The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.
Sociologist, Political scientist and Publicist
Born 1/5/1929
Deceased 17/6/2009
Unverwechselbarkeit des Stils verbindet sich bei ihm mit der Triftigkeit des Arguments.
Jury members
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Walter Helmut Fritz, Hans-Martin Gauger, Hartmut von Hentig, Beisitzer Georg Hensel, Ivan Nagel, Lea Ritter-Santini, Guntram Vesper, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger, Ehrenpräsident Dolf Sternberger
Öffentliche Sprache
Der Sigmund-Freund-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung kam unverhofft. Er hat mir Freude bereitet. Daß Jürgen Habermas, der bedeutende und vertraute Zeitgenosse, die Lobrede gehalten hat, gibt der Gelegenheit zusätzliches Gewicht. Beiden, der Deutschen Akademie und dem Lobredner, danke ich von Herzen.
Als die Nachricht von der Verleihung des Preises mich erreichte, galt mein erster Gedanke einer Nebensache: Prosa? Gewiß, ja, das ist die bekannte Form, in der wir, wie der Bourgeois Gentilhomme Molières, immer schon gesprochen haben, ohne es zu wissen. Aber: was sonst? Gibt es etwa auch eine »wissenschaftliche Poesie«? »Beim Neurotiker ist man wie in einer prähistorischen Landschaft, z. B. im Jura. Die großen Saurier tummeln sich noch herum, und die Schachtelhalme sind palmenhoch.« Hans Blumenberg hat uns unlängst an diese »winzige Notiz« in Sigmund Freuds Werk erinnert, aber auch bemerkt, daß Freud eine »hochartistische Prosa« schreibt (und übrigens, wie ich bei erneuter Lektüre aus gegebenem Anlaß bald feststellte, gerne höchst konventionelle Poesie zitiert, Goethe, Schiller, Shakespeare via Schlegel/Tieck, Uhland). Darauf kam mir der ungeratene Stiefsohn des Preispatrons, Theodor W. Adorno, in den Sinn und dessen Singspiel »Der Schatz des Indianer-Joe«:
Auch der Oberrichter Thatcher
hat es sich nicht nehmen lassen,
nur der Joe ist nicht gefangen.
Schade, daß Adornos Thatcher ein »er« ist und auch sonst ganz anders: »Es handelt sich nicht um den Genuß des Augenblicks, sondern um den Ernst des Lebens.« Solche Sentenzen können den beruhigen, der mit dem Namen Thatcher eher Guizots Genuß des Augenblicks verbindet: Enrichissez-vous, messieurs! Indes, wenn das alles schon Poesie ist, Wissenschaft ist es wohl nicht. (Auch Wolf Lepenies hatte wohl andere Adorno-Texte im Sinn, als er von »in Musik gesetztem Weber« – Max, um Mißverständnissen vorzubeugen – sprach.) So erinnerte ich mich an Heinrich Popitz, den Unbekannten unter den bedeutenden Theoretikern der deutschen Nachkriegssoziologie. Er liebt nicht nur die äußerste, beinahe schon lyrische Konzentration auf den Traktat von 92 Seiten, sondern summiert diesen auch noch (hier ist die Rede von der »Normativen Konstruktion von Gesellschaft«) für seine Freunde:
In der Erkenntnis weitem Zelt
Durchforschest Du die Zeitenwelt
Und suchest nach dem Immer-Gleichen
Willst noch den kleinsten Glimmer eichen
– und find‘st doch nur die Fabelnorm
in Deiner eignen Nabelform.
Wer braucht da noch Wälzer über Struktur und Strukturalismus? Mir liegt bei der heutigen Gelegenheit ein anderes Stück Popitzscher wissenschaftlicher Poesie noch näher:
Im heimatlichen Schollenreich
Bleibst ewig Du ein Rollenscheich.
Sie haben ja einen Menschen geehrt, der zuerst in der Theorie (im Homo Sociologicus, dessen Kernthese mir allerdings heute Kummer macht) und dann in der Praxis Rollenscheichtümer gerne verlassen hat. Dazu gehörte am Ende sogar das heimatliche Schollenreich. Für die Sprache hat das schwierige Folgen. Es verwirrt, verkürzt und vermischt. Die Frage, in welcher Sprache ich träume, kann ich nicht beantworten. Freud mag dazu eine Deutung nahelegen, aber meine Träume spielen sich sozusagen in Esperanto ab, in einer beliebig übersetzbaren Sprache, einem Sprachkorb von der Art des Währungskorbes Ecu. Das ist vielleicht ein Teil der Verwirrung.
Bedenklicher noch ist die Rückwirkung der Zweisprachigkeit auf das Denken, das doch ganz an Sprache gebunden bleibt. Da es vollkommene, also kreative und schrankenlose Zweisprachigkeit wohl nicht gibt, gerät man als heimatloser Sprachwerker in Gefahr, die Gedanken auf das zu reduzieren, was man in Worte fassen kann, und zwar in beiden Sprachen. Manchmal, bei der Übersetzung eigener Schriften, nehme ich mir die Freiheit, Sätze auszulassen, hinzuzufügen, zu verändern. Das bereitet diebisches Vergnügen. Aber eben: »diebisch«, in irgendeinem Sinne nicht ganz erlaubt, sogar strafwürdig. Oft macht die Disziplin der Zweisprachigkeit mir Spaß; manchmal empfinde ich sie als Grenze. Das ist mit Verkürzung gemeint.
Am schlimmsten jedoch ist die Vermischung. Als ein junger Leser meiner Reisen nach innen und außen kürzlich zu mir sagte, »dafür braucht man ja ein Englischlexikon«, war ich entsetzt. Ich nahm mir das Buch noch einmal vor und fand in der Tat scheinbar ganz einfache Aussagen wie die über den »institutionalisierten Grenzgang« derer, »die rittlings auf der Grenze von Politik und Wissenschaft sitzen, der straddlers, eben der in and outs«. Da ist sogar noch zweifelhaft, ob Wörterbücher viel hergeben. Eher kam mir das schauderhafte Kauderwelsch des Briefwechsels zwischen Marx und Engels in den Sinn. »Lieber Frederick«, schrieb Charlie am 1.2.1865, »die englischen Brocken in meiner Epistel mußt Du damit entschuldigen, daß gestern sitting of the council war, dauernd bis one o’clock.« Sitting of the Council? Das ist schon beinahe Lübke-Englisch. Wie dem auch sei, ich hatte mir vorgenommen, derlei zu vermeiden, und zwar vor allem aus einem Grund.
Sprache hat Adressaten, und zwar sehr verschiedene je nach Absicht, Situation und Bedingung. Manchmal gilt sie einem, einer Einzelnen. Die Sprache der Intimität besteht aus allerlei Gesten und Signalen, die der Worte kaum bedürfen, und wenn es zu Worten kommt, dann sind diese, seien sie Liebesergüsse oder Schimpfkanonaden, nicht unbedingt erbaulich. Um wissenschaftliche Prosa handelt es sich dabei jedenfalls nicht.
Manchmal gilt Sprache einer Gruppe. Sie symbolisiert die Gruppe, bildet sie vielleicht auch, ist jedenfalls vornehmlich in ihr verständlich. Solche Gruppensprachen können ihren eigenen Charme haben. Richard Hoggarts Buch The Uses of Literacy hat die Kultur der englischen Arbeiterklasse (die es heute so nicht mehr gibt) an ihrer Sprache festgemacht. Deutsche Regionalkulturen – »Dialekte« – haben ihre unbestreitbare Bedeutung, die indes bei den allzu bewußten, überdies meist in München oder Hamburg akademisch graduierten Schwaben und Rheinländern der 80er Jahre nicht mehr ganz so plausibel klingt wie bei Theodor Heuss und Konrad Adenauer.
Nicht alle Sprachgruppen sind in diesem Sinne naturwüchsig. Als Kinder haben wir uns »heimlich« verständigt, indem wir an die Stelle des Anfangskonsonanten aller Wörter ein q gesetzt haben: quein quater quist quoof. Mein Vater? Dein Vater? Es kam nicht darauf an; die Sprache sollte Zugehörigkeit mehr als Bedeutung kundtun. Ich will nicht sagen, daß die Sprachen wissenschaftlicher Disziplinen in dieselbe Kategorie gehören. Nicht alles läßt sich wirklich einfach sagen. Auch ist jeder Jargon eine Art Kurzschrift, vielmehr Kürzelsprache, die es erübrigt, immer neue Definitionen und Kontexterklärungen mitzuliefern. Doch ist ein bißchen Kinderei oft unübersehbar, der Wunsch dazuzugehören und als zugehörig erkennbar zu sein, der andere Wunsch, Grenzen zu ziehen und andere, vor allem aus der Alltags- und Lebenswelt, auszuschließen. Die interviewte Krankenschwester, die »selbst der beste Soziologe« ist, weil sie Zusammenhänge sieht, ist dann eben kein Soziologe; denn von Funktionalismus oder Systemtheorie hat sie nie etwas gehört. Wer demgegenüber eine öffentliche Sprache pflegt, begibt sich schon dadurch an den Rand der scientific Community (das fremde Wort ist Thomas Kuhns Schuld, nicht meine). Er bedeutet den Kollegen in ihrem protektionistischen Jargon, daß er den Freihandel der Sprache vorzieht. Das mag zu wertend gesagt sein. Es ist auch nur ein Aspekt der Bevorzugung der öffentlichen Sprache. Wer sie schreibt und spricht, sagt auch, daß er sich zwar gerne mit seinen Fachkollegen unterhält, aber ein weiteres Publikum im Sinn hat, jene aufgeschlossene, intelligente Öffentlichkeit, die uns Intellektuellen für immer vorschweben wird. Öffentliche Sprache bricht mit allerlei Gruppengrenzen. Vielleicht geht dabei etwas verloren. Esoterisch zu sein ist eine hohe Qualität. Möglicherweise ist sogar alle Wissenschaft in ihrem Kern esoterisch. Wenn das so sein sollte, dann schreibe ich nicht »wissenschaftliche Prosa«, sondern nur Prosa, eben öffentliche Sprache. Darf ich hoffen, daß die Jury der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mir dennoch den Preis nicht wieder entzieht, den ich so dankbar entgegengenommen habe?