Mikela Chartoulari
Kultur der Krise – Kulturkrise
In dieser knappen Analyse möchte ich die gegenwärtige Situation in der Kulturlandschaft – gemeint sowohl als civilization als auch als culture – Griechenlands darstellen. Das Land durchlebt seit fünf Jahren eine sich verschärfende Krise und steht an einem Wendepunkt.
Ich werde öffentliche wie private Strukturen, Wirtschaft und Politik einbeziehen, aber nicht die Beschäftigten in der Kulturbranche, die schwere Verluste durch die Wirtschaftskrise hinnehmen müssen und deren Arbeit täglich weiter abgewertet wird, auch nicht das kulturinteressierte Publikum.
Die guten Nachrichten zuerst. Die Krise ließ die Kultur in Griechenland nicht eingehen; im Gegenteil, momentan blüht sie. Der Historiker Antonis Liakos hat es am 19. Oktober 2014 in der Zeitung To Vima auf den Punkt gebracht: »Es ist keine Kulturkrise.«
Mit nur einem Blick kann man eine Vielzahl an kulturellen Aktivitäten feststellen. Es gibt momentan kleinere und größere Theater-, Musik- und Tanzensembles, Lyrikkreise, viele unabhängige Gruppen, die sich versammeln und Veranstaltungen abhalten, ohne Unterstützung, mit begrenzten Mitteln und in irgendwelchen Räumen. Es gibt Autoren, die Seminare in Buchhandlungen anbieten oder Lesereisen durch die Provinz machen. Und vor allem gibt es ein Publikum, das unaufhörlich diskutiert und allen wichtigen Fragen auf den Grund geht.
Liakos drückt es sozialhistorisch aus: »Die Menschen sind zum Subjekt des eigenen Diskurses geworden. Unser Land ist zu einem Parlament geworden, und das Gesagte gefällt der Elite nicht unbedingt.«
Doch hier ist Vorsicht geboten. Das bedeutet nicht, dass die kulturelle Ungleichheit aufgehoben wäre. Denn gleichzeitig vollzieht sich in Griechenland, aber auch in anderen europäischen Staaten, die Abschaffung des Sozialstaates. Eine neue wirtschaftliche und soziale Ungleichheit entsteht, die wiederum zu kultureller Ungleichheit, Diskriminierung und Isolierung Einzelner führt. Die hohe Arbeitslosigkeit, Flüchtlingslager, die Bedrohung durch Rechtsradikale, die Verletzung der Menschenrechte, die Gefährdung der Mittelklasse, die Bildungskrise, die Schwächen unseres Rechtssystems haben der Barbarei ein Tor geöffnet. Die Abschaffung der Buchpreisbindung bedeutet das Ende der kleinen Buchhandlungen. Die Museen können wegen der Kürzungen nicht richtig arbeiten.
In dieser Zeit des Umsturzes, der Austeritätspolitik, der fehlenden Erholung und der entsprechenden Unsicherheit wird die politische Landschaft umstrukturiert, häufig sogar »unter dem Tisch«.
a) Seit 2008 kann man im Bereich der Kulturpolitik zwei neue miteinander verknüpfte und sich gegenseitig beeinflussende Phänomene beobachten.
Das eine ist das rasante Auftauchen des großen Kapitals auf dem Kulturmarkt, auf der Agora, wodurch zwar das Kulturgeschehen aufgewertet wird, aber auch die Kulturlandschaft und der Kulturkanon neugeordnet werden.
Parallel dazu zieht sich der Staat aus der Kulturpolitik zurück. (Heute werden 0,23 % des Staatshaushalts für Kultur ausgegeben). Er gibt das französische Modell der staatlichen Förderung, Unterstützung und Verbreitung der Kultur als gesellschaftliches Anliegen auf und wendet sich dem amerikanischen System der Privatinitiativen und -investitionen zu (Kultur im weiteren Sinne gemeint als Alltagskultur). Das kann man auch in anderen europäischen Ländern beobachten, wie etwa in England oder Portugal, wo sogar die Kultusministerien abgeschafft wurden. Doch im Unterschied zu diesen Ländern sieht der griechische Staat kein Regulativ für die Danaer und ihre Geschenke vor, um Kultur als Gemeingut für die Gesellschaft zu garantieren, er verfügt nicht über die Mittel, um eventuelle Monopolbildungen zu verhindern. Und wir können uns alle gut vorstellen, was solche Förderung für die kulturellen Werte, das hierarchische Gefüge oder kulturell Schwächere bedeutet. Außerdem ist nicht ausgemacht, ob die griechischen Regierungen während der Krise Kultur als soziales Recht verstehen.
Heute gibt es Finanzgruppen, die sich durch gemeinnützige Stiftungen am Kulturwesen beteiligen, wie etwa die Stavros-Niarchos-Stiftung (Sitz auf den Bermuda-Inseln), die Onassis-Stiftung (Sitz in Liechtenstein), die Latsis-Stiftung, die Bodosakis-Stiftung, die NEON von Dimitris Daskalopoulos sowie kleinere Stiftungen, wie die B & M Theocharakis- oder die Michael Cacoyannis-Stiftung. Das sind neue Mäzene, die unabhängig von der staatlichen Bürokratie mit ambitionierten Programmen und gut ausgebildeten Fachkräften in einer modernen und kosmopolitischen Ästhetik agieren. Die Hauptrollen spielen dabei die Onassis- und die Niarchos-Stiftung. Da der Staat untätig bleibt, wollen sie selbst die Kulturpolitik machen. Sie wollen den Staat nicht unterstützen, sondern die Bedingungen der Kulturproduktion und die kulturelle Infrastruktur gestalten, allerdings ohne Steuervorteile, also nicht, um sich finanziell zu entlasten, sondern, um ihr Image aufzubessern. Und beide Stiftungen engagieren sich auf mehreren Ebenen, auf der der Unterhaltung und auf der der Hochkultur.
Einige Beispiele: Die Onassis-Stiftung hat das Kavafis-Archiv erworben und im Kulturzentrum »Stegi Grammaton kai Technon« untergebracht. Im selben Haus trat unlängst das Lateinamerikanische Theater auf mit u. a. einem Stück zur Stadtguerilla und dem bewaffneten Kampf.
Die Niarchos-Stiftung wiederum hat 2009 eine Vereinbarung mit dem Staat über Leistungen in Höhe von 566 Millionen Euro getroffen. Ende 2015 wird ein Kulturpark frei gegeben, in dem eine Stadtbibliothek, die Nationalbibliothek (in einem 22 000 qm großen Haus) sowie die neue Oper untergebracht sein werden.
Die Niarchos-Stiftung hat auch den Träger eines Bibliothekennetzwerks, die Future Library, gegründet. Es soll sowohl staatliche (zuständig das Kultusministerium), als auch städtische (zuständig die jeweilige Stadt) Bibliotheken realisieren, worüber aber nicht der Staat entscheidet. Technisch hochgerüstet, mit gut ausgebildetem Personal werden die Bibliotheken leichter zugänglich. Doch wie? »Von buchorientierten werden sie zu menschenorientierten Bibliotheken.« Sie werden zu Kreativitätsstätten, wo Computer-, Strick-, Chinesisch-, Tonaufnahmekurse usw. angeboten werden. Doch solche Veranstaltungen fördern nicht die Lesekultur oder den Gedankenaustausch.
Diese Angebote sind Teil eines Tauschs. Denn genau diese Konsortien möchten oder haben sich bereits die Nutzung von öffentlichen »Filetgrundstücken« unter besonders günstigen Bedingungen gesichert – sie machen mit anderen Worten ihr Geschäft mit dem Staat. Das Latsis-Konsortium hat die Verwertung der Region um den alten Flughafen von Elliniko für einen extrem günstigen Preis erworben. Das Niarchos-Konsortium wirbt um die Faliro-Bucht; für die Region sind bereits Sportanlagen, Hochwasser- und Küstenschutzkanäle geplant (Kostenschätzung: 340 Millionen Euro). Und das Onassis-Konsortium spekuliert auf Gewinne durch den Umbau der Panepistimiou-Straße im Athener Zentrum (Kostenschätzung: 110 Millionen Euro) nach einem selbstausgeschriebenen Wettbewerb (Rethink Athens). Beide behaupten Infrastrukturprojekte zu sein; wurden jedoch 2014 von der EU nicht finanziert, denn Brüssel hielt beide für Schaufensterprojekte mitten in einer Krisenzeit. Das wirft ein schlechtes Licht auf den griechischen Staat.
Die neue Situation hat die alten Eliten des Kulturgeschehens in eine schwierige Situation gebracht. Beispiele dafür sind das Konzerthaus »Megaron Musikis« sowie das Benaki-Museum. Beide Institutionen waren auf Subventionen angewiesen, die aber aufgrund der Krise und ihrem Management von den jeweiligen Regierungen dramatisch beschnitten wurden. Heute kämpfen die alten Eliten um ein neues Publikum, doch ohne Erfolg, da sie noch nach Lösungen für ihre schwierige Finanzierung und die antiquierten Strukturen suchen und sich einer veralteten Sprache bedienen, verankert in der Dichotomie von hoher und trivialer Kunst. Ein gutes Beispiel dafür: Das Benaki-Museum und sein Manager, der Unternehmer Dinos Martinos, haben noch keine Finanzierung für die Ausstellung über die »Schlacht um Athen« von Dezember 1944 sichern können; dem Observer ist eine Sonderausgabe zum Thema gelungen, nicht aber dem wichtigsten griechischen Museum für zeitgenössische Geschichte.
Auch die ausländischen Kulturinstitute gewinnen an Bedeutung. Besonders aktiv sind das Goethe-Institut, unser Gastgeber sowie das französische Kulturinstitut und seit einiger Zeit auch das dänische.
b) Interessant ist kulturpolitisch auch der Bereich der Antike und des gesamten sogenannten antiken Kulturerbes, das vorerst noch unter staatlicher Kontrolle bleibt.
Hier zeichnet sich eine rückläufige Bewegung ab. Die »Tyrannei der Antike« trat schon immer gegen einen dynamischen, zukunftsgewandten Kulturbezug auf und hat erneut Aufwind trotz der jüngsten Versuche, ihre Bedeutung einzudämmen, wie etwa durch die Regierung von Giorgos Papandreou und die Abfassung des »weißen Buches für die Kultur«.
Wie Ministerpräsident Antonis Samaras persönlich die archäologische Grabung bei Amfipolis feierte, machte deutlich, dass das Problem weniger der Antikenkult ist als die Ideologisierung der Antike, die wieder en vogue ist.
Der politische Missbrauch der Antike ist zurück, und zwar als Ethnozentrismus, der wohl, als das Kultusministerium unter Panos Panagiotopoulos die Reaktivierung der Griechischen Kulturstiftung trotz der immensen Verschuldung ihrer Zweigstellen anordnete, tonangebend war. Die Wiederbelebung der 1992 gegründeten Griechischen Kulturstiftung durch die Ernennung von Christodoulos Giallouridis zum Präsidenten spricht Bände, da Herr Giallouridis Mitglied der rechtsradikalen Organisation »Netzwerk 21« gewesen war. Dieselbe nationalistische Haltung diktierte wohl den Auftrag der Regierung an Amal Alamuddin, die rechtlichen Schritte für die Rückführung der Elgin-Marbles-Skulpturen einzuleiten.
Wir haben es nicht mit einem harmlosen Antikenkult zu tun. Der Staat hat keine ernstzunehmenden Kriterien für die Förderung dieses Kulturerbes. Das zeigt sich etwa dann, wenn die Ausgrabungen und die glorreiche Vergangenheit vergessen werden, sobald die Situation es erfordert. So wurden etwa die Funde, die durch die Bohrungen für die U-Bahn von Thessaloniki ans Licht kamen, sofort wieder vergraben.
c) In den letzten fünf Jahren haben die zuständigen Kultusminister (Samaras, Tzavaras, Panagiotopoulos, Tasoulas) mehrere Versuche unternommen, das Kulturministerium zunächst zu unterminieren und dann zu »erneuern«. Allein diese Tatsache demonstriert, was für Griechenland »Kultur der Krise« bedeutet.
Ich habe in groben Zügen das Fundament, eine Art Teppich, beschrieben, auf dem die Strukturen, die Wirtschaft und die Kulturpolitik im krisengeplagten Griechenland stehen. Doch dieser Teppich hat auch eine Kehrseite. Und er hat Knoten, die »Identitätsverwaltung«, »Nachhaltigkeit«, »Effektivität«, »Allgemeingut« usw. heißen.
Die durch die Krise neu entstandene Realität hat hybride Individuen geschaffen, die sich nicht mehr mit dem veralteten Modell der »Demokratisierung« von Kulturgütern (eine Kulturpolitik, die Hierarchien zwischen Hoch- und Trivialkultur reproduziert) vertragen. Vielmehr verlangen sie nach dem Modell der »kulturellen Demokratie«, die auf das Kulturgeschehen hört und es aufnimmt, unabhängig davon, ob es aus der Akademie oder von der Straße, vom griechischen Bürger oder dem Migranten stammt.
Das hat die öffentliche Verwaltung noch nicht wahrgenommen, wohl aber einige private Träger. So kann man beobachten, wie einige neue Mäzene das Bottom-up als Nachfolge des Top-down zu akzeptieren scheinen, jedoch nicht aus ideologischen, sondern aus strategischen Gründen. Das sieht man etwa bei den Veranstaltungen des Kulturzentrums »Stegi Grammaton kai Technon« der Onassis-Stiftung, wo auch alternative Ideen (vor allem in Theater und in Musik) und ein alternatives Publikum akzeptiert sind.
Die Knoten im Teppich werden durch die hervortretenden Fragen sichtbar:
- Wie wird der Zugang zu den Danaergeschenken sichergestellt? Es ist sicher kein Zufall, dass die Niarchos-Stiftung in der Vereinbarung mit dem Staat eine Klausel eingefügt hat, die jedem einen freien Zugang zum »Kulturpark« gewährt, »unabhängig von seiner Herkunft oder seiner Identität«. Doch im nächsten Augenblick kann es anderswo eine Gesichtskontrolle geben – etwas Ähnliches zeigt sich an der Athener Universität.
- Überlebt die kulturelle Vielfalt, wenn die »Stiftungskultur« dominiert?
- Kann die Austeritätspolitik den Weg zur Kolonialisierung der Kultur durch die neuen Mäzene und ihre weniger kultivierten Unternehmerskreise ebnen?
- Wie kann der eigennützige Missbrauch des Kulturerbes durch Privatträger vermieden werden? Als Beispiel möchte ich das Ressort Costa Navarino im Südwesten von Peloponnes nennen, das seinen Gästen eine Art Bildungsanimation bei den Ausgrabungen bei Messini angeboten hat, als spielte man »Indiana Jones«.
- Inwiefern ist die »Stiftungskultur« ein Allgemeingut?
- Was passiert, wenn etwa die Erhaltungskosten der supermodernen, neuen Nationalbibliothek, die durch die Niarchos-Stiftung bei der ehemaligen Pferderennbahn gebaut wird, das gesamte staatliche Budget allein für die Betriebskosten aufbraucht?
- Wie kann man erklären, dass die Griechische Nationalbibliothek bis zuletzt kein WLAN angeboten hat? Warum steckt ihre Digitalisierung immer noch in den Kinderschuhen, obwohl dafür bereits mehr als eine Million Euro ausgegeben wurde? Woran hakt seit vielen Jahren das Nationale Verzeichnis lieferbarer Bücher? (Es ist komisch und tragisch zugleich, nicht zu wissen, welche Bücher letztes Jahr publiziert wurden.)
- Wie ist das Recht auf Kultur zu verstehen, wenn viele Menschen und ganze Stadtviertel gewissermaßen im Notstand leben, als Opfer der zunehmenden Diskriminierung, der Fremdenfeindlichkeit und der äußersten Armut?
d) Durch die Krise entstehen Zustände, die erstere überleben werden. Das Verhältnis zwischen Kultur und Demokratie muss geklärt werden. In einem Land, dessen Demokratie dringend demokratisiert werden muss, ist das entscheidend, denn die herrschende neoliberale Logik ist ein Nährboden für Kulturdiskriminierung. Hinzu kommt, dass Kultur vom griechischen Staat immer noch als Luxus verstanden wird.
»Kultur kann zu einem Neustart der Gesellschaft und der Wirtschaft beitragen«, so Professor Dominique Wallon von der Universität Nanterre, als ihn die Onassis-Stiftung zu einer Podiumsdiskussion im Kulturzentrum »Stegi Grammaton kai Technon« eingeladen hatte. Das wäre zu schön, doch dafür ist ein Paradigmenwechsel nötig.
Das heißt, eine neue, verantwortungsvolle Rolle für den Staat bietet sich an, nämlich das soziale Vorzeichen im Kulturbetrieb zu sichern. Denn Kultur ist nicht lediglich ein öffentliches Gut, sondern auch ein Grundrecht.