Jurko Prochasko
Meine Leben in Mitteleuropa
Die Idee von Mitteleuropa hat langlebige Spuren in mir hinterlassen. Diese Spuren machen mehrere Leben aus. Ist es ein Wunder, dass ich bereit war, für jedes Leben im Dienst dieser Idee nur einen Namen zu gebrauchen? Mitteleuropa. Und warum war ich nicht bereit, diesen Namen aufzugeben?
Anfangs sah ich Mitteleuropa in enger Verbindung mit Galizien, unserem Galizien: Relikt und Residuum von Altösterreich, von daher Westen und Europa schlechthin; vor allem aber Reservoir von Ideen und Inhalten. Ich war stolz und glücklich, dass wir in der Ukraine ein unverfälschtes Stück echtes Mitteleuropa besaßen. Das war unser Alibi, unsere Legitimation, unsere Rechtfertigung und, mehr noch, die Grundlage unseres Anspruchs.
Als genuine Erbschaftbefähigte des K.-u.-k.-Vermächtnisses in der westlichen Ukraine verstanden wir uns auch darauf, die östliche Ukraine nach dem Modell von Mitteleuropa zu transformieren und zu reformieren. Darüber hinaus beanspruchten wir Mitteleuropa als Argument, damit die seit 1991 unabhängige Ukraine den gleichen Weg gehen kann wie die sogenannten »klassischen und allgemein anerkannten« mitteleuropäischen Länder: Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien. Warum sollten wir nicht auch das gleiche Recht haben? Und weshalb sollten für uns andere Kategorien gelten, um die Trajektorien des postsowjetischen Raums abzustreifen und die imperialen Ansprüche des scheintoten Imperiums dazu? Das baltische Kunststück gelang uns aber nicht. Wir wurden kein EU-Kandidat. Für uns sah man eine Ostpartnerschaft vor, die implizierte, dass wir genau dort zu verbleiben haben, woraus wir uns doch so leidenschaftlich zu befreien und zu emanzipieren trachteten. Diese Etappe war mit einer großen Enttäuschung verbunden. Diese Enttäuschung ist jetzt vom Tisch.
Doch die »echten« Mitteleuropäer, die zunächst so viel Wert auf ihre besondere Zugehörigkeit zur EU legten, verloren indes schnell das Interesse daran, nachdem das ersehnte Ziel erreicht war. Mit der Zugehörigkeit zum Klub, der allein über das wirkliche, echte Europa bestimmt, verlor für sie die Mitteleuropa-Idee jeglichen Wert. Mitteleuropa: ein Übergangsprojekt mit befristetem Nutzen; ein Mittel zum Zweck und ohne Ziel. Gleichzeitig war zu hören: Das Konzept habe sich überlebt und gehöre jetzt – abgesehen von einem kleinen antiquierten Kreis hoffnungsloser Nostalgiker – ins Archiv der Ideengeschichte.
Da ergriff mich die Lust, die Mitteleuropa-Idee mit neuem Leben zu füllen. Vielleicht, um auch andere zu inspirieren; vielleicht, um der Idee im eigenen endlichen Leben Unsterblichkeit einzuhauchen – gutartiger Proporz vom Bewusstsein des persönlichen imperialen Erbes, gepaart mit der Lust, sich zu emanzipieren. Also sowohl das persönliche Gezeichnet-Sein durch ein vergangenes europäisches Imperium und die eigene nationale Identität in einer Schicksalsgemeinschaft anzuerkennen wie auch das Dazwischen: die freiwillige Nicht-Zugehörigkeit zu jeglichen Großmachtprojekten in West und Ost.
Die Mitte eben. Eine besondere Mitte. Eine so empathische wie verstehende Mitte. Die Mitte als Folge von Vermittlung durch Vermittler, die ausgestattet sind mit der Fähigkeit, unparteiisch zwischen dem Westen und Osten von Europa zu vermitteln. Vermittler, die Empathie nicht mit Identitätsverlust verwechseln. Vermittler zwischen den Weltanschauungen, Ideologien, Lebensweisen. Und, nicht zu vergessen, Vermittler zwischen den unterschiedlichen Arten von Humor. Wahre Mittler und nicht bemitleidenswertes Mittelmaß. Vermittler mit Persönlichkeit, Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl, erworben aus der historisch erlernten oder geerbten Fähigkeit, die geistige Mitte zu schützen und Extremen und Extremismen standzuhalten. Für die Mitteleuropäer im heutigen EU-Europa ist die geistige Mitte und die Gabe zur Vermittlung überlebenswichtig angesichts der Vielzahl konträrer oder widersprüchlicher Interessen, Traditionen und Vorstellungen.
Der neue Mitteleuropäer wurde für mich, in meinem zweiten Leben, ein Europäer der tiefen Einsicht in die existenzielle Notwendigkeit der EU, ausgestattet mit der Fähigkeit, die Lebenslust der Gemeinschaft aufrechtzuerhalten und auszutarieren. Vor dem Hintergrund offensichtlicher Ermüdungserscheinungen in der EU, die zu einem Verfall, wenn nicht zum Verlust des europäischen Eros führen, entdeckte ich eine Hypostase des Mitteleuropäers: Die Wandlung zu einem Menschen, der unmittelbar und existenziell in europäischen Belangen steht, berührt dessen innere Mitte und bestimmt sie neu.
Diese unmittelbare Mitte braucht Europa dringend für die Neubestimmung des Eros. Es ist doch so, dass dem EU-Europa das weiter östlich gelegene und sich nach Zugehörigkeit sehnende Europa – die Ukraine, Moldawien, Belarus – herzlich egal war: ohne europäischen Eros und unempfänglich für seine Aura. Dieses saturierte, instinktlose EU-Europa, an sich selbst müde und bereit zum Aufgeben, verkannte 2013/14 im Euromajdan die Revolution der Würde. Aus meiner Sicht verstand das normative Europa weder seine eigenen Kardinaltugenden noch, dass genau jene Tugenden – die Freiheit, Emanzipation, Pluralität, Solidarität – von der ukrainischen Revolution vorgelebt und getragen wurden.
Für mich war klargeworden: Mitteleuropa ist jetzt die ganze Ukraine. Auf diese ortsunabhängige Freiheit hätte man auch früher kommen können! Begriffe wie Mitteleuropa beziehungsweise Zentraleuropa (Milan Kundera) sind zwar geographisch im osthabsburgischen Mitteleuropa angesiedelt, bergen aber als Idee und Vorstellung ungeheuer kreatives Potenzial. Die Idee von Mitteleuropa aufzugeben, stand für mich außer Frage. Nicht nur wegen ihrer unendlichen, kostbaren Erneuerungsenergie. Schließlich wird diese Idee nicht nur für den Fortbestand der Ukraine dringend benötigt, sondern auch für das neue Europa in statu nascendi.
So kam für mich eine neue, eine goldene Zeit, in der Europa mir völlig exterritorialisiert und reihenweise neuformuliert erscheint: einmal, um die Idee von Mitteleuropa zu revitalisieren; zum anderen, um mit den neuen Konnotationen und Qualitäten die Idee von Europa nutzbringend zu erweitern. Dem verwandt ist eine andere, vergessen geglaubte Tugend des Mitteleuropäers: seine Einsicht in die Notwendigkeit und die Fähigkeit, Komplexitäten und Ambivalenzen zu ertragen und aufrechtzuhalten, ohne in zerstörerische Vereinfachungswut zu verfallen. Diese neue Lesart von Mitteleuropa können wir gut gebrauchen. Doch Achtung! Beide Aspekte bitte keinesfalls verwechseln mit einem Relativismus in Wahrnehmung und Einschätzung von Wahrheit; ebenso wenig mit der Ansicht, dass die Wahrheit eh immer irgendwo in der Mitte liegt. Führten die Verkennung und die Relativierung von Gefahren und Tendenzen bei der Einschätzung des Putinismus seit gut einem Vierteljahrhundert nicht zu allzu dramatischen Entwicklungen?
Womit wir endgültig beim Krieg angelangt sind. Oder anders gesagt: bei den Erkenntnissen, die aus diesem Krieg gewonnen werden können. Klar ist, dass es seit dem dramatischen Aufprall wieder Ost und West gibt. Klar ist auch, dass der Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 begonnen hat, sondern dass er sich lange davor anbahnte. Deutlich geworden ist aber auch, dass nach einem Jahr des Krieges wieder über Mitteleuropa gesprochen wird. Vornehmlich die mitteleuropäischen Gesellschaften des einstigen neuen Europas in der EU stehen bedingungslos und unmissverständlich zur Ukraine, ebenso Großbritannien; während das einstige, sogenannte alte Europa jegliches Ansehen und moralische Führungsrecht zu verlieren drohte: wegen seiner Zögerlichkeit, Unentschlossenheit und wegen seiner Kompromissbereitschaft. Wohl aufgrund der Neigung, allzu unfreiwillig in die Umkehrfalle zu geraten. Mitteleuropa gibt es, mitten in Europa, sogar in seinem selbstausgemachten Kernstück, der EU. Auch hier haben die Mitteleuropäer ihre Schuldigkeit getan, weil sie die Westeuropäer aufmerksam machten.
Womit weitere Tugenden der Mitteleuropäer zutage treten: die Deutungskunst und das Übersetzungsvermögen. Deuter und Übersetzer fanden sich ja auch außerhalb der EU, in der unbenannten Mitte Europas, die sich auf dem Majdan Luft machte. Der Euromajdan 2013/14 war doch schon die Erweiterung Mitteleuropas auf die gesamte Ukraine. Nach der Krim-Annexion im Jahr 2014, der Besetzung des Donbas und schließlich seit dem Krieg gegen die Ukraine haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, wie mühsam die Majdan-Epiphanien zum alten Europa durchdrangen, wie verkehrt sie dort ausgelegt wurden, wie wenig Verständnis dem Geschehen in der Ukraine entgegengebracht wurde; und wie groß und unverbrüchlich demgegenüber die Bereitschaft war, Russland nicht nur zu »verstehen«, sondern weiter mit ihm zu kooperieren – über unsere Köpfe und Leben hinweg. Währenddessen wurden wir zu Mitteleuropäern: auch als Deuter und Übersetzer, die sich darum mühten, dem Westen Russland zu erklären und die eigenen Verblendungen.
Jetzt müssen wir alle Mitteleuropäer werden, eine gemeinsame Mitte finden; zu Mitteln finden, um die Mitte zu finden in diesen düsteren Zeiten. Jetzt wird das Schicksal Mitteleuropas auf den Schlachtfeldern der Ukraine entschieden. Ein Mitteleuropäer ist heute ein jeder, der inmitten europäischer Angelegenheiten lebt und denkt und fühlt, inmitten des europäischen Engagements. Wir werden es brauchen, dieses neu gedachte Mitteleuropa als geeintes Europa – wegen Europa, für Europa schlechthin.
Es ist nun an der Zeit, die Idee von Mitteleuropa exterritorial zu konzipieren – losgelöst von jeglicher Geographie, von örtlicher und räumlicher Gebundenheit. Denn Mitteleuropa kann überall entstehen und bestehen: aus der Balance von Leidenschaft und Handeln. Und Mitteleuropäer kann jeder sein, der für die europäischen Belange einsteht, der den Zweck nicht vom Ziel trennt und der seine geistige Mitte wahrt.
So gesehen ist die Idee von Mitteleuropa nun unsterblich – wie das himmlische Jerusalem, wie Rilkes Engel der Unsichtbarkeit. Oder, um Adam Zagajewski zu paraphrasieren – Mitteleuropa ist überall, wo es willens ist, zu sein.
April 2023