Ingo Schulze
Unser Merz?
Als Friedrich Merz am 3. Oktober 2025 die Festrede zum Tag der deutschen Einheit in Saarbrücken hielt, war auch der französische Präsident anwesend – und sicherlich gab es im Publikum auch Ostdeutsche. Geredet haben die Ostdeutschen allerdings nicht. Immerhin wurde anerkennend über sie gesprochen. Allerdings wollte Merz »an diesem Tag und an dieser Stelle gleichwohl nur kurz zurückblicken«.
In seinem Rückblick sagte er dann: »Wir haben oft darüber diskutiert, wie stark die Erfahrung auch individueller Zurücksetzung, der Entwertung von Lebensläufen in Ostdeutschland, nachwirkt. Empfindungen, die verständlich sind, Erfahrungen, die wir zu achten haben.«
Wer zum Teufel ist dieses »wir« am Tag der Einheit?
In aller Unschuld demonstriert Merz, wie verständnisvoll ein deutsches »Wir« auf ein deutsches »Nicht-Wir« blickt. Da spielt es schon fast keine Rolle mehr, dass es offensichtlich vor allem Missverständnisse sind, die die Einheit trüben, auch Empfindungen spielen da eine große Rolle, am Ende aber billigt immerhin dieses Wir dem Nicht-Wir Erfahrungen zu.
Ende September, Anfang Oktober vor 35 Jahren war auf der Leipziger Montagsdemonstration der Ruf entstanden: »Wir sind das Volk!« Nach dem 9. November 1989 kam der Slogan hinzu: »Wir sind ein Volk!« Und dann gab es schon bald einen Witz darüber: Sagt der Ostler mit strahlendem Gesicht zum Westler: Wir sind ein Volk! Der Westler überlegt kurz, dann erwidert er: Wir sind auch eins!
Und womöglich hat er dabei genauso sympathisch gelächelt wie Friedrich Merz.
Möchten Sie den Beitrag kommentieren? Schicken Sie uns Ihre Meinung, wir veröffentlichen sie nach redaktioneller Prüfung.
