Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Peter Gülke

Musicologist and conductor
Born 29/4/1934
Member since 1997

Peter Gülke, der in seinen musiktheoretischen Büchern und Aufsätzen zum Anhören von Musik ein tieferes Verständnis fordert, im Biographischen wie im Ästhetischen...

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Norbert Miller, Ivan Nagel, Beisitzer Iso Camartin, Eckhard Heftrich, Hans Wollschläger

Laudatory Address by Fritz Reckow
Musicologist, born 1940

Ratio des Irrationalen

Herr Präsident, lieber Peter Gülke, meine Damen und Herren,
wer zum ersten Mal mit der ehrenvollen, aber auch ein wenig beklemmenden Aufgabe betraut ist, einen Sigmund-Freud-Preisträger und sein Œuvre in einer Laudatio öffentlich vorzustellen, der erinnert sich gern des bewährten rhetorischen Brauchs, für den Einstieg ein Zitat zu wählen. Denn ein Zitat vermag nicht nur den Eindruck von Belesenheit zu vermitteln, sondern enthebt auch weitgehend der Anstrengung, sich eine eigene Pointe auszudenken. Auch kann man so die Verantwortung für die Exordialpointe im Bedarfsfälle auf deren eigentlichen Urheber abwälzen: man kann sich mit Anstand daran reiben und auch wieder davon distanzieren.
In meinem Falle handelt es sich sogar um ein Zitat »zweiten Grades«, nämlich um die lakonische – und auf Anhieb zweifellos enttäuschende – Quintessenz einer Überlegung Alexander Berrsches, die Peter Gülke vor wenigen Jahren seiner Schubert-Monographie mottoartig vorangestellt hat: »Es geht nicht«.
Es dürfte im Kontext dieser Preisverleihung nicht schwerfallen, zu erraten, was nicht »gehen« soll: die Rede ist vom angemessenen oder, etwas hochtrabend formuliert, vom kongenialen Schreiben über Musik. Nun könnte man freilich einwenden: wer eine derart defaitistische Behauptung an den Beginn ausgerechnet der wohl nachdenklichsten, eindringendsten und stimulierendsten Schubert-Monographie stellt, die wir haben, setzt sich fast zwangsläufig dem Verdacht der Koketterie aus. Denn es ist ja – allem Anschein nach – dennoch »gegangen«: das Buch liegt vor, und ich kenne niemanden, der es nicht als einen Glücksfall betrachten würde.
Trotzdem muß ich, wenn auch zaghaft und keineswegs erfreut, Peter Gülke recht geben. Und dies nicht nur wegen der bekannten prinzipiellen Schwierigkeit, mit schieren Worten überhaupt etwas von der wirkenden Substanz der sprachlosen Kunst der Musik adäquat zu fassen und nachvollziehbar zu vermitteln. Wer die besonderen Verdienste des Autors Peter Gülke verdeutlichen will, muß darüber hinaus noch an eine weitere, gleichfalls recht spezifische Schwierigkeit denken: er muß auch an das verbreitete Mißtrauen erinnern, dem das Schreiben gerade über Musik zumal seit der Aufklärung ausgesetzt ist. Zugespitzt formuliert: die bereitwillige Unterwerfung unter die Offenbarungen der »Naturerscheinung« des Genies einerseits und das anmaßende Vertrauen in die Kompetenz der eigenen emotionalen »Natürlichkeit« anderseits haben das beobachtende, analysierende, eindringende Schreiben über Musik – bis heute – alles andere als begünstigt. Es steht seitdem eher im Ruch der Entbehrlichkeit wenn nicht sogar der Schädlichkeit für einen wahrhaft »authentischen« Zugang zur erklingenden Musik – für einen Zugang, der in unmittelbarer Ergriffenheit kulminieren soll und so etwas wie bedingungslose Hingabe voraussetzt: für einen Zugang also, der nach landläufiger Vorstellung durch musikgeschichtliches Sachwissen oder gar durch kompositionsgeschichtliches Problembewußtsein eher gestört und vom »Eigentlichen« abgelenkt als intensiviert wird. Das angemessene Schreiben über Musik »geht« nicht nur nicht – oder nur sehr schwer –, sondern es scheint auch überflüssig zu sein.
Angesichts dieser etwas bizarren Sachlage unterstelle ich der Jury, daß sie Peter Gülke gleich für ein ganzes Bündel konvergierender Verdienste auszeichnen möchte. Er soll wohl, so vermute ich, zunächst – und vor allem – für eine Sprachgewalt gefeiert werden, die vor den strengen Darmstädter Maßstäben für gelungene wissenschaftliche Prosa im allgemeinen zu bestehen vermag, und die auch vor den fast entmutigend hohen Ansprüchen der Musik an verbale Sensibilität und Phantasie, Treffsicherheit und Diskretion im besonderen niemals zurückgewichen ist.
Zu preisen ist er aber wohl auch dafür, daß er mit seinen Schriften und Vorträgen signifikant dazu beigetragen hat, daß weit über das Fach der Musikwissenschaft hinaus über Musik nicht allein auf begeisterte, sondern auch auf intelligente Weise nachgedacht, geredet und gestritten werden kann – und dies trotz der eingewurzelten Vorbehalte gegen die sogenannten »Verbalisierungsversuche« von Musik, die ja angeblich für sich allein schon hinreichend deutlich zum Herzen spricht. Zu preisen ist Peter Gülke für ein Œuvre, das zwingend – und lesbar – erwiesen hat, daß und wie auch gegenüber der Musik die unerbittliche Anstrengung des Begriffs und die entsagungsvolle Rekonstruktion der Geschichte lohnt, daß dadurch nicht allein Wissen vermehrt und Einsicht vertieft, sondern auch das Hören und Genießen selbst affiziert, verändert und bereichert werden – mögen die verbalen Resultate angesichts der Unausschöpflichkeit und Unabschließbarkeit der Kunstwerke letztlich auch noch so fragmentarisch und vorläufig ausfallen. Denn gerade das überlegte Wort, der nachdenkliche Austausch verfeinert die Unterscheidungsfähigkeit, verwandelt dumpfen Genuß in aufmerksame Freude und vermittelt jenes wache Gespür, das erst so recht in die Lage versetzt, neugierig hinzuhören oder wie elektrisiert aufzuhorchen, also eine gelungene musikalische Formulierung auch als gelungene zu erfahren, Steigerung als gestaltete Steigerung, Balance als hergestellte Balance, ein Zitat als (in der Regel) geistvolle Inbeziehungsetzung, eine Auslassung als bewußte Vermeidung, einen Verstoß als gewollte Störung, kurz: das Besondere überhaupt erst als Besonderes wahrzunehmen und zu verarbeiten.
Insofern ist auch das lapidare Zitat alles andere als die listige Vorbereitung eines Rückzugs – so verständlich und ehrenhaft er wäre –, weit eher jedenfalls der notwendige Hinweis auf ein drängendes Problem. Gerade weil es nicht zu »gehen« scheint, so steht bei Peter Gülke zwischen allen Zeilen zu lesen, muß es immer wieder neu versucht – immer wieder neu riskiert – werden. Denn in der prinzipiellen Unübersetzbarkeit, in der Unvertretbarkeit der Musik liegt ja nicht eine abweisende Barriere, sondern ein herausfordernder Reiz, liegt – kurz und ein wenig sentimental gesagt – das singuläre Geschenk der Musik, an das Peter Gülke als Autor wie als Dirigent in immer neuen Anläufen heranzufuhren sucht. Ein Geschenk, dessen Faszination gerade darin besteht, daß es gegenwärtig und unerreichbar zugleich ist, daß es sich verbaler Annäherung weder gänzlich entzieht noch gänzlich erschließt. Diese beunruhigende Ambivalenz indes bekräftigt nur um so nachhaltiger die Notwendigkeit kategorialer Klärung, begrifflicher Unterscheidung und behutsamer sprachlicher Einkreisung. Und sie definiert damit zugleich auch die Ansprüche an Kompetenz und Delicatesse, an die Hartnäckigkeit, aber auch an die Bescheidenheit dessen, der solches unternimmt. Denn, so Peter Gülke ohne den geringsten Anflug von Resignation, »große Kunst ist allemal ›klüger‹ als ihre Exegeten«.
Das wissenschaftliche Œuvre von Peter Gülke ist zu weitgefächert, als daß es sinnvoll auf irgend einen herausragenden »Punkt« gebracht werden könnte. Historisch erstreckt es sich vom frühen Mittelalter bis in die unmittelbare Gegenwart, thematisch von der Quellenstudie über paläographische, analytische, aufführungspraktische, terminologische, ästhetische, soziologische Fragestellungen bis hin zur Edition und Biographie. Neben dem Fachtext für wenige Spezialisten steht die – in ihrem Genre keineswegs minder anspruchsvolle – Konzerteinführung, neben der musikgeschichtlichen Detailstudie die ausgreifende Synthese, neben der analytischen Versenkung ins Werk die Frage nach dessen sozialer Bedingtheit, politischer Signifikanz und ideologischer Gefährdung, neben dem Ausloten der Vergangenheit die Reflexion über die eigene gegenwärtige Rolle als Musikwissenschaftler, Dirigent und Zeitzeuge.
Wenn trotzdem eine besonders preiswürdige Tugend des Autors herausgehoben werden soll, so möchte ich die in unserem Fach nicht eben verbreitete Fähigkeit erwähnen, die komplexe Musikgeschichte nach all den sozialen, ideologischen und poietischen Faktoren nicht nur subtil auseinanderzufalten, sondern aus der Analyse heraus gezielt auch wieder jene Zusammenhänge zu rekonstruieren, die aus heutiger Sicht als symptomatisch wenn nicht konstitutiv erkannt werden können. Es ist die produktive Beziehung zwischen den unterschiedlichsten Schichten und Faktoren, um die sich Peter Gülke bemüht, und die sich als Spannung, als Konflikt, als ungelöstes Vermittlungsproblem oder auch als glückliche Fügung erweisen kann – ich erwähne zum Beispiel das Spannungsverhältnis zwischen periodisch regelmäßiger Versstruktur und zäsurüberspielend kontrapunktischem Fluß in der Chanson des späten Mittelalters, an dem Gülke eine raffiniert bewältigte Formenvielfalt veranschaulicht, ich nenne den »Widerspruch im System«, den Gülke am Verhältnis von langsamer Einleitung und raschem Sonatensatz bei Beethoven herausarbeitet und als bewußt einschreitende Maßnahme gegen den »konventionellen Selbstlauf« der Themen erkennt, ich denke an die makaber »gute Ehe von totalitärem Grauen und theatralischer Perfektion« in Verdis Aida, deren »denunzierende Musik« letztlich doch außerstande sei, auch noch »das Motiv der kritischen Distanzierung, die Unterscheidung von Gegenstand und Standpunkt mitzuliefern«, oder an die »mitkomponierten Barrieren in Schostakowitschs Musik«, die – um Peter Gülke ein weiteres Mal zu Wort kommen zu lassen – auf die Verordnungen des Stalin-Staates mit ihrer »eigenen Schändung« reagiert.
Dergleichen spannungsreiche Beziehungen sind weder beliebig ausgedacht noch mit einem unstatthaften Verbindlichkeitsanspruch beschwert. Es sind wohlbegründete Interpretations-Angebote, die ganz unverhoffte Perspektiven eröffnen können und ebenso selbstverständlich zum Weiterdenken, zu Gespräch und Widerspruch einladen, wie die Kunstwerke ihrerseits unausschöpfbar sind. Und es sei mir an dieser Stelle gestattet, beim Stichwort von ›Gespräch‹ und ›Widerspruch‹ auch den Namen Dorothea Gülke zu nennen, um damit wenigstens einen Abglanz des Preises auch auf die kritisch inspirierende Gesprächspartnerin und vielfache Ko-Autorin zu lenken.
So wenig in einer Laudatio die Verdienste des Preisträgers pedantisch aufgelistet werden sollen, so wenig darf doch zum Schluß die intellektuelle Risikofreudigkeit übergangen werden, mit der Peter Gülke auch über sich selbst spricht, die bohrende Intensität, mit der er auch das persönliche Ergriffensein durch Musik zum Thema macht, um auf dem Wege über das eigene Verhältnis zur Musik zugleich etwas über sich selbst zu erfahren, denn: »Erkundung von Kunst ist immer zugleich Selbsterkundung dessen, der sie betreibt«. Durch Lektüre nachzuvollziehen, wie diese Selbsterkundung im einzelnen geschieht und gelingt, wie aus persönlicher Beobachtung und Überlegung Einsichten erwachsen, über deren weiterreichende Verbindlichkeit sich zumindest nachzudenken lohnt, diese Anstrengung freilich kann mit einer bloßen Laudatio gewiß niemandem abgenommen werden.
Jedenfalls aber hat Peter Gülke scharfsinnig und behutsam wie wenige Autoren demonstriert, daß der Respekt vor dem Irrationalen keineswegs zur Kapitulation vor dem Irrationalen zu fuhren braucht. Er hat immer wieder veranschaulicht, wie noch das Ergreifende und Überwältigende einer Komposition letztlich der planenden, konstruierenden und beziehenden Intelligenz des Komponisten zu danken ist. Und er hat wie ein »denkender Musiker« des aufgeklärten 18. Jahrhunderts dafür gesorgt, daß man sich – ich bediene mich einer eindrücklichen Formulierung Karl Mannheims – auf das Argument des »Irrationalen« nicht schon dort zurückziehen kann, »wo de jure noch die Klarheit und Herbheit des Verstandes walten muß«, und wo, so möchte ich unbescheiden und vielleicht auch ein wenig undeutsch schließen, zugleich auch das Vergnügen des Verstandes walten darf. Herzlichen Glückwunsch und herzlichen Dank an Peter Gülke.