner Altstadt markiert, an einem Platz unweit der Frauenkirche. Mittlerweile liegt er nun offiziell wieder viel tiefer im Osten, in einem Dorf in Litauen, etwas nördlich von Vilnius, anderen Berechnungen zufolge auch in Estland.

Dieses Wandern des Mittelpunktes erklärt sich natürlich durch die dauernden Grenzverschiebungen in der Geschichte des Kontinents, als Folge der Ausdehnung und des Zerfalls ganzer Reiche, etwa der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, des Dritten Reiches und der Sowjetunion. In seinem Oszillieren schwang aber auch immer die Frage mit, welches Territorium der Name des Kontinents denn eigentlich umschließt, wie seine Abgrenzungen definiert sein sollten. Und hier zeigten sich schnell die politischen Implikationen, bedenkt man den Umstand, daß die Europäische Union (ein bloßer Staatenbund, eine Wirtschaftssphäre mit eigener Sicherheitsgarantie) nie sich mit der im Atlas markierten Fläche deckte. Nach dieser geographischen Einteilung muß man zugeben: »Die Wolga entspringt in Europa«, um einen Buchtitel aus dem Jahre 1943 zu zitieren, Curzio Bericht vom Rußlandfeldzug der Deutschen Wehrmacht.

Hitlers Eroberungspläne, die zum Glück für uns alle gescheitert sind, sahen nicht nur die Neubesiedelung des »Ostraums« bis weit über den Ural hinaus vor, sondern auch ein »Paneuropa« unter nationalsozialistischer Führung.

Wenn nicht alles täuscht, ist gerade wieder einmal ein solcher historischer Moment. Abermals ist die Mitte dabei, sich zu verschieben, aber auch unscharf zu werden. Im Augenblick scheint die neue imaginäre Mitte Europas sich nach Kyjiw verlagert zu haben. In der Ukraine wird zur Zeit mehr Blut für die Ideale Europas vergossen als an irgendeiner anderen Stelle des Kontinents. Erst im Fokus zeigt sich, daß es genau diese Mitte Europas ist, die Präsident Putin bombardieren läßt – jegliche Art von Mitte. Die immer wieder erst auszuhandelnde des Kontinents als stabiles Ost-West-Bündnis, die demokratische Mitte der Gesellschaften seiner Staaten, Europas fragile Mittlerposition in der Welt.

Seit dem 24. Februar 2022 geht ein Beben durch den Kontinent, dessen Schockwellen bis an die äußersten Ränder reichen. Rußlands Krieg gegen die Ukraine hat sich für Europa als eine geopolitische Katastrophe erwiesen. Der schiere Schrecken der Bombardements, die humane Tragödie der Zivilbevölkerung führte anfangs sogar zu einer gewissen Sprachlosigkeit der Politik. Verschiebungen, die sich dann abzeichneten, lagen vor allem in einer unbürokratisch geregelten Flüchtlingshilfe, aber auch in einer engeren strategischen Allianz der indirekt Mitbedrohten. Ehemalige neutrale Staaten wie Schweden und Finnland ersuchen nun um den Beitritt in die NATO. Perspektivisch könnte das eine Chance für ein geeinteres Europa sein und nicht nur der Beginn einer neuen Blockkonfrontation.

Seit mehr als 20 Jahren ist die Russische Föderation unter Putins Führung in Kriege verwickelt, die massenhaft Flucht und Vertreibung zur Folge haben. Millionen Menschen strömen nach Westeuropa, um sich vor Raketenbeschuß und Luftangriffen auf Städte in Sicherheit zu bringen. Mit dem Eingriff in den Syrien-Krieg, bei dem russische Streitkräfte mehr Zivilisten ermordeten als die Terror-Armee IS, und dem Stellvertreterkrieg im Donbas seit 2014 war eine neue Stufe bewaffneter Einmischung in extraterritoriale Konflikte erreicht. Der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 stellt den vorläufigen Höhepunkt dar. Eine besonders schmutzige Art der Kriegführung, bei der vor allem zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Bahnhöfe ins Visier geraten, selbst Atomkraftwerke nicht verschont werden, scheint dabei das Markenzeichen. Dazu gehört auch die Verrohung, die sich in Massakern an Unbewaffneten zeigt, in der Belagerung und Ausräucherung ganzer Städte (Mariupol, Sjewjerodonezk, Bachmut). Das Ergebnis aber ist immer dasselbe, und es ist einkalkuliert: Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten, jede Intervention von außen durch Einschüchterung zu verhindern, notfalls mit der Androhung von Nuklearschlägen.

Wie bei dem deutschen Überfall auf Polen 1939 handelt es sich um einen Krieg ohne Kriegserklärung, aber mit fadenscheiniger Begründung. Hitler sprach von den »Einkreisern« England und Frankreich, denen er mit einer Besetzung Polens zuvorkommen mußte, Putin führt je nach Zielpublikum die Osterweiterung der NATO als Grund für seine »Spezialoperation« an oder die Machtübernahme der Ukraine durch »Nazis« und Kollaborateure des Westens. Der wahre Antrieb war damals wie heute derselbe: eine Politik des Revanchismus und der historischen Revision, Krieg im Namen der Großmachtinteressen einer gekränkten, abgehängten Nation.

Achtung, Europa! möchte man mit dem Titel einer Rede Thomas Manns aus dem Jahr 1936 warnen. Darin wird einem Europa, das mit seiner allzu konzilianten Politik gegenüber Hitlerdeutschland seine Balance zu verlieren drohte, ein Fanatismus vor Augen geführt, der Scham und Zweifel nicht kennt. Und dann kam die berühmte Formel, mit der Thomas Mann, der selbst eine Zeitlang gezögert hatte, sich zum ersten Mal deutlich auf die Seite der Faschismus-Gegner stellte: »Was heute nottäte, wäre ein militanter Humanismus …« – und das war sie, die dringend notwendige Erklärung. Oder in den Worten Gerd Koenens, der als ausgewiesener Kenner den sogenannten Russland-Komplex der Deutschen schon seit langem beobachtet und beschrieben hat: »Aus all diesen Gründen ist Neutralität in diesem Krieg keine Option mehr. Es geht um Entscheidungen, denen wir nicht länger ausweichen können und die uns – oft in betont undiplomatischer Weise – von den Angegriffenen auch abverlangt werden.«

Denn Putins blutiges Abenteuer in der Ukraine hat auch uns in eine Welt der politischen Erpressung hineingerissen, in eine trübe Sphäre der Geschichtsfälschung, der lügenhaften Rhetorik, des verordneten Gedächtnisschwunds. Die Gefahr ist groß, daß wir Europäer uns in der neuen Absurdität einrichten, die uns die Herren im Kreml diktieren. Putin zwingt uns mit seiner Reise in die Vergangenheit ein Leben nach absurden Maßstäben auf, vollkommen unpassend für die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts. Sanktionen statt Ausbau der Handelsnetze, Cyberkrieg statt Diplomatie, Propaganda statt Aufklärung, Aufrüstung, wo Abrüstung längst das Gebot der Stunde war usw. Vom sinnlosesten aller Kriege (»the most senseless war in our history«) sprach ein junger Moskauer Soziologe, Grigori Judin. In ihm zeigt sich die Saat des russischen Nihilismus – nichts anderes verbirgt sich hinter der Ablehnung echter demokratischer Prinzipien – als eine große gähnende Leere, die mit politischen Phrasen und Medienlügen zugekleistert wird.

Der Sinn des Ukrainekrieges steht und fällt mit der Vorstellung davon, was die Herrschaftsform des Putinismus überhaupt ist. Eine vom Geheimdienst gesteuerte Scheinparteien-Demokratie, eine mafiöse Rohstoff-Despotie, ein Zarismus für das 21. Jahrhundert, in dem Soldaten Leibeigene sind und politische Gegner in Straflagern verschwinden wie zu Dostojewskis Zeiten? Dieser Krieg wird geführt, um dem zivilgesellschaftlichen Wandel in Rußland vorzubeugen, den als »Farbenrevolutionen« denunzierten Aufbrüchen in den Nachbarländern Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion das stählerne Grau eines neuen Imperiums entgegenzusetzen. Der Despot nötigt ein ganzes Volk, er verlangt ihm Entscheidungen ab, die es nie hat treffen wollen. Es geht darum, die Macht nach innen zu festigen, die Bevölkerung durch Aktionismus zu hypnotisieren, sie zur Anpassung zu zwingen. Ganz sicher ist der Putinismus eine pathologische Herrschaftsform, der die Russen krank macht, sie in einen moralischen Sumpf hinabzieht. Ein kleiner KGB-Offizier, in den achtziger Jahren in Dresden im Einsatz, hat nun ein Volk von 143 Millionen in sein Verschwörernetz verstrickt …

Einen ganzen Teil meines Lebens habe ich mit diesen Gespenstern verbracht. Für eine Weile schienen sie gebannt, beinah verschwunden zu sein, nun sind sie wieder da und bedrohen die Weltordnung, »mitten im Herzen von Europa«.

April 2023