Debates on Europe III-V

Debates in Bucharest, Athens, Belgrade, and Berlin

In light of current tensions, above all in Eastern Europe, writers and scholars from Europe discuss the main challenges of the European project.

In the past year, debates have taken place in Bucharest (III), Athens (IV), and Belgrade (V). The central question was: “How much Europe should there be?” The protagonists of these encounters came together in Berlin at the end of February, 2015, to discuss their positions.

It is a collaboration between the German Academy for Language and Literature and the S. Fischer Foundation, and the Allianz Cultural Foundation.

Silvia Marton
Einige Bemerkungen zum gegenwärtigen Nationalismus, zum Populismus und zur Demokratie (mit einem Fallbeispiel: Ungarn)

Die Frage, was am gegenwärtigen Nationalismus wirklich neu ist, wird heutzutage in Wissenschaft und Politik intensiv diskutiert. Zwei Reden, die der amtierende ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in diesem Jahr gehalten hat (am Nationaltag im März 2014(1) und dann im Juli(2)) illustrieren einige der neuen Entwicklungen, mit denen sich Europa augenblicklich konfrontiert sieht.

Viktor Orbáns Reden und seine Politik belegen jüngere und jüngste Entwicklungen in Europa. Seine Diskursstrategie und seine politischen Interventionen entspringen nicht lediglich momentaner Exzentrik, es sind Elemente eines größeren europäischen Trends. Mit diesem Trend soll ein bestimmter Konsensus über seit 1945 akzeptierte Grundwerte und politische Formen aufgebrochen werden (und diese Grundwerte und Formen der Politik sollen eigentlich ganz abgeschafft werden).

Das erste Element in Viktor Orbáns Reden ist also die Revolte gegen bestimmte allgemein akzeptierte Grundvoraussetzungen des politischen Handelns – eine Revolte gegen den westeuropäischen Nachkriegskonsensus der Institutionen und der verfassungs­rechtlichen Festlegungen. Dieser Konsensus läuft auf einen bestimmten Kodex für das Auftreten von Politikern und das Zustandekommen von Entscheidungen hinaus. Dies ist eine Revolte gegen das, was in der Politik bisher als vernünftig gilt. Orbáns Reden knüpfen allgemein an die Idee an, dass der Mehrheitswille keine Schranken kennen sollte – der Wille einer Mehrheit, die sich nicht nur zahlenmäßig konstituiert (seine »Supermehrheit«), sondern zusätzliche Legitimität aus ethnischen und kulturellen Faktoren zieht.

Zweites Element: Die einzig legitime Regierung ist eine absolute Mehrheit, eine »Supermehrheit«. Die europäische Demokratie­erfahrung gründet auf Koalitionsregierungen, auf Verhandlungen – der Gewinner hat immer nur provisorisch gewonnen. In einem solchen Rahmen ist der politische Gegner ein akzeptierter Gegner, ein Partner bei widersprüchlichen Diskussionen. Es ist deshalb klug, sich gewisser politischer Provokationsgesten und rhetorischer Exzesse zu enthalten; diese sind tabu. Orbán jedoch ist nun seine Supermehrheit gewöhnt, er braucht mit der Opposition nichts mehr zu verhandeln. Die Opposition wird zum inneren Feind, sie wird illegitim. In Orbáns Perspektive sind die Fidesz und er selbst schlicht und einfach die Nation – seit den Wahlen von 2010, bei denen sie eine Supermehrheit erhielten und die Opposition (insbesondere die Sozialisten) für illegitim erklärten. Diese Delegitimierung der Opposition (durch politische Rhetorik, aber auch durch neue Polizeiverordnungen, Verfassungsänderungen usw.) ist für Europa besonders besorgniserregend – sie ist ein »Ende Europas«.

Die Supermehrheit gestattet tief eingreifende und unilaterale (ohne Verhandlungen zustande gekommene) Umwandlungen der Verfassungsstruktur einer liberalen Demokratie. Jede liberale Demokratie operiert mit mehrheitlichen Entscheidungen und mit einer Reihe von verfassungsrechtlichen Grenzen für das, was Mehrheiten durchsetzen können. Mit seiner Supermehrheit konnte Orbán (auch dies ein Novum für die letzten Jahrzehnte des demokratischen Europa) sich gegen diese grundsätzlichen Rahmenbedingungen stellen und sie umformen.

Ein Grund dafür ist Orbáns Hass auf jene Verfassung, die 1989 aus den Verhandlungen mit den Kommunisten hervorging. Der lange Prozess, mit dem dieser aus Verhandlungen hervorgegangene Verfassungsrahmen delegitimiert wurde, gilt ihm – zusammen mit der Delegitimierung der Sozialisten – als die »authentische« Revolution. Orbán delegitimiert die sozialistische Opposition und tut so, als hole er die Veränderungen von 1989 noch einmal in »reiner Form« nach: in der Form des Nationalen. Die Nation hat nun (durch die Supermehrheiten bei den Wahlen) die Sozialisten eliminiert; die Sozialisten sind Feinde der Nation selbst geworden.

Drittes Element: Mit Orbán und ähnlichen nationalistischen Führern sehen wir einen einschneidenden Wandel der Vorstellungen von der Politik. Wir sind wieder im neunzehnten Jahrhundert: Es geht um die Nation und um deren Staat – um die Losung »eine Nation, ein Staat«, wie das dem Ideal der ethnischen Homogenität entspricht. Ein anderes Beispiel aus jüngster Vergangenheit: Laszlo Tokes, ein Mitglied des europäischen Parlaments, reagierte auf das schottische Referendum mit dem Hinweis, die Schotten seien als Nation noch nicht reif für die Unabhängigkeit.(3) Dies im Kontext lebhafter Debatten in Rumänien über die Regionalisierung des Landes und über eine Autonomie der Szekler-Provinzen (des mittelöstlichen Teils von Rumänien). Putin geht in der Ukraine und auf der Krim genauso vor: er schürt den russischen Nationalismus, um Grenzveränderungen herbeizuführen.

Viertes Element: Viktor Orbán behauptet, die einzig angemessene Regierungsform sei eine illiberale Demokratie.(4) Mit seinen eigenen Worten: »Wir sind auf der Suche nach anderen Wegen, als sie die westeuropäischen Dogmen vorschreiben, und wir tun unser Bestes, etwas Neues zu finden und uns unabhängig von diesen Dogmen zu machen – wir suchen eine Form der Organisation des Gemeinwesens, die uns im großen weltweiten Wettbewerb konkurrenzfähig macht. Um dies im Jahre 2010 tun zu können, mussten wir mutig einen Satz aussprechen, der ähnlich wie andere hier gefallene Sätze für die liberale Weltordnung ein Sakrileg ist. Wir mussten offen aussprechen, dass eine Demokratie nicht notwendigerweise liberal sein muss. Wenn etwas nicht liberal ist, kann es trotzdem eine Demokratie sein. Und im Übrigen sollte man deutlich zum Ausdruck bringen, dass Gesellschaften, die auf den liberalen Methoden der Organisation eines Staates beruhen, wahrscheinlich ihre Konkurrenzfähigkeit in der Welt in den folgenden Jahren nicht behaupten können und höchstwahrscheinlich Rückschläge erleiden, falls sie sich nicht reformieren können.« (Rede im Juli 2014)

Im Rahmen dieser Logik aus dem 19. Jahrhundert kommt Orbán zu der Behauptung, dass seit 2008 (dem Jahr der internationalen Finanzkrise) der Wettbewerb zwischen den Nationen fundamentaler Natur ist. Dieses Jahr ist laut Orbán ein ebenso wichtiger Wendepunkt wie die Jahre 1990 oder 1945. Das Wichtigste heutzutage ist laut Orbán »ein Staat, der eine Nation wettbewerbsfähig machen kann«, ein Staat, der »eine erfolgreiche Nation« erzeugt.(5)

Notiz zu den Grenzen Das Nachkriegseuropa brachte es scheinbar fertig, eine kontrafaktische Wirklichkeit zu erzeugen: die Grenzen einfach in Ruhe zu lassen und sie am Ende ganz zu vergessen. Die Schengenzone und die deutsch-französische Grenze sind zwei Beispiele für Grenzen, die niemand mehr wahrnimmt, um die sich niemand mehr schert. Dieses »Vergessen« – das zum innersten Wesen der europäischen Nachkriegszeit gehört – hatte eine einzige Vorbedingung ein: Die Grenzen müssen in Ruhe gelassen werden.

Doch Putin ist davon besessen, Grenzen zu verrücken und an nationale Konturen anzugleichen. Und mit der Annexion der Krim erinnerte sich Osteuropa, ja, ganz Europa auf einmal der Tatsache, dass es nationale Grenzen und Staatsgrenzen tatsächlich gibt. Orbán verkündet, dass eine neue Epoche für Ungarn gekommen ist – etwas, das er in allen seinen öffentlichen Reden der letzten zwei Jahre unermüdlich betont hat. Er gibt einem Historizismus Ausdruck, der Alt und Neu legiert: Die Helden der Vergangenheit und die Ahnen haben uns vorangeführt und der Gegenwart den Weg gezeigt. Die Glorifizierung der alten Helden, der Kampf für die Freiheit und gegen das Ausland, der Wettbewerb zwischen den Nationen: Das sind Topoi des romantisch-revolutionären Vokabulars im 19. Jahrhundert. Der Ausgang der Wahl 2010 wird von Orbán dargestellt als die letzte Errungenschaft eines langen geschichtlichen Ringens seit 1848; diese Wahl steht in einer Linie mit dem Freiheitskampf damals gegen die Habsburger, mit dem Aufstand 1956 und der Befreiung vom Einfluss der Sowjetunion 1990. Heute ist der Feind wieder ein Ausländer. Er trägt keinen ganz eindeutigen Namen, sein Gesicht ist nicht deutlich erkennbar – Globalisierung, Liberalismus, Finanzmärkte, Kapitalimperialismus, Monopole: Das sind die Schlagwörter. Wie in seinen Reden üblich wendet sich Orbán an alle Ungarn (magyarság), nicht lediglich an die Ungarn in Ungarn. »Lasst uns auf der ganzen Welt unsere zerstreute Nation vereinigen«, nun, da die Ungarn endlich nach zwanzigjährigem Kampf eine wahrhaft nationale Verfassung besitzen.(6)

Grenzen nach nationalen Konturen zu verrücken, den Wettbewerb unter souveränen Nationen zu rühmen, ethno-nationalen Gruppen xenophobisch entgegenzutreten – all das gehört zum ureigensten Wesen des »langen neunzehnten Jahrhunderts«.(7)


(1) http://mno.hu/belfold/orban-viktor-unnepi-beszede-1216150.
(2) hhtp://budapestbeacon.com/public-policy/full-text-of-viktor-orbans-speech-at-baile-tusnad-tusnadfurdo-of-26-july-2014.
(3) http://www.hotnews.ro/stiri-politic-18138680-lazlo-tokes-scotia-nu-copt-inca-pentru-independenta-noi-avem-drum-lung-pentru-autonomie.htm.
(4) Hierzu vgl. Vladimir Tismaneanu und Marius Stan, »Illiberal Fantasies: Hungary’s Viktor Orban Embraces Authoritarianism«, http://www.frontpagemag.com/2014/vladimir-tismaneanu-and-marius-stan/illiberal-fantasies-hungarys-viktor-orban-embraces-authoritarianism/.
(5) Rede vom Juli 2014.
(6) Rede vom März 2014.
(7) Wie Eric Hobsbawm es in seiner Trilogie definiert: The Age of Revolution: Europe, 1789–1848 (1962); The Age of Capital: 1848–1875 (1975); The Age of Empire: 1875–1914 (1987).