The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.
ethnopsychoanalyst
Born 20/9/1916
Deceased 18/5/2009
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... dem Citoyen, der in Wort und Schrift für eine mutigere Gesellschaft eintritt, ohne Illusionen, doch nicht ohne Genuß.
Jury members
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Peter Hamm, Norbert Miller, Beisitzer Giuseppe Bevilacqua, Kurt Flasch, Adolf Muschg, Erica Pedretti, Klaus Reichert
Ich danke der Akademie, die mir den Sigmund-Freud-Preis verliehen hat, und ich danke auch für Fritz Morgenthaler und Goldy Parin-Matthèy, die Mitautoren unserer beiden gewichtigsten Bücher.(1) In ihrem Namen kann ich ohne zu zögern danken, da ich weiß, wie sie auf die Ehrung reagiert hätten. Fritz Morgenthaler, der im Oktober 1984 gestorben ist, hätte nicht abgestritten, daß er die Bücher mitverfaßt hat, und gesagt: »Aber die Prosa geschrieben hast du alleine.« Ganz genau wäre das nicht. Seit 1952 sind alle Manuskripte von Frau Ruth Bitterlin mit der Maschine geschrieben worden. Goldy Parin-Matthey ist am 25. April dieses Jahres gestorben. Sie hätte gesagt: »Natürlich gebührt der Preis dir, es ist alles dein Stil«. Darauf ich: »Hast du denn gar nicht mitgeschrieben?« und sie: »Ja, wenn mir etwas nicht gefallen hat, habe ich immer reklamiert und du hast es geändert.«
Damit wäre mein Dank abgestattet. Das ist aber zu kurz. Ich will hinzufügen, wie meine Texte entstanden sind. Es geht mir um die Frage, ob jeweils ein Autor allein die wissenschaftliche Prosa geschrieben hat; bei mir, so gestehe ich, haben immer andere mitgewirkt.
Ich bin, wie ich Ihrer Publikation entnehme, der erste Psychoanalytiker, den Sie auszeichnen, und ich behaupte, daß ich nichts ohne Hilfe verfaßt habe. An Sigmund Freuds »gelehrter Prosa« ist kein Zweifel möglich und scheinbar auch daran nicht, daß der Begründer der Psychoanalyse seine Werke ganz ohne Hilfe schreiben mußte. Und doch hat Freud, wenn ich nicht irre im Jahr 1910, in einem Brief geschrieben »Die Psychoanalyse kann nicht in der Einsamkeit geübt werden«. Hat er gemeint, daß er die Erfahrungen, die er nur allein hinter der Couch machen konnte, in seiner Mittwoch-Runde diskutiert hat, oder meinte er die Zwiesprache mit seinen Hörern, wie in den »Vorlesungen«(2) oder mit einem Gesprächspartner wie im Essay »Die Frage der Laienanalyse«.(3)
Daß der Inhalt wissenschaftlicher Publikationen nie die einmalige Leistung eines Autors sein kann, ist bekannt. Bereits im 16. Jahrhundert hatte Michel de Montaigne geschrieben, »... daß die Wissenschaften und Künste [...] nach und nach formiert und gebildet werden, wenn man öfter Hand dran legt gleichwie die Bären ihren Jungen durch öfteres Lecken die Gestalt geben«.(4)
Nicht nur der Inhalt, auch die Form, die wissenschaftliche Prosa ist nicht immer die Leistung eines einzigen Autors, der dafür gelobt oder gar ausgezeichnet wird. An einigen Beispielen möchte ich zeigen, daß ich den Stil meiner Publikationen einer Zusammenarbeit verdanke.
Der Bericht über die Agni(5) ist so entstanden, daß wir drei Autoren unsere Falldarstellungen verfaßt, mit den beiden anderen diskutiert und eventuell umgeschrieben haben. Das Kapitel »Metapsychologie« habe ich nach meinen Notizen niedergeschrieben, nachdem wir unsere Gesprächsprotokolle zehn Tage lang diskutiert hatten. Das letzte Kapitel, das mehr Fragen als Schlußfolgerungen enthält, habe ich fünfmal neu geschrieben, bis es uns dreien entsprochen hat. In diesem Prozeß ist der Stil knapper und weniger affirmativ geworden.
Da wir der ethnopsychoanalytischen Methode als erste konsequent gefolgt sind, aber die etablierte Praxis und Theorie der Psychoanalyse so weit wie möglich beibehalten wollten, haben wir jede Publikation mit Kollegen/innen in Seminarien und workshops ausführlich diskutiert, bevor die endgültige Fassung da war. Unsere Darstellung vereinfachte sich; manche Hinweise und Erklärungen hatten sich erübrigt.
Goldy Parin-Matthèy und ich haben versucht, typische Unterschiede von Schweizern und Süddeutschen im Umgang mit der Sprache ethnopsychoanalytisch zu deuten.(6) Unseren Text haben wir in Zürich und in Tübingen zur Diskussion gestellt. Die Kollegen fanden da und dort, daß die konflikthafte Lösung im jeweils anderen Land bei weitem vorzuziehen sei. Dadurch konnten wir die Endfassung prägnanter formulieren.
Als wir daran gingen, die einst von Freud begründete psychoanalytische Kritik der Zivilisation(7) wieder aufzugreifen und weiterzuführen, hatte sich in der klinischen Praxis und sogar in den theoretischen Grundlagen ein Tabu etabliert. Die Psychoanalyse hatte gleichsam vergessen, daß der Mensch ein soziales Wesen ist und daß gesellschaftliche Verhältnisse in das Seelenleben erwachsener Individuen eingreifen. Wir waren nicht nur auf Kritik, sondern auch auf emotionsgetragene Ablehnung gefaßt. Der Aufsatz »Gesellschaftskritik im Deutungsprozeß«(8) stellte die tägliche Arbeit der Psychoanalytiker/innen am radikalsten in Frage. Darum haben wir zuerst diesen Aufsatz in Fachgremien in der Schweiz, den Niederlanden, in Deutschland, Italien, Österreich und den Vereinigten Staaten vorgetragen; auch Morgenthaler hat mitgemacht. Ähnlich, wenn auch in abnehmender Frequenz, haben wir weitere Anwendungen unserer Kritik an der mainstream-Psychoanalyse diskutiert und dann erst niedergeschrieben.(9)
Die in diesen Diskussionen vorgebrachte Kritik hat uns oft geholfen, unsere Texte zu verbessern. Es ist leicht einzusehen, daß sich auch der Stil wesentlich verändert hat, nachdem die Affekte – der Kritiker und unsere eigenen –, die mitunter zu erbitterten Polemiken geführt hatten, abgelaufen waren.
Einen direkten Eingriff in meine Prosa verdanke ich Goldy. Seit meiner Dissertation(10) habe ich jede Publikation nach dem gleichen Schema aufgebaut: Notizen über die beobachteten Phänomene, Diskussion der Literatur, Schlußfolgerungen. Seit einem stilistisch besonders mißglückten Aufsatz(11) hat Goldy immer wieder den schwerfälligen, überladenen Text kritisiert. Sie pflegte zu sagen: »Du weißt zuviel.«
Endlich war ich so weit. Seitdem habe ich anders geschrieben: den Aufsatz von A bis Z zu Papier gebracht, dann erst in meinen Notizen nachgesehen, ob ich etwas ausgelassen oder falsch erinnert hätte und zum Schluß die Literaturzitate bereinigt. Dabei bin ich geblieben. Die späteren Texte(12) sind im Vergleich zu den früheren viel besser lesbar.
Seit unserem ersten Buch »Die Weißen denken zu viel«(13) hatten wir den Wunsch, allgemeinverständlich zu schreiben. Wo es gelungen ist, ist es vor allem der Arbeit des Lektors Karl Markus Michel zu verdanken, der glücklicherweise zwanzig Jahre lang beinahe alle unsere Publikationen lektoriert hat.
Es mag scheinen, daß ich der Mode folgend einer Teamarbeit das Wort rede. Doch unterscheidet sich unsere nach vielen Seiten offene Arbeitsweise grundsätzlich von der in einem Team, das von einer Institution eingesetzt und kontrolliert wird.
Wir waren von keiner Universität abhängig, weil es unser Fach damals noch nicht gegeben hat. Die psychoanalytischen Institutionen(14) hatten unsere Arbeiten manchmal begeistert begrüßt, dann wieder mit Mißtrauen und Ablehnung bedacht. Da sie keine Forschungsaufträge zu vergeben haben, wurden wir von ihnen in keiner Weise eingeschränkt. Vom Schweizerischen Nationalfonds haben wir zu zwei Afrikareisen lediglich symbolische Beiträge erhalten und konnten auch nicht mehr erwarten. So waren wir von keiner Stiftung abhängig.
Die oft so störende Abhängigkeit von einem Verlag ist uns erspart geblieben. Die Zeitschrift PSYCHE, von Alexander Mitscherlich begründet, stand uns offen und andere Zeitschriften und Jahrbücher in Deutschland, Italien und den U.S.A. Suhrkamp wurde vom Autorenverlag Syndikat abgelöst, dieser von der Europäischen Verlagsanstalt, Hamburg.
Wir waren gezwungen, die Afrikaexpeditionen, auf die wir nicht verzichten wollten, aus dem Ertrag unserer Praxis und mit geliehenem Geld zu finanzieren. Weil unsere Mittel und damit die Zeit, die wir aufwenden konnten, beschränkt waren, mußten wir zwei Untersuchungen früher abbrechen, als es zweckmäßig gewesen wäre. Das war ein Nachteil. Dafür konnten wir immerhin sechs Reisen im Zeitraum von achtzehn Jahren ganz unabhängig planen und durchführen. (Die übrigen Arbeiten haben keine Kosten verursacht: die therapeutische Praxis ist bekanntlich gleichzeitig ein Forschungsinstrument der Psychoanalyse.)
Ich bin überzeugt, daß völlige Freiheit und Unabhängigkeit gerade für Autoren nötig sind, die ihre Texte nicht allein, sondern im Diskurs, bald in enger Zusammenarbeit, dann wieder mit einer Vielzahl von Interessierten und für eine weite Leserschaft entwickeln.
Ich respektiere die Tradition, einen einzelnen Autor oder eine Autorin auszuzeichnen, und freue mich, daß es diesmal mich getroffen hat. Doch brauche ich meine Erfahrung nicht zu verleugnen, daß nicht nur die Rezeption, sondern auch die Produktion »gelehrter Prosa« ein gesellschaftlicher Vorgang ist. Das Werk von Sigmund Freud verdankt sich nicht allein seinem Talent. Die jahrzehntelang fortgesetzten Diskussionen mit seinen Mitarbeitern und Nachfolgern, die ungezählten Briefe im Austausch mit den verschiedenartigsten Partnern und Partnerinnen sind nicht nur Zeugnis für seine Offenheit – sie haben Teil an seinem Werk und haben seinen einmaligen Stil geprägt.