Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Kurt Flasch

Philosopher
Born 12/3/1930
Member since 1995

... dessen Sprache nicht nur klar und knapp, sondern von solchem Witz und solcher Luzidität ist, daß sie das Schönste, wozu Historie und Philosophie instandsetzen können, vermittelt: die Heiterkeit des Erkennens.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Peter Hamm, Ilma Rakusa, Klaus Reichert, Beisitzer Harald Hartung, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Lea Ritter-Santini

Laudatory Address by Michael Stolleis
Jurist and Legal historian, born 1941

Helligkeit, Klarheit, Knappheit und Frische

Kurt Flasch erhält den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Geehrt wird damit der wichtigste deutsche Philosophiehistoriker des Mittelalters – im Namen des Begründers der Psychoanalyse. Und ein Rechtshistoriker, weder Philosoph noch Mediävist, soll dazu etwas sagen. Das scheint, jedenfalls was den Laudator angeht, ganz und gar nicht zusammenzupassen.
Es geht aber um die gemeinsame Sprache der Wissenschaft. Sie teilt sich bekanntlich in Sondersprachen. In vielen Sektoren ist sie eine hochaggregierte Symbolwelt mit Ketten verabredeter Zeichen. Daneben zeigen sich sozialwissenschaftliche Kunstsprachen, auf welche die Adepten schwören und die zugleich eine gewisse respekteinflößende Abwehrwirkung haben sollen. Das ist nicht nur zu beklagen; denn rasche und präzise Verständigung gehört zu jeder Spezialisierung und allemal zu den Funktionsbedingungen moderner Technik- und Naturwissenschaften. Ihre Protagonisten müssen freilich auch eine zweite Sprache sprechen, um sich mit der nichtfachlichen Gesellschaft zu verständigen und um andere Spezialisten zu erreichen. Diese Sprache ist keine andere als diejenige, aus der alle anderen hervorgegangen sind, die Sprache des Staunens über die Phänomene, die Sprache der Philosophie.
Auch das philosophische sprachgebundene Denken ist freilich geschichtlich. »Geschichte der Philosophie treiben heißt: sich in einer assoziationsreichen, halbpoetischen Sprache bewegen.«(1) Diese Sprache verhandelt alte Probleme, genauer: Die Probleme materialisieren sich in jenen alten Texten, die sich Flasch vornimmt. »Zuletzt haben wir doch nichts als Texte«, heißt es in seinem Cusanus-Buch.(2) Es sind die Weltdeutungen individueller Autoren, und diese Autoren sprechen ihre eigene Sprache, zugleich aber diejenige ihrer Zeit. Zu erspüren sind, so Flasch, »die individuellen und geschichtlichen Sinnuancen«, zu verstehen sind die »Vielfalt und Pracht individueller Weltgemälde, welche die alteuropäische Philosophie hervorgebracht hat«.(3) Um dieses Individuelle und Typische von Texten aus dem 6., 11. oder 15. Jahrhundert in das vom vielen Wissen, aber auch vom vielen Vergessen erschöpfte Gehirn unserer Zeit zu heben, bedarf es einer Übersetzungsleistung. Dabei geht es um die »Analyse ihrer Diktion... Darunter verstehe ich«, sagt Flasch, »zunächst einmal die Aufmerksamkeit auf rhetorische Figuren und Stilmittel, auf Metaphern und Zitate, die in den Texten erhebliche Bedeutung haben, sodann und vor allem die Analyse, gerade auch die quantitative Analyse ihrer Terminologie und der daraus erwachsenden Argumentationsverfahren«.(4)
Kurt Flasch ist unser Dolmetsch für jene Welt von Augustinus bis zu Machiavelli, von Anselm von Canterbury, Thomas von Aquino, Meister Eckhart, Wilhelm von Ockham, Nikolaus von Kues, aber auch Petrarca und Boccaccio, bis zu den Gedichten des unglücklichen Häftlings Tommaso Campanella. Gleichviel ob es um Übersetzung im engeren Sinn geht – ich erinnere an die hinreißenden Übertragungen Boccaccios Poesie nach der Pest – oder um die »erklärende Übersetzung« eines philosophischen Gedankens, wir schreiten rückwärts in eine uns immer fremder werdende Welt, brauchen für jenen immer dunkler werdenden Höhlengang ein Licht, und das kann notwendig nur unser Licht sein, so schwach oder stark und so zeitbedingt, wie wir es eben benutzen.
Die langjährigen Leser von Flaschs Aufsätzen und Büchern über die Philosophie des Mittelalters und der Renaissance bis hin zu dem neuesten aufregenden Buch zur Reaktion der deutschen Intellektuellen auf den Ersten Weltkrieg(5) assoziieren mit ihm seine Helligkeit, Klarheit, Knappheit und Frische. Helligkeit kommt herein durch Entfernung von Sichtblenden oder Scheuklappen. Flasch besteht gegen theologische Dogmatiker und ahistorisch verfahrende Philosophen darauf, daß Denken und Schreiben in hohem Maße zeit- und kontextabhängig sind. Machen wir die Fenster auf, sagt Flasch, lesen wir die Texte noch einmal neu und verzichten auf den dogmatischen Überbau der Kirche, auf sonstige ewige Wahrheiten und spätere textfremde Prämissen. Lesen wir die Texte neu, und zwar genau!, lesen wir sie unter möglichster Rekonstruktion dessen, was dem damaligen Autor zur Verfügung stand. Schon dies erzeugt neue Helligkeit.
Unter diesem Licht wird auch alles knapper und klarer. Flasch ist allergisch, wie er selbst sagt, gegen den »Gebrauch der Superlative, die Häufung der Adjektive und die Redundanz der Verben«. Was ihm vorschwebt, ist der, wie Lichtenberg sagt, »fast Lessingische Ausdruck, der dem Gedanken sitzt wie angegossen«.(7) Es ist diese Knappheit, wohlgemerkt nicht jene, die schon wieder zur Dunkelheit tendiert und zum Geraune wird, auch nicht die pompös und autoritär im Befehlston auftretende, sondern eben die für wissenschaftliche Texte einzig angemessene Knappheit, die Raum läßt für Kontrolle und Gegenrede. Dazu gehört bei Flasch auch die Kennzeichnung der eigenen Meinung durch freie Verwendung des eher verpönten Wörtchens »ich«. Das ist nicht Eitelkeit, sondern Präzision.
Zum Beseitigen von Scheuklappen gehört eine gewisse Respektlosigkeit, und zwar keine patzige, sondern eine (im unverbrauchten Sinn) kritisch-aufklärende. Flasch schreibt etwa über den »Lavastrom philosophischer Brocken« bei Scheler(8), oder er erklärt kurzerhand, bevor er es sorgfältig begründet, an einer Konstruktion sei »mit Verlaub, alles falsch«(9) oder es handle sich bei einer Schrift aus der Zeit des Ersten Weltkriegs um »religiöse Mobilmachung mit historistischem Dekor«.(10) Die Respektlosigkeit ist manchmal auch mit einem Gran voltairischer Bosheit versetzt. Flasch kann seinen satirischen Stachel benutzen, wenn ihm weihevolles Gerede, parfümierter Qualm, modisch aufgeputzte Paradigmenwechsel oder auch schiere Unkenntnis der Quellen begegnen. Und umgekehrt ärgern sich die Verwalter ewiger Wahrheiten, die von ihm so genannten »Zionswächter«, wenn Flasch das Denken in seiner Zeit, in seiner Hinfälligkeit, Irrtumsanfälligkeit, aber eben auch Aufgeblasenheit und Dünkelhaftigkeit vorführt.
Flasch ist ein Mann von fast einschüchternder alteuropäischer Erudition. Seine menschliche Wärme, sein Skeptizismus und seine demokritische Heiterkeit erscheinen auf der düsteren Folie unseres 20. Jahrhunderts. Was ihn bedrängt, sind weniger die törichten Abderiten, die Demokrit so sehr zusetzten, sondern eher die Lemuren der Vergangenheit, des ersten und des zweiten Krieges vor allem. Hierüber spricht er nicht viel, aber in dem Buch Die geistige Mobilmachung, in dem er seine Person nicht verbirgt, ist einiges davon zutage getreten. Wie Demokrit seinen Abstand zu Abdera hält, so auch Flasch, den man weder im Jet-Set noch in Talkshows erblickt. »Nicht ungesellig, aber durch Gesellschaft nicht lenkbar«, so kennzeichnet Flasch den springlebendigen Philosophen Guido Cavalcanti im Decameron (VI, 9).
Der springt mit einer kecken Flanke über einen Sarkophag (!) und verblüfft seine Gegner. Das ist ein schönes Bild auch für Sie, sehr verehrter lieber Herr Flasch.
Indem die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung Kurt Flasch für seine wissenschaftliche Prosa auszeichnet, ehrt sie auch sich selbst, denn es sind nicht viele, die an deutschen Universitäten ihre Sprache beherrschen wie er, die erzählen, verdichten, Pfade durch das Gestrüpp schlagen, uns auf Lichtungen führen, uns die Augen öffnen und ein springlebendiges großes Mittelalter zeigen, die uns auch helfen, die bösen Geister zu beschwören, welche bekanntlich nichts mehr fürchten als die Lächerlichkeit. Wer Kurt Flasch ehrt, wie es die Akademie heute tut, ist wahrlich nicht von allen guten Geistern verlassen!

(1) Kurt Flasch: »Wie schreibt man Geschichte der mittelalterlichen Philosophie? Zur Debatte zwischen Claude Panaccio und Alain de Libera über den philosophischen Wert der philosophiehistorischen Forschung«. In: Medioevo XX (1994) 1-29 (23).
(2) Kurt Flasch: Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Frankfurt a. M. 1998, S. 198.
(3) A.a.O., S. 24, 28.
(4) Flasch, Mobilmachung, S. 67.
(5) Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000. (6) Flasch, Mobilmachung, S. 78, vgl. dort auch S. 85.
(7) Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, F 204.
(8) Flasch, Mobilmachung, S. 129.
(9) Flasch. Mobilmachung, S. 112 gegen Kuhn.
(10) Flasch, Mobilmachung, S. 53.