Georges-Arthur Goldschmidt
Deutsch und Französisch angesichts der Realität
Ein Vergleich
Es geht hier nur um die Beschreibung der äußeren Erscheinungsformen der beiden Sprachen, um ihr "Aussehen", welches vielleicht viel mit dem "Sinn" zu tun haben könnte. Jeder Mensch sieht anders aus, so ist es auch mit den Sprachen bestellt, jede drückt anders dasselbe aus. Keine Sprache ist mehr oder weniger Sprache als eine andere; gewisse Sprachen sind nur anders orientiert, jede Sprache ist anders Sprache als alle anderen. Jede wird anders gehört, ihre Tonlage ist jeweils verschieden.
Das Weltbild eines jeden Menschen ist von der Sprache mitbestimmt. Jede Sprache impliziert ein je eigenes "leibliches Empfinden", eine gewisse Position im gesamten Sprachgefüge. Jede Sprache hat ein Gesicht, ein Aussehen, welches sie von den anderen unterscheidet. Das deutsche Sprachbild unterscheidet sich auf den ersten Blick vom französischen. Die Verteilung der Vokale und ihre Tonlage sind völlig anders. Die deutsche Sprache, könnte man sagen, klingt so wie sie ist. Die deutsche Artikulation des Alphabets unterscheidet sich enorm von der des französischen, das sich in dieser Beziehung als weniger zugänglich erweist. Im Deutschen werden, meistens, die Buchstaben so ausgesprochen, wie sie geschrieben werden, im Französischen dagegen ist die Orthographie mehr historisch als phonetisch. Nur wenige Wörter werden so ausgesprochen wie geschrieben. Die französische Orthographie ist vor allem eine historische. Die Wörter betonen ihre geschichtliche Entwicklung mehr als im Deutschen.
Die durch das Edikt von Villers-Cotterets (1539) vollendete Vereinheitlichung der französischen Sprache, anerkannt als allein gültig im politischen wie juristischem Bereich, erbrachte 1635 zuerst die Gründung der Académie française. Im Deutschen war der Impuls zur sprachlichen Kohärenz vor allem religiöser Natur (Luther).
Es gibt aber auch grundlegende Differenzen, die man nicht auf den ersten Blick sieht. Jede Sprache hat ein anderes "Gesicht". Jede Sprache drückt das selbe Weltbild anders aus. Jede Sprache geht die Realität anders an, die deutsche eher aus der Nähe, die französische eher aus der Distanz. Im Deutschen ist man sofort bei der Sache. Beispielsweise weiß man in der Medizin und der Biologie sofort, womit man es zu tun hat. Im Französischen ist die Beziehung zur Körperlichkeit viel indirekter, viel differenzierter, es besteht immer ein Leerraum zwischen der Sache und ihrer Wahrnehmung. Nicht nur ist der französische Wortschatz der Medizin lateinischen oder griechischen Ursprungs, es gilt aber auch die Autorität der Wissenden zu sichern. Man bleibt auf Distanz.
Das so einfache Schulterblatt wird zur omoplate (griechisch), das Schlüsselbein zur clavicule (Latein), ein hémophile ist ein Bluter: ohne Griechisch oder Latein sind solche Wörter unverständlich.
Im Französischen liegt ein gewisser Abstand zwischen dem Ding und seiner Bezeichnung. Oxygène (Sauerstoff) oder hydrogène (Wasserstoff) sind nicht auf den ersten Blick verständlich. Es ist, als ob es im Französischen eine gewisse Pädagogik brauche, um der Sprache wirklich gerecht zu werden. Daher auch die gewollte Anonymität, die Allgemeingültigkeit der französischen Sprache, jeder kann und soll sie lernen. Französisch ist an keine Zugehörigkeit gebunden, es ist sozusagen eine nationale, weltgültige neutrale Sprache.
Man bedenke alleine schon die grundlegenden Unterschiede im Wortbau der Sprachen. Im Deutschen kann man Wörter bilden je nach Bedarf. Aus zwei zusammengesetzten Hauptwörtern kann man im Deutschen einen noch so absurden Begriff bilden (Bankgelüst, Stromwache). Die deutsche Sprache enthält mehr Substantive als gegebene Begriffe.
Es ist eine altbekannte Sache, daß das Deutsche anscheinend Inversionen liebt: die Schublade und le tiroir (die Ziehlade), Lebensgefahr und danger de mort (Todesgefahr), oder auch un nourrisson und ein Säugling usw. Im Französischen sieht man das Kleinkind von oben, es wird ernährt (nourri), im Deutschen säugt es. Das Deutsche zeigt mit Genauigkeit, wie die Dinge sind: Bauchspeicheldrüse (pancréas) oder Vorstandsvorsitzender (président) wo das Französische allusiv oder indirekt nur auf das Gegenständliche verweist: un cadenas (Lateinisch cadena) ist ein Vorhängeschloß, une poubelle (Poubelle war der Name eines Pariser Polizeipräfekten) ein Mülleimer. Selten erlauben die Wörter im Französischen einen direkten Zugang zur Wirklichkeit. Sie stellen jedem Sprecher frei, sich seinen eigenen Weg zum Objekt zu gestalten. Es bleibt für jeden ein Freiraum, innerhalb dessen er sich seinen eigenen Weg bahnt. Der innere Aufbau der französischen Sprache läßt jedem Verständnis Platz, jedoch in einem genau bestimmten Rahmen.
Man könnte das z. B mit der Geschichte der impressionistischen Malerei vergleichen, Monet und Renoir stehen nebeneinander und malen die selbe Landschaft, die beiden Maler sehen das Gleiche völlig anders.
Das Verhältnis zur Räumlichkeit, als Grundlage der Wahrnehmung, wird in beiden Sprachen ganz unterschiedlich ausgedrückt. Die Grundartikulierung des Deutschen beruht auf der Stellung oder der Bewegung im Raum: stehen und stellen, legen und liegen, setzen und sitzen, herauf und hinauf. Die Position innerhalb eines Ganzen wird im Deutschen immer angegeben, ich lege die Mappe auf den Tisch, aber eigentlich kann man sie auch stellen, im Französischen kann ich sie nur mettre
oder poser, ohne daß man wissen kann, ob der Gegenstand liegt oder eben steht. Man braucht es nicht, jeder weiß doch sofort, was zu tun ist. Es ist, als ob das Französische dem Sprechenden mehr zutraut als das Deutsche.
Das Zeitwort "stehen" gibt es nicht, être debout, beschreibt eine Haltung im Raum, die sich sprachlich kaum manifestiert, da sie doch evident ist. Das Deutsche ist eine konkrete Sprache, bei der man immer weiß, wo man steht, eine Sprache der Vertikalität. "Stehen" steht sogar in "verstehen" und reicht bis ins Intimste (der Ständer), wozu man im Französischen erst mal den Bogen spannen muß (bander). Stehen und stellen, setzen und sitzen, legen und liegen bilden die Grundstruktur des sprachlichen Gleichgewichts. Die Stellung und die Gesten des Körpers bestimmen den Sinn des ausgedrückten Wortes oder Satzteils. Vielleicht hat die Sütterlinschrift damit zu tun.
Französisch und Deutsch sehen jeweils die selbe Lebenswelt, wie der Phänomenologie Edmund Husserl sie nennt, ganz anders; die eine Sprache läßt fast systematisch aus, was die andere hervorhebt oder betont. So sagt man einfach, j’entends le bruit des feuilles, wo ich im Deutschen das Rascheln, das Rauschen, das Säuseln, das Sirren der Blätter höre, je nachdem was ich sagen will, so daß der Hörer oder Leser das genau vor den Augen und in den Ohren hat, ohne sich das erst vorstellen zu müssen, genau wie das Französische weder laut (fort) noch leise (faible) hat und auch nicht „fahren“ und viele andere solcher konkret-räumlichen Begriffe, die wahrscheinlich im Laufe der Sprachgeschichte eliminiert worden sind, die natürlich jeder aber sofort wahrnimmt und einsetzt und die zum sous-entendu, zum Understatement der Sprache gehören. Jeder Hörer erkennt sofort seinen eigenen bruit.
Die beiden Sprachen gehen eben dieselbe Realität anders an, das Französische eher historisch als realistisch, so hängt man immer noch das Telefon an seinen Haken: „on raccroche“. Die französische Sprache überläßt dem Sprechenden die äußere Gestaltung der Wahrnehmung.
Die Räumlichkeit, die Stellung, die Bewegung (Akkusativ oder Dativ) werden im Deutschen betont und verdeutlicht, wo sie im Französischen unformuliert bleiben. Im Deutschen ist alles sozusagen in greifbarer Nähe, es ist eine positive, leibverbundene Sprache, in welcher sich eine anscheinend urwüchsige Beziehung zur Realität ausdrückt, wobei wir wieder bei den alten Begriffen des letzten Jahrhunderts angelangt wären, mit den Konsequenzen die man kennt.
Auch die Lautbetonung ist eine ganz andere, das Deutsche situiert die Akzentuierung zwischen 1200 und 3000 Hertz, die deutsche Sprache hört sich von weiter her als die französische. Im Deutschen liegt der Wortakzent auf der zweiten Silbe. Die französische Sprache liegt zwischen 1200 und 2100 Hertz und kennt keinen Kehllaut.
Die Atmung ist in beiden Sprachen sehr verschieden; der Brustkorb wird im Deutschen mehr angestrengt als im Französischem, Goethes Verse
"Im Atmen sind zweierlei Gnaden, Luft einziehen und sich ihrer entladen."
sind im Französischem fast unverständlich, weil ihnen kein entsprechendes Phänomen entspricht.
Im Französischen gibt es auch keine Kehllaute, Französisch wurde zuerst nach dem harmonischem Klangmuster der Touraine modelliert. Die Touraine war das Herz des Königsreichs und tourangeau wurde als Hofsprache gesprochen, die sich nach und nach als Autoritäts- und Verwaltungssprache und auch als Umgangssprache auf das ganze Königreich ausdehnte (Justus Zinzerling).
Das Deutsche aber präsentierte sich oft als die urwüchsige, die wahrhaftige Sprache, im Gegensatz zu anderen Sprachen. Insbesondere das Französische galt als "uneigentlich" und ”unauthentisch“. Man kennt die Auswirkungen solcher Ansichten, die unweigerlich zu den größten Verbrechen der Weltgeschichte (Auschwitz) geführt haben.
Im Französischen gibt es ein Anhalten, wie ein kurzes Zögern vor der rohen Tatsächlichkeit, als müsse das Zu-Sagende noch ein wenig überdacht werden. Schlacht wird zur weniger blutigen bataille (Zweikampf oder Seelenschmerz); es ist, als ob es im Französischen gelte, de sauver les apparences, den Anschein zu wahren. Die französische Sprache ist in dieser Beziehung politischer als das Deutsche, mehr städtisch als ländlich.
Im XVII. Jahrhundert wurde die Sprache Machtinstrument, der Hof, vor allem Malherbe (1555-1628), Vaugelas (1585-1650) fixierten die Hauptstrukturen der öffentlichen Sprache, deren Deutlichkeit und Genauigkeit die innere Vereinheitlichung der Nation beträchtlich förderten.
Die grundlegenden Differenzen orientieren vielleicht die Weltsicht ein wenig anders, so z. B. ist das Böse etwas anderes als le mal. Im Deutschen ist das Böse, das Ungute an sich, immer mit dem Willen zum Schaden verbunden, wo le mal alles zugleich ist: der Schmerz, das Sündhafte, das Nichts, das Schlechte (auch mauvais), das Ungesunde. Le mal ist das Gegenteil von le bien. Le bien ist etwas anderes als le bon, das Gute. Lauter Nuancen, welche die leisen Sinnverschiebungen innerhalb des Sprachbaus reflektieren. Im Französischen ist das Wort "nichts" positiv, („rien" von Latein "res", das Ding); aber "Le rien" ist etwas Inhaltloses, also Neutrales, welches den Gedankenaufbau anders orientiert als das "nichts".
Im Deutschen liegt, wegen der unumgänglichen Genauigkeit des Ausdrucks, ein Anspruch auch auf Totalität. Jedes zusammengesetzte Wort ist genau was es aussagt; daher vielleicht die besondere Betonung des Wahrheitsbegriffs. Die deutsche Sprache erlaubt tatsächlich unerschöpfliche Wortschöpfungen. Dank der Mobilität, z. B. der Präpositionen, kann man sich Wortschatz nach Bedarf erschaffen, was im Französischen dagegen viel seltener ist.
Die Sprachen aber sind auch etwas Leibliches, das einen sinnlich erfaßt, erotisch einbezieht; die Sprachen haben ein Aussehen, eine Gestalt, und so gibt es vielleicht auch Farben für die Sprachen. So ist das Französische eine orangefarbene, ins warm-rötliche verlaufende, ein wenig melancholisch nach Westen gerichtete Nachmittagssprache mit von fernen Hügeln umrandete Landschaft; das Deutsche eher eine Morgensprache, eine blau-grüne, nach Osten gerichtete Frühaufsteher- oder Wanderersprache, deren Wunderbarkeit aber immer auch ihre Einfachheit gewesen ist, eine Gartensprache sozusagen, an der man aber mit der begeisterten Teilnahme eines ganzen Volkes die schlimmsten Verbrechen der europäischen Geschichte begangen hat, eine Sprache, die willentlich verschandelt und mißbraucht wurde, wie vielleicht keine andere sonst.
Die vermeintlich besondere Befähigung der Deutschen zum Ausdruck der Philosophie ist eine besonders hartnäckige Legende, die vor allem von den Nostalgikern der Nazizeit verbreitet wurde. Darüber weiß man in Frankreich zu wenig, was man sich alles mit der deutschen Sprache leisten kann, wie sich die Wörter auseinandersetzen und sogar malträtieren lassen, wie man zu jeder Gelegenheit die Bestandteile der Sprache zum eigenen Gebrauch zurechtlegen und die lieben Philister an der Nase herumführen kann.
Die unerschöpfliche Möglichkeit der Wortschöpfung, die "Wortklauberei" wurde zur Zeit des NS die Quelle der LTI, der lingua tertii imperii, der Sprache des ‚Dritten Reiches‘, mittels welcher das absolute Verbrechen, die Vergasung von Millionen Menschen ermöglicht wurde. Wie wir es vor eigenen Augen sehen, dehnt sich der Genozid durch andere Sprachen ganz anders aus, so daß die Opfer selber zu Täter und Henker werden, wie es Brecht einmal schrieb "der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch".
Gerade für diejenigen, die aus ihrer herrlichen deutschen, für sie als Kinder geliebten, noch unversehrten Muttersprache ausgestoßen wurden, galt es die Menschlichkeit, die Freundlichkeit, die Aufnahmebereitschaft der Französischen Sprache anzunehmen, und sich für sie verantwortlich zu fühlen. Für die aus der deutschen Sprache Verjagten war es eine Aufgabe zu zeigen, daß das Deutsche die herrliche Sprache Luthers und Kafkas geblieben ist und bleiben wird, geschützt und erhalten von der aufnahmebereiten, rettenden französischen Sprache
Wie es Paul Celan in Bremen sagte: "Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen..."
Möchten Sie den Beitrag kommentieren? Schicken Sie uns Ihre Meinung, wir veröffentlichen sie nach redaktioneller Prüfung.
